Stähelin, Ernst - Die Geschwister in Bethanien
Ev. Joh. 11,1-45
Es lag aber Einer krank, mit Namen Lazarus, von Bethania, in dem Flecken der Maria und ihrer Schwester Martha (Maria aber war, die den HErrn gesalbt hatte mit Salben, und seine Füße getrocknet mit ihrem Haar, derselben Bruder Lazarus lag krank.) Da sandten seine Schwestern zu Ihm und ließen Ihm sagen: HErr, siehe, den Du lieb hast, der liegt krank. Da Jesus das hörte, sprach Er: Die Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch geehrt werde. Jesus aber hatte Martham lieb, und ihre Schwester, und Lazarum. Als Er nun hörte, dass er krank war, blieb Er zwei Tage an dem Ort, da Er war. Danach spricht Er zu seinen Jüngern: Lasst uns wieder in Judäa ziehen. Seine Jünger sprachen zu Ihm: Meister, jenesmal wollten die Juden dich steinigen, und du willst wieder dahin ziehen? Jesus antwortete: Sind nicht des Tages zwölf Stunden? Wer des Tages wandelt, der stößt sich nicht, denn er sieht das Licht dieser Welt. Wer aber des Nachts wandelt, der stößt sich, denn es ist kein Licht in ihm. Solches sagte Er, und danach spricht Er zu ihnen: Lazarus, unser Freund, schläft; aber ich gehe hin, dass ich ihn aufwecke. Da sprachen seine Jünger: HErr, schläft er, so wird es besser mit ihm. Jesus aber sagte von seinem Tode; sie meinten aber, Er redete vom leiblichen Schlaf. Da sagte es ihnen Jesus frei heraus: Lazarus ist gestorben; und ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht dagewesen bin, auf dass ihr glaubt; aber lasst uns zu ihm ziehen. Da sprach Thomas, der da genannt ist Zwilling, zu den Jüngern: Lasst uns mit ziehen, dass wir mit ihm sterben. Da kam Jesus, und fand ihn, dass er schon vier Tage im Grabe gelegen war. (Bethania aber war nahe bei Jerusalem, bei fünfzehn Feldweges) Und viele Juden waren zu Martha und Maria gekommen, sie zu trösten über ihren Bruder. Als Martha nun hörte, dass Jesus kommt, geht sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen. Da sprach Martha zu Jesu: HErr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben; Aber ich weiß auch noch, dass, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben. Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder soll auferstehen. Martha spricht zu ihm: Ich weiß wohl, dass er auferstehen wird in der Auferstehung am jüngsten Tage. Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebt, und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? Sie spricht zu Ihm: HErr, ja, ich glaube, dass Du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist. Und da sie das gesagt hatte, ging sie hin, und rief ihre Schwester Maria heimlich, und sprach: Der Meister ist da und ruft dich. Dieselbe, als sie das hörte, stand sie eilend auf und kam zu Ihm. Denn Jesus war noch nicht in den Flecken gekommen, sondern war noch an dem Ort, da ihm Martha war entgegen gekommen. Die Juden, die bei ihr im Haus waren, und trösteten sie, da sie sahen Maria, dass sie eilend aufstand und hinaus ging, folgten ihr nach, und sprachen: Sie geht hin zum Grab, dass sie daselbst weine. Als nun Maria kam, da Jesus war, und sahe Ihn, fiel sie zu seinen Füßen, und sprach zu Ihm: HErr, wärst Du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Als Jesus sie sah weinen, und die Juden auch weinen, die mit ihr kamen, ergrimmte Er im Geist, und betrübte sich selbst und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sprachen zu Ihm: HErr, komm und siehe es. Und Jesu gingen die Augen über. Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat Er ihn so lieb gehabt! Etliche aber unter ihnen sprachen: Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat, nicht verschaffen, dass auch dieser nicht stürbe? Jesus aber ergrimmte abermal in Ihm selbst, und kam zum Grabe. Es war aber eine Kluft, und ein Stein darauf gelegt. Jesus sprach: Hebt den Stein ab. Spricht zu Ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: HErr, er stinkt schon, denn er ist vier Tage gelegen. Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen? Da hoben sie den Stein ab, da der Verstorbene lag. Jesus aber hob seine Augen empor und sprach: Vater, ich danke Dir, dass Du mich erhört hast; doch ich weiß, dass Du mich allezeit hörst; sondern um des Volks willen, das umher steht, sage ich es, dass sie glauben, Du habest mich gesandt. Da Er das gesagt hatte, rief Er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus. Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern, an Füßen und Händen, und sein Angesicht verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst ihn auf, und lasst ihn gehen. Viele nun der Juden, die zu Maria gekommen waren, und sahen, was Jesus tat, glaubten an Ihn.
I.
Es lag aber einer krank, beginnt, wie wir hörten, die eben verlesene Erzählung des Evangeliums, und führt uns damit recht hinein in die Mühe und Not und Angst, die als der Sünden Folge und Frucht jetzt auf uns Menschen liegt. Es lag einer krank. Was ist so schmerzlich und niederdrückend als das Kranksein für die Erkrankten selber und für ihre Angehörigen? Was gibt es uns so tief zu spüren, dass es nicht bei uns ist wie es sein sollte, dass wir schwache, zerrüttete Menschen sind, und einen Keim der Zerstörung in uns tragen, dem wir ohnmächtig gegenüberstehen? Und auf das Kranksein folgt das Sterben mit seinem Weh und Jammer, und seinem Zerreißen der liebsten und engsten Bande, und folgt das Versenken in das finstere Grab, und folgt das Grauen der Verwesung, da der Leib, der voll Kraft und Leben war, kläglich zerfällt und zur Speise der Würmer wird. So geschieht es bei allen Menschen, bei uns allen ohne Ausnahme. So zeigt es uns unsere Erzählung von dem ersten leisen Erkranken an bis zur Gruft und dem Beginn des Verwesens, und stellt uns damit mitten in das tiefste Dunkel und die bitterste Traurigkeit unseres Menschengeschicks, vor der unsere Herzen bangen und zagen, und gegen die doch keiner einen Rat und eine Hilfe weiß.
Und doch, ihr werdet selber sagen müssen: das Bild, das unsere Erzählung uns vorhält, ist kein peinliches und schreckhaftes, sondern vielmehr ein liebliches und wohltuendes Bild. Denn es zeigt uns eben nicht nur die Krankheit und das Leiden, sondern auch den, der da hilft und heilt, nicht nur das Traurigsein und Weinen, sondern auch den Tröster, der die Traurigkeit in Freude verwandelt, nicht nur den Tod und das Grab, sondern auch den Überwinder des Todes und die Auferstehung aus dem Grabe. Es zeigt uns mit einem Wort Jesum, Jesum, den Sohn des lebendigen Gottes, gekommen in unsere arme, dem Tode verfallene Welt; so dass es jetzt von ihr gilt: ihr ist Heil widerfahren; die im Finstern und Todesschatten sitzen, sehen ein großes Licht, vor dem der Schatten fliehen muss; auf die bange Frage, die aus so manchem blutenden Herzen zu Gott aufsteigt: Warum lässt du uns so sterben und dahinfahren? gibt es jetzt eine Antwort, die frohe, gnadenvolle Antwort aus Gottes Mund: So wahr ich lebe, ich will nicht, dass ihr sterbt, sondern dass ihr lebt; der Tod ist eurer Sünde Sold, aber mein Wille mit euch und meine Gabe an euch ist das ewige Leben in Christo Jesu, eurem HErrn.
Das stellt diese Geschichte uns vor Augen in wunderbar ergreifenden und herzbeweglichen Zügen: des Menschen Elend und Not und Nacht, und das Aufgehen der hellen Sonne von Gott über dieser Nacht, durch die Licht und Leben kommt. Es ist eine Geschichte, die sich nicht nur damals in Judäa zugetragen hat, sondern es ist eine Offenbarung der heilsamen, errettenden Herrlichkeit Gottes in Christo, die fortgilt und fortgeht durch alle Zeiten hindurch, die auch für uns alle gilt und uns allen zugehört. In diesem Sinne wollen wir sie jetzt im Nähern mit einander betrachten, und etwas ins Herz zu fassen suchen aus ihrem reichen Schatze. Wir beschränken uns dabei für diesmal (in unserer heutigen Zusammenkunft) auf den ersten Teil der Geschichte; und richten da unsern Blick zuerst auf das Haus, das sie uns vorführt, dann auf das Leid, das über dies Haus kommt, und endlich auf den HErrn, wie Er dies Leid ansieht, sich ihm gegenüber benimmt und handelt.
Und Du, HErr, unser Helfer und Hirte, leite auch jetzt unsere Seele auf die grünen Auen, und tränke sie mit deinem frischen Wasser. Lass es uns spüren, wie Du allezeit bei uns bist auch in den dunklen Tälern, und uns die rechte Straße führst, und alles darauf hinzielt, dass wir dereinst bei Dir sein und mit Dir leben dürfen und Dein heißen immerdar.
Das Haus, in dem unsere Geschichte sich zugetragen hat, wird in der evangelischen Erzählung dreimal erwähnt, einmal im Evangelium des Lukas, zweimal im Evangelium des Johannes, und jedesmal so, dass man sieht: die Evangelisten setzen voraus, es sei ein in der ersten Christengemeinde wohl bekanntes Haus, über das sie nicht erst Näheres zu sagen brauchen. Wir erfahren aus dem, was sie mitteilen, dass in dem Flecken Bethanien am Ölberg, eine kleine Stunde von Jerusalem entfernt, drei Geschwister bei einander wohnten, Martha und Maria und Lazarus, zu denen der HErr in besonders naher Freundschaftsbeziehung stand, so dass Er gleichsam heimisch bei ihnen war, bei ihnen einkehrte und herbergte, wenn Er in Judäa sich aufhielt, wie in Galiläa in dem Haufe des Simon Petrus. Über die früheren Erlebnisse und Verhältnisse dieser Geschwister, wie es kam, dass sie so beisammen lebten und Haus hielten, wird uns, wie gesagt, nichts berichtet. Man redet oft von ihnen als von der Familie in Bethanien, aber in Wahrheit waren sie nur noch die Trümmer einer Familie; denn zu einer Familie gehören Mann und Frau und Eltern und Kinder und Brüder und Schwestern; sie aber hatten ihre Eltern nicht mehr, und wohl auch von ihren Geschwistern das eine und andere verloren, wie der große Altersunterschied, der offenbar zwischen ihnen bestand, darauf hindeutet. Ja, es ist nicht unwahrscheinlich, dass Martha verheiratet gewesen, aber Witwe geworden war, und nun die jüngeren Geschwister zu sich genommen hatte, da sie gemeiniglich zuerst genannt wird, und als die Hausbesitzerin und eigentliche Hausmutter erscheint. Auch darüber erfahren wir nichts, wann und wie die Geschwister mit dem Herrn Jesu bekannt geworden und zum Glauben an Ihn und der Verbindung mit Ihm gekommen sind. Wir werden annehmen dürfen, dass sie, wie so viele bis auf diesen Tag, zunächst zu Ihm gezogen wurden durch das Schwere, das auf ihnen lag, durch das Gefühl ihrer Verwaisung und Vereinsamung. Als sie im Tempel zu Jerusalem Ihn sahen und reden hörten, da taten ihre durch die Trübsal und das Wort Gottes, an das sie schon bisher sich gehalten, zubereiteten Herzen sich weit gegen Ihn auf, und sie spürten im Innersten: der ist es, den wir bedürfen; der ist gewiss der verheißene Heiland, von Gott gesalbt und gesandt, den Armen gute Botschaft zu bringen, und zu heilen die zerstoßenen Herzen, und zu predigen die Gnadenzeit vom HErrn. Und als sie es nun wagten, Ihn aufzusuchen und zu sich einzuladen, und Er sie annahm in seiner heiligen Freundlichkeit und zu ihnen einging, da erkannten sie, wie Johannes sagt, seine Herrlichkeit als eine Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit; und erfuhren es, wie Er denen, die Ihn aufnahmen, Macht gab, Gottes Kinder zu werden, die an seinen Namen glauben; und achteten nicht auf den Widerspruch und die Feindschaft, die sich alsobald wider Ihn erhoben, sondern wussten und bekannten es unter den allerersten: dieser ist der Christus von Gott, der Helfer und Seligmacher. Und so im Glauben an Ihn und der Gemeinschaft mit Ihm blüht nun ihr Leben wieder frisch und fröhlich auf und hatte seinen Grund und sein Ziel, seine Zuflucht und seinen Halt, seinen Frieden und seine Freude gefunden. O meine lieben Brüder und Schwestern, wer unter uns fühlt sich arm und verlassen und unbefriedigt und eines Besseren und Höheren bedürftig? Der tue wie diese Geschwister zu Bethanien, und kehre sich hin zu dem Herrn Jesus, und nehme Ihn auf. Einen anderen Tröster und Helfer gibt es für dich nicht, aber der ist gewisslich für dich da, und kann von Grund aus helfen und heilen.
„Ja kommet her zu mir, ruft Er selber, kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken, ihr sollt bei mir Ruhe finden für eure Seele.“
Und zu der Erquickung und Ruhe, die so Jesus bringt, gehört auch das, dass die Herzen, die Ihn aufnehmen, noch besser lieben lernen, und noch inniger mit einander verbunden werden. Das haben gewisslich auch diese Geschwister in Bethanien erfahren dürfen. Bekanntlich ist es für Geschwister gemeiniglich nicht leicht, recht im Frieden und Eintracht zusammenzuleben, weil eben kein leitendes, bestimmendes Haupt da ist, und darum die Verschiedenheit der Charaktere und Neigungen ungezügelt hervortritt und sich geltend macht. Und auch diese Geschwister in Bethanien waren ja sehr verschieden in ihrem Charakter und Wesen. Martha, die Älteste, hat man wohl einen weiblichen Petrus genannt, geschäftig, energisch, schnell bereit mit dem Wort und der Hand. Wir wissen, wie sie bei jenem Besuche des HErrn in ihrem Hause, den Lukas berichtet, in ihrer freudigen Erregung sofort sich aufmachte, und daran machte, Ihn durch ein reichliches Mahl zu ehren, und als ihre Schwester sie dabei verließ, um wieder bei dem HErrn selber zu sein und seinen Lebensworten zuzuhören, sie dies übel vermerkt, und nicht nur der Maria ihren Unwillen zu spüren gab, sondern in ihrem Eifer auch die Ehrfurcht gegen den HErrn im Augenblick vergaß, und Ihn wie anfuhr: „HErr, fragst du nichts danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie es auch angreife.“ Worauf der HErr ohne alle Empfindlichkeit mit seinem freundlichen Ernste ihr antwortete: „Martha, du hast viele Sorgen und Mühe; aber Eins ist Not. Maria hat das gute Teil erwählt, das soll nicht von ihr genommen werden.“ Diese Maria, die jüngere Schwester, war von fast entgegengesetzter Gemütsart, gleichsam ein weiblicher Johannes, nach innen gekehrt, auf das Geistes- und Herzensleben gerichtet, mit einem tiefen, lautern Liebessinn und Liebesbedürfnis, das in der Welt und auch bei den Menschen um sie her nicht fand was es suchte, und sich deshalb gerne zurückzog, und in sich selber verschloss. - Und endlich von Lazarus, dem Bruder, sagt uns die evangelische Geschichte nur sehr wenig, eigentlich nichts, das auf seinen Sinn und Charakter schließen lässt. Es ist merkwürdig, dass sie von diesem Jüngling, der durch sein Sterben und Auferstehen so tief hineingegriffen hat in die Entwicklung des Reiches Gottes und ein so mächtiger Zeuge von dem Herrn Jesu geworden ist, dass sie von ihm nicht ein einziges Wort berichtet, das er selber sprach. Er steht da in der evangelischen Geschichte als ein völlig stiller, lautloser und auch tatenloser Jünger, der nun eben an sich tun und wirken lässt, an dem nun eben des HErrn Kraft und Leben offenbar wird. Das weist wohl darauf hin, dass der Grundzug seines Wesens tiefinnere, anspruchslose Demut und Hingebung war. Er war vielleicht wenig begabt und eine geringe Kraft; aber er war es auch zufrieden, gering zu sein und im Hintergrund zu stehen, und schämte sich nicht, sich von andern weisen und helfen zu lassen, wie er es bedurfte.
So ungefähr haben wir uns die Geschwister in Bethanien zu denken nach ihrer natürlichen Art. Sie mögen da allerlei an einander zu tragen gehabt und etwa auch einmal über einander geseufzt und geklagt haben; aber wie wurde diese natürliche Art nun gereinigt und geheiligt durch die Jüngerschaft des Herrn Jesu; und welch' ein neues Liebesband schlang sich um sie, seit sie nun mit einander Jesum liebten und von Ihm geliebt wurden. Denn das verbindet die Herzen wie nichts anders im innersten Grunde, dass nichts Trennendes zwischen ihnen bleiben kann. Und in dieser Liebe des Herrn Jesu waren sie eins die Geschwister, durch alle ihre Verschiedenheiten hindurch, wie unser Text uns deutlich darauf hinweist, da er sagt: Und Jesus hatte Martha lieb und ihre Schwester und Lazarus. Und meint damit nicht die allgemeine Liebe, mit der der HErr die ganze Welt umfasst und ihr Versöhner geworden ist, sondern mit der Liebe, von der Er zu seinen Jüngern sagte: Ihr seid meine Freunde, die ihr an mich glaubt und mir nachfolgt; gleichwie mich mein Vater liebt, also liebe ich euch. Und setzt das noch Größere hinzu: Ja, auch Er, der Vater, selber hat euch lieb wie mich, mit derselben Vaterliebe, mit der Er mich, seinen eingeborenen, heiligen Sohn liebt. O was ist das für ein Wort und Zeugnis über arme, sündige Menschen! Gilt es auch von uns dies Wort, meine lieben Leser? Wenn ein Mann im heiligen Geiste jetzt von uns schriebe und unsern Zustand schilderte, könnte er von dir und von mir auch so schreiben: Jesus hat ihn lieb? Er könnte vielleicht von dir schreiben: Er ist ein tätiger, gescheiter, nützlicher Mann, sie ist eine sorgsame, tüchtige, liebenswürdige Frau; aber könnte er auch von dir schreiben: Jesus hat ihn lieb, Jesus hat sie lieb? O wie weit geht das doch über alles andere, und wir kommen zu seinem wahrhaften Genüge- und Freudehaben, bis das so bei uns wird. Dieses Haus in Bethanien, vielleicht ein armes, geringes Haus, von dessen sämtlichen Bewohnern es so hieß: Jesus hat sie lieb, das leuchtet vor den Augen der himmlischen Welt in einem Glanze wie kein Königshaus und kein Kaiserpalast, und keine Wohnung von Dichtern oder Künstlern oder Helden. O lasst es doch unser eines inniges Anliegen sein, dass solcher Glanz auch über unser Haus komme, nicht Glanz der Erde, nicht Glanz nach dem Sinn und aus dem Wesen dieser Welt, sondern der Glanz, dass es von uns und unserm ganzen Hause gilt: Jesus hat sie lieb, Jesus und der Vater haben uns lieb! Da werden wir es dann auch erfahren und spüren was das Lied sagt:
Ach mein Herr Jesu, dein Nahesein
Bringt großen Frieden ins Herz hinein,
Und dein Liebesanblick macht uns so selig,
Dass Leib und Seele darüber fröhlich
Und dankbar wird.
Aber doch, mein Bruder, auch in solch ein Haus, das die Liebe des Herrn Jesu und der Friede in Ihm durchleuchtet, tritt nun noch Trübsal ein und Leid und Angst, wie es unsere Geschichte an diesem Hause in Bethanien uns zeigt. Ein Glied aus dem Geschwisterkreise, Lazarus, wurde krank, und zwar, wie aus unserer Erzählung hervorgeht, schwer krank, so dass bald sein Leben in ernstlicher Gefahr schwebte. Und wie trüb und traurig wird es nun doch in dem Hause, in dem solche Krankheit eingekehrt ist. Wie eine dunkle Wolke legte sich da über das ganze Leben; die Herzen sind wie auf die Folter gespannt in beständigem Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung; man bietet auf was man kann, um das bedrohte Leben festzuhalten, und muss doch stündlich erfahren, wie wenig man das vermag, wie hilflos man der Macht des Todes gegenübersteht. Wie werden das die Schwestern des Lazarus empfunden haben in diesen Tagen seines Krankseins und Sterbens! Man weiß, wie ledige oder verwitwete Schwestern an einem jüngeren Bruder zu hangen pflegen, wie das ganze mütterliche Lieben und Sorgen, das im Frauenherzen liegt, sich auf solch einen Bruder richtet und ihn zu seinem Mittelpunkt macht. Und jetzt müssen Martha und Maria ihn sterben sehen, an dem so ihre Seele hing. Wir sehen es aus dem Folgenden, wie ihnen das das Herz zerriss, und ein Weinen und Trauern über sie kam, als könnten sie nicht mehr getröstet werden.
Ja, meine Brüder, auch über die Christen, über die Gläubigen, kann solch ein Weinen und Trauern kommen. Man meint zuweilen und hört sagen: das sollte nicht so sein; der wahrhaft Gläubige, das Kind Gottes, das die Vergebung seiner Sünden habe, sollte gesichert sein, gleichsam erhaben sein über die Übel des Lebens, die aus der Sünde stammen, oder sich doch nicht von ihnen bewegen und niederdrücken lassen. Aber die heilige Schrift redet anders. Sie sagt uns, dass alle auf Erden mitzutragen haben an der allgemeinen Last und Not, wie es im Prediger Salomo heißt: Sie begegnet dem einen wie dem andern, dem Guten und Reinen, wie dem Unreinen und Sünder. Und im Neuen Testament heißt es sogar ausdrücklich: die der HErr lieb hat, die straft und züchtigt Er; Er stäupt ein jegliches Kind, das Er aufnimmt. Und die Erfahrung zeigt, wie wahr dieses Wort ist; wie so oft gerade über die, die sich zu dem Herrn Jesu bekehrt haben, und Ihm wahrhaftig leben möchten, Trübsal und Schmerz hereinbrachen wie ein Strom, als sollten sie dahingerissen werden. Aber sie sollen nicht hingerissen werden zum Verderben, sondern hingerissen werden, dass ich so sage, noch näher zu dem Herrn Jesu hin, noch tiefer hinein in das Ihm Glauben und Trauen und sich Ihm übergeben. Seht hier ist der Unterschied, der himmelweite Unterschied zwischen dem Leiden des Weltmenschen und dem Leiden des Menschen Gottes. Für beide ist die Trübsal, wenn sie da ist, Traurigkeit, und wird als solche empfunden, wie es die Schrift ausdrücklich bezeugt; aber bei dem einen ist sie eine Traurigkeit ohne Trost und Heil, die nur verbittert und verdüstert, und zuletzt den Tod wirkt, wenn er bleibt wie er ist; bei dem andern eine Traurigkeit, da in den dunklen Wolken helles Licht sich verbirgt, und von Zeit zu Zeit daraus herausleuchtet, das helle Licht der ziehenden, zubereitenden Liebe Gottes, die den Geliebten ganz haben möchte, und ihn ganz in sich gründen. Ja, fasst es wieder in die Seele aus dieser Geschichte, ihr lieben Mitchristen, die ihr so in Trübsalstiefen steht: Es ist da nichts mehr von Gericht, es sind da nur Liebes- und Gnaden-Absichten. Weil der Herr Jesus euch lieb hat, so lieb wie wir vorhin davon redeten, darum tut Er auch das an euch, und wendet jegliches Mittel bei euch an. Fürchte dich dann nicht, glaube nur! Dein HErr und Freund hat große, herrliche Gedanken mit dir, die setzt Er ins Werk, und will sie hinausführen.
So war es bei jenen Geschwistern in Bethanien. Sie kannten das herrliche Ziel nicht, auf das es zuging, aber sie hielten es fest, dass der Herr Jesus sie lieb habe, und hatten daran einen Trost in ihrer Traurigkeit. Wäre der HErr in der Nähe gewesen, sie hätten sich ohne Zweifel sofort an Ihn gewendet; aber um der Nachstellung seiner Feinde willen hatte Er Judäa verlassen, und war jetzt ferne - jenseits des Jordan, wie es denn manchmal geschieht, dass der HErr so scheinbar ferne ist, gerade wenn wir meinen, jetzt sollte Er uns besonders nahe sein und sich besonders uns zu spüren geben. Und so pflegen denn die Schwestern einstweilen ihren Kranken, wie sie können, immer mit dem Gedanken: der HErr und seine Hilfe ist noch für uns da, wenn es schlimmer werden sollte. Und als es nun wirklich schlimmer wird, und die Wasser der Angst mit jeder Stunde höher steigen, da strecken sie sich dann aus nach Ihm, der so ihre Hoffnung ist, und schicken zu Ihm und lassen Ihm sagen: HErr, siehe, den Du lieb hast, der liegt krank. Eine Botschaft von ergreifender Schlichtheit und Einfalt, die uns recht einen Blick tun lässt in den Herzenssinn dieser Geschwister. Was sich zuerst darin ausspricht, ist die tiefinnere Demut, die allein auf den HErrn und seine Liebe und Gnade blickt. Sie sagen von Lazarus nicht: Er, der dich lieb hat, liegt krank - obwohl ja Lazarus gewiss den HErrn von Herzen liebte, sondern: er, den du lieb hast; denn sie wissen: nicht an unserm armen, schwachen Lieben liegt es, sondern an seinem reichen barmherzigen Gotteslieben, um seinetwillen liebt Er uns, um seiner Liebe willen dürfen wir uns an Ihn wenden, nicht weil wir es wert wären; und bekennen so schon damals, was nachher der Apostel Johannes schreibt, die große, trostvolle Wahrheit: Darin steht die Liebe, nicht dass wir Ihn geliebt haben, sondern dass Er uns geliebt hat und hat unsere Sünde getragen. Und daraus folgt dann weiter auf der einen Seite kindliches sich Bescheiden und Verzichten auf alles eigene Begehren, sie stellen keine Bitte an den HErrn, sie drängen nicht in Ihn: Komm, uns zu helfen, sondern sie sagen Ihm einfach wie es steht, und überlassen das Weitere seinem Gutbefinden; und auf der andern Seite spricht aus ihrem Wort zugleich der innige, getroste Glaube: Wir brauchen Ihn gar nicht zu bitten, es ist genug, dass Er unsere Not weiß, jetzt wird alles gut und recht werden, wir dürfen uns ganz auf Ihn verlassen.
O selig, die so die Trübsal tragen, und so Glauben halten und sich so an den treuen, heiligen HErrn wenden können, der nahe ist allen, die Ihn anrufen. Selig der Kranke, dessen Angehörige so alsbald an den Herrn Jesum denken, und Ihm Bericht geben von dem Kranksein, und sagen dürfen: Siehe da, den du lieb hast, der liegt krank!
Ach wie viele Krankenbetten gibt es auch in sogenannten christlichen Häusern, da weiß man hievon wenig oder nichts. Da schickt man in fieberhafter Angst zu den Ärzten und versucht es mit allen Heilmitteln und sorgt für jede Pflege, aber an den Herrn Jesum denkt man nicht und sagt Ihm nichts, oder wenn man an Ihn denkt, doch nur nebenbei, so als sei alles andere wichtiger als das; und sein Heilandsname darf erst nicht einmal genannt werden vor dem Kranken, damit er seine Krankheit nicht zu ernst nehme und sich nicht aufrege.
Wohl die meisten von uns, die wir dies lesen, haben auch schon Krankenbetten gehabt in ihren Häusern. Wie war es da bei uns? An wen haben wir uns da gewendet? Was war da im tiefsten Grund unsere Zuflucht und Hoffnung? Und wenn wir selber krank darniederlagen, haben wir es da gewusst und uns dessen getrösten können: Jesus hat mich lieb? Und wenn wir dereinst auf dem letzten Krankenlager liegen werden, und es mit uns zum Sterben geht wie dort mit Lazarus, werden wir da in Jesu Liebe ruhen können, und es gewiss sein durch seinen Geist: es kann uns nichts scheiden, nicht Trübsal noch Angst, nicht Leben noch Tod? - O lasst an dieses Sterben uns denken, das uns vielleicht schon ganz nahe ist, damit wir weise werden und Gottes Gnadengaben ergreifen, so lange es heute heißt. Es ist der größte Jammer, den es gibt, in der Todesnot liegen, und sich sagen müssen: Jesus kennt mich nicht und hat mich nicht lieb, und ich kenne Ihn nicht und habe Ihn nicht geliebt, und fahre so jetzt in die Ewigkeit ohne Erretter, ohne Freund, ohne einen, der sich meiner annimmt und mich aufnimmt. O was ist das für ein anderes Sterben, bei dem es durch alle Himmel schallt: Seht, den der HErr liebt hat, der stirbt jetzt und kommt in die Ewigkeit; und Er, der HErr selber, steht bei ihm in seiner letzten Not, und lässt ihm sein Gnadenangesicht leuchten, und birgt seine scheidende Seele in sich zum Leben mit sich. O meine lieben Brüder und Schwestern, seht, dazu beruft Er uns alle, unser treuer, barmherziger HErr, dazu soll auch die Not und Trübsal dieses Lebens uns dienen und bereiten, und darauf zielt es auch ab, wie der HErr in der Trübsal und Not mit den Seinen umgeht und handelt.
Unsere Geschichte stellt es uns vor Augen, und wir werfen zum Schlusse noch einen Blick darauf, wie der HErr damals mit seinen Geliebten zu Bethanien in ihrer Heimsuchung gehandelt hat, uns allen zum Vorbild und zur Lehre. Es ist ein Handeln ganz anders als wir es erwarten, das es uns recht vorhält was geschrieben steht: Seine Gedanken und Wege sind nicht die unsrigen, sondern gehen himmelhoch über sie.
In einem Lied zum Lobe des HErrn heißt es:
Wie ist Dir das Herz gebrochen,
Wenn Dich Kranke angesprochen,
O wie pflegtest Du zu eilen,
Das Gebet'ne mitzuteilen!
Aber hier in unserer Geschichte tut der HErr nicht so. Hier sehen wir Ihn nicht eilen, als Er angesprochen wird, sondern vielmehr absichtlich verweilen und verziehen. Als die rührende Botschaft an Ihn kommt: „Siehe, den Du lieb hast, der liegt krank,“ da heißt es: Als Jesus das hörte, blieb Er zwei Tage an dem Orte, wo Er war; und der Bescheid, mit dem Er den Boten nach Bethanien zurückschickte, enthielt keine Zusage, nicht wie bei dem Hauptmann zu Kapernaum: „Ich will kommen und ihn gesund machen“, sondern enthielt nur das rätselhafte Wort: Die Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch geehrt werde. Als dieser Bescheid nach Bethanien kam, war Lazarus, wie aus dem Zusammenhänge hervorgeht, bereits seit zwei Tagen gestorben und begraben; und denken wir uns nun hinein in Martha und Maria, welchen Eindruck das auf sie machen musste. Sie hatten den Bruder sterben sehen, ohne dass der HErr kam; jetzt kehrt ihr Bote zurück, und da sie fragen: Wo ist Er, wann kommt Er? muss er ihnen antworten: Er ist nicht mit mir gegangen, sondern ruhig an seinem Aufenthaltsorte geblieben; und als sie weiter fragen: Aber hat Er dir denn nichts für uns gesagt und aufgetragen? da vernehmen sie: Er lässt euch sagen: die Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch geehrt werde, und doch haben sie es vor Augen: die Krankheit war zum Tode, und der, von dem der HErr versicherte, er werde nicht sterben, liegt schon als Leiche in der Erde. Welch ein Sturm von Anfechtung und Zweifel musste da über sie hereinbrechen, und in ihren Herzen die Stimme laut werden: Er hat unsere Hoffnung getäuscht; hat Er uns denn nicht mehr lieb? Und wo bleibt seine Hilfe und Macht, auf die wir trauten? Gegen den Tod scheint sie nichts zu vermögen.
Aus dem tiefsten Weh und Leid scheint auch sie nicht erretten zu können. O wie sind wir so elend und arm, und all unser Halt und Trost zerbricht und zerrinnt uns!
Ja, so, meine Brüder, so sind oft die Wege unseres Gottes und Heilandes, so rätselhaft und scheinbar lieblos und erbarmungslos; so kann es hin und herwogen in den Menschenherzen, den Christenherzen, und es Dunkel und Nacht um sie werden. Aber bei dem HErrn, da ist es Tag und Licht, und sein Herz freut sich der Freude und Herrlichkeit, die in Kürze aus diesem Dunkel hervorbrechen wird. Und einstweilen gibt Er den im Dunkel Sitzenden sein Wort, dass sie daran sich anklammern und halten im Glauben, auch wenn sie nicht sehen und fühlen. - So werden auch die Schwestern in Bethanien sich angeklammert haben an das ihnen gegebene Wort, so unverständlich es ihnen klang, und sich daran immer wieder emporgerungen haben aus der Tiefe, dass sie nicht versanken. Und als dann die wunderbare Erfüllung dieses Wortes kam, über alles Denken und Begreifen, da erkannten und spürten sie, wie ihnen durch dies alles Liebe und Heil widerfahren war, über alles Denken und Begreifen, wie sie dadurch jetzt ganz und für immer in ihren Heiland und den Glauben an Ihn gegründet worden und Ihn jetzt wussten und hatten als den Überwinder und Helfer durch alles hindurch, bis in die tiefste Tiefe hinab und zu der höchsten Höhe hinan!
Wohlan, meine lieben Mitchristen, in welche Tiefe wir geführt werden, und welches Dunkel auf uns liegen mag: auch uns gilt das Wort, und auch wir sollen uns daran anklammern und halten: Es ist das nicht zum Tod und Verderben, sondern zur Ehre Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch geehrt werde. Es geschieht ja allerdings manches, das aussieht, als gereiche es dem HErrn nicht zur Ehre, sondern zur Schmach, an dem die Leute sich stoßen und ärgern, wie sie ja dort auch von Lazarus sagten: konnte Er denn nicht schaffen, dass dieser nicht stürbe? Aber seid getrost, die ihr den HErrn lieb habt; seine Ehre wird keinen Schaden leiden, auch diese scheinbare Schmach wird zuletzt zu seiner Ehre ausschlagen und nur um so mehr seine herrliche Macht und Treue verkünden.
Und an dir, mein Bruder und meine Schwester, der du so in Trübsal bist, wird der Sohn Gottes geehrt dadurch, dass du im tiefsten Grund aufgeweckt wirst, und losgelöst von der Welt und dir selber, dadurch, dass du lernst, immer weniger auf Menschen dich stützen, sondern allein auf Ihn, deinen Gott und Heiland, dadurch, dass du immer tiefere Blicke tust in das Jesusherz und zu dem kommst was der Psalm sagt: Wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Und das Ende und der Ausgang wird sein, wie es der HErr selber ein andermal sagt: dass Er dich zu sich nimmt und du bei Ihm bist, und die Ehre und Klarheit schaust und teilst, die der Vater Ihm gegeben hat, und es in deiner Seele mit tausend Zungen heißt: Ja wahrlich, dieser Zeit Leiden war nicht wert der Herrlichkeit, die jetzt an mir geoffenbart ist.
Darum, wie es auch uns geht und was auch kommt, es bleibt dabei: Wohl denen, denen der HErr ihr Gott ist, wohl den Seelen, die sich der Liebe des Herrn Jesu übergeben haben und in ihr stehen. Diese Liebe des Herrn Jesu und Vaterliebe unseres Gottes ist auf den Tod, den ewig gültigen Tod des Versöhners und Bürgen gegründet, wie ihn hier sein Abendmahl uns wieder bezeugt und versiegelt. Der sich so durch seinen Tod mit uns verbunden hat, der sich hier in seinem Mahle mit uns verbindet, der kann nicht anders, als die Seinigen ewiglich lieben, und durch alles, was Er mit ihnen geschehen lässt, den Rat seiner Liebe hinausführen. Gib mir nur dein Herz, mein Sohn, meine Tochter, und lass meine Wege deinen Augen wohlgefallen. Der Gott aller Gnade, der uns berufen hat zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christo Jesu, derselbige wird euch, die ihr eine kleine Zeit leidet, vollbereiten, stärken, kräftigen, gründen. Demselben sei Ehre und Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit!
II.
Wir treten heute zum zweiten Mal an die eben verlesene Geschichte. In unserer letzten Betrachtung haben wir uns den ersten Teil derselben vorgehalten, haben mit einander hineingeblickt in das Haus zu Bethanien mit seinen Bewohnern, das sie uns zeigt, haben gehört, wie von allen diesen Bewohnern, Martha und Maria und Lazarus, das Wort galt, das größte das man von Menschen sagen kann: Jesus hatte sie lieb, weil sie eben im Glauben Ihn aufgenommen, und sich Ihm übergeben hatten, und wie nun in diesem Glauben und dieser Gemeinschaft mit Jesu den Geschwistern ein neues Leben aufblühte und ein neues Liebesband sich um sie schlang zu tiefinnerem Einswerden und Frieden und Freude haben.
Und doch auch in solch ein Haus, haben wir gesehen, das so die Liebe des Herrn Jesu und sein Friede durchleuchtet, tritt noch Trübsal ein und Leid und Angst. Lazarus, der Bruder, an dem die Schwestern mit ganzer Seele hingen, wird todkrank, während der HErr abwesend ist jenseits des Jordan. Die Schwestern in ihrer steigenden Angst senden zu Ihm als ihrer einen Zuflucht und Hoffnung, und lassen Ihm sagen: „Siehe, den du lieb hast, der liegt krank“, ein Wort ohne Bitte, das doch die rührendste, eindringendste Bitte enthält. Aber der HErr scheint diese Bitte nicht zu verstehen, oder doch nicht darauf zu achten. Als Er das hörte, heißt es, brach Er nicht etwa auf nach Bethanien, sondern blieb vielmehr noch zwei Tage an dem Ort, da Er war, und schickte den Schwestern nur den Bescheid: Die Krankheit ist nicht zum Lode, sondern zur Ehre Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch geehrt werde. Als dieser Bescheid in Bethanien anlangt, da hat aber die Krankheit schon zum Tode geführt, Lazarus ist schon gestorben und begraben; und was sollen Martha und Maria nun denken von diesem rätselhaften Wort und Benehmen dessen, dem sie so völlig vertrauten, den sie so unbedingt für ihren HErrn und Heiland gehalten?
Wir haben sie in unsrer letzten Betrachtung verlassen mitten in dem Sturm der Anfechtung und des Zweifels, der da über sie hereinbrechen musste, wie es ihnen schien, es sei ihnen jetzt all ihr Halt und Trost gebrochen und zerronnen, und wie ihre Seelen sich doch immer wieder hinwandten zu dem HErrn, und anklammerten an das Wort, das Er ihnen gegeben, und sich daran emporzuringen suchten aus der Tiefe, dass sie nicht versanken. Und mahnend und ermunternd haben wir uns dabei zugerufen: Ja, auch wir, was immer geschehe und an uns komme, lasst uns festhalten an dem Wort unsers Gottes und Heilandes, das auch uns gegeben ist, und Ihm rückhaltlos trauen. Es bleibt dabei durch alles hindurch: Wohl denen, denen der HErr ihr Gott ist, wohl den Seelen, die sich der Liebe des Herrn Jesu übergeben haben, und darinnen stehen. Diese Liebe bricht nur um so heller wieder hervor, wenn sie eine Zeit lang verdunkelt erscheint, und richtet ihr Werk gewisslich aus, wenn sie auch eine Weile verzieht. Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen, weit über ihr Fassen und Begreifen. Und wenn seine Wege nicht die unsrigen sind, so sind sie so hoch über ihnen, wie der Himmel über der Erde ist, und führen zu dem Himmel hinan und in den Himmel hinein mit seinem Sieg und Leben.
Das stellt uns nun der zweite Teil unserer Geschichte vor Augen, den wir jetzt wollen zu uns reden lassen. Von den trauernden Menschen in Bethanien in ihrem Dunkel und Zagen richten wir unsern Blick auf den großen, heiligen HErrn mit seiner Heilands-Liebe und Macht, und achten auf sein Verhalten und Tun, und Helfen und Erretten, und ergreifen's und freuen uns von Herzensgrund, dass Er auch unser Heiland ist, derselbe gestern und heute und in Ewigkeit.
Wir werden dem Gang unserer Geschichte am besten folgen können, wenn wir dabei auf die Worte des HErrn merken, auf eins um das andere, die er uns berichtet. Es sind sieben solche hauptsächliche Worte. Zuerst das schon besprochene: Die Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch geehrt werde. Das zweite zu seinen Jüngern: Lasst uns nach Judäa ziehen. Das dritte: Lazarus, unser Freund, schläft, aber ich gehe hin, dass ich ihn auferwecke. Das vierte zu Martha: Dein Bruder soll auferstehen. Das fünfte: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Das sechste: So du glauben würdest, solltest du die Herrlichkeit Gottes sehen. Und endlich das siebente, der Ruf an den Verstorbenen: Lazarus, komm heraus! So stufenweise offenbart sich Jesus den Seinen, so von Schritt zu Schritt, wie sie's bedürfen, bereitet Er ihre Herzen auf das Anschauen seiner Herrlichkeit. Das ist der Zusammenhang, der diese Worte unter sich verbindet.
Wir können in dieser heutigen Stunde noch nicht diesen ganzen Stufengang betrachten, sondern müssen die drei letzten Worte für unsere nächste Zusammenkunft uns behalten. Ohnehin ist ja jedes einzelne für sich ein Juwel von Licht und Leben, aus dem reichlich zu schöpfen und darzureichen wäre. Das wollen wir auch jetzt ein wenig versuchen, aber doch überwiegend sie ins Auge fassen als die bezeichneten Marksteine auf des HErrn Tröster- und Helfer-Weg; und bitten Ihn, dass Er doch auch in diesem Sinne sie uns aufschließe und bei jedem von uns in die Seele pflanze, und keinen von uns herausgehen lasse aus dieser Versammlung ohne eine neue Belebung und Stärkung seines Glaubens zu wirken, und den erneuten Entschluss, sich Ihm, diesem HErrn und Heiland, zu übergeben und Ihm ganz zu gehören, zu leben und zu sterben.
Lasst uns wieder in Judäa ziehen, d. h. in die Landschaft, in der Bethanien lag, das ist das erste Wort, welches wir in diesem zweiten Teil unserer Geschichte, da jetzt die Hilfe kommen soll, von dem HErrn vernehmen. Er war aus Judäa weggezogen, weil da die Häupter der Juden seinen Tod beschlossen hatten, und das aufgeregte Volk schon versucht hatte, Ihn zu steinigen. Martha und Maria in ihrer Not hatten gehofft, Er werde dennoch zu ihnen kommen, in feiner Liebe zu ihnen werde Er auch die Todesgefahr nicht scheuen; aber in dieser Hoffnung schienen sie sich getäuscht zu haben, Jesus blieb, wie wir hörten, trotz ihrer Botschaft zunächst ruhig an dem Ort, wo Er war. Aber nach zwei Tagen, da macht Er sich nun reisefertig und spricht zu seinen Jüngern: Lasst uns wieder in Judäa ziehen, d. h. lasst uns jetzt dem Hilferuf folgen und die erbetene Hilfe bringen. Warum erst jetzt? Warum so noch zwei Tage stille liegen und zuwarten, während sie in Bethanien in Todesangst die Minuten zählen, und ihre Seelen schreien nach Aufrichtung und Trost? Der HErr sagt es im Folgenden selber, warum Er so handelt. Ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht dort gewesen bin, spricht Er zu seinen Jüngern, auf dass ihr glaubt. Nämlich wäre der HErr bei der Erkrankung des Lazarus in Bethanien gewesen, Er hätte ihn, wie wir alle fühlen, unmöglich können sterben lassen, Lazarus wäre wieder gesund geworden, und damit allerdings den Schwestern das bittere Weh erspart worden, das jetzt durch ihre Herzen ging. Aber auch die wunderbare Überwindung und Heilung dieses Wehes hätten sie dann nicht erfahren, ihr inneres Leben wäre nicht vertieft und erneuert worden, ihre Liebe nicht gereinigt von dem Ungöttlichen, das ihr noch anhing, sie wären nicht gewachsen und vollbereitet worden im Glauben, dass sie ganz und für immer in ihren Heiland gegründet wurden, und Ihn wussten und hatten als den Erretter durch alles hindurch. - Und so war es in noch höherem Grade auch bei den Jüngern und der ganzen Gemeinde seiner Gläubigen. Der HErr verzog nach Bethanien zu gehen, weil Er diesmal nicht nur, wie Er schon mehrfach getan, einen Kranken heilen, oder einen eben erst Gestorbenen vom Bett erwecken wollte, sondern weil Er diesmal einen Toten auferwecken wollte, nachdem er schon Tage lang im Grabe gelegen, dessen Verwesung schon begonnen hatte, und sich damit unwidersprechlich erweisen wollte als der über Tod und Grab und Verwesung steht, als der Lebensfürst, der das Leben Gottes in sich hat, und es denen gibt, die an Ihn glauben. Und so wollte Er sich diesmal erweisen, weil Er wusste, dass Er jetzt in den letzten Stunden seines Tagewerkes stehe. Da sollten denn die Seinen, besonders seine Jünger, noch einen Blick tun, wie sie ihn bisher noch nicht getan, in seine volle Gemeinschaft mit dem Vater, seine volle Herrlichkeit und Macht, auf dass sie glaubten, wie Er selber sagt. Beim Kreuze brach ja über ihren Glauben die schwerste Anfechtung herein, da sie ihren Meister sahen in der Feinde Hände dahingegeben und sterben am Kreuz. Für diese Anfechtung will sie der HErr, der die Seinen beständig auf dem Herzen trägt, jetzt zum Voraus stärken und bereiten, dass wenn dann sein Tod kommt, sie sich daran erinnern, wie Er ja den Tod schon überwunden und zunichte gemacht hat vor ihren Augen, und also nicht irre werden und nicht den Mut verlieren, sondern festbleiben im Glauben und das Feld behalten im Glauben.
Seht da, auf was im letzten Grunde die Wege und Führungen des HErrn mit den Seinen abzielen. Wir Menschen meinen, das Größte und Wichtigste für uns sei, dass es uns gut gehe, wie man zu sagen pflegt, dass wir verschont bleiben von Widerwärtigkeit und Not und Schmerzen, oder, wenn wir etwas davon erfahren müssen, doch recht bald wieder herauskommen; aber unser HErr und Heiland weiß: Das ist's nicht was uns Not tut, darin liegt unser Glück und Heil nicht, sondern in dem liegt's, dass wir zum Glauben kommen, zu dem Glauben, der aus uns selber und Sünde und Welt und Todeswesen, uns in unsern Gott und Heiland gründe mit seiner Liebe und Gnade und Erlösung, seinem Frieden und Leben. Da allein, in solchem Glauben, wird das Herz getrost und leicht, da hat es den Grund gefunden, der seinen Anker ewig hält, da sind ihm alle Dinge möglich, wie die Schrift sagt. Darum selig die da glauben, ruft der HErr, wer an mich glaubt, der hat das ewige Leben, und nichts wird ihn aus meiner Hand reißen. Und dieser Glaube ist nun nicht etwas nur auf einmal Fertiges, sondern es gilt von ihm: aus Glauben in Glauben, es gilt darin zunehmen und wachsen, dass er rechtbeschaffen und völlig wird. Und was es nun bei einem jeden hierzu bedarf, wie lang er im Schmelztiegel liegen muss, was an ihm muss verzehrt und abgetan werden, das weiß und versteht kein Mensch, das weiß und versteht nur Er, unser Heiland und Seligmacher. Und nach diesem seinem Wissen tut Er dann in seiner heiligen Liebe, so dass nichts daran fehlt, bis der Zweck erreicht ist, auch wenn es noch so tief ins Herz schneidet und in den Staub beugt. Aber dann, wenn es getan ist und das ausgerichtet was geschehen musste, dann heißt es auch mit welcher Freude aus seinem Herzen und Munde: Jetzt ist's genug, jetzt lasst uns zu ihm gehen, dass wir trösten und helfen.
Wenn die Stunden sich gefunden
Bricht die Hilf' mit Macht herein.
Das bezeugt uns hier unsere Geschichte, das bezeugt die ganze Schrift, davon sind unsere Lieder voll, die Erfahrungszeugnisse der Gemeinde. So soll und wird es auch bei dir geschehen, mein Bruder, meine Schwester, in Dunkel und Anfechtung. Werde nur nicht müde und lasse deinen HErrn nicht fahren, sondern halte es fest: Dennoch bleibe ich stets an Dir, und harre Deiner wie die in der Nacht wachen auf den Morgen warten. Ja,
Hoff', o du arme Seele,
Hoff', und sei unverzagt.
Gott wird dich aus der Höhle,
Da dich der Kummer plagt,
Mit großen Gnaden rücken,
Erwarte nur die Zeit,
So wirst du schon erblicken,
Die Sonn' der höchsten Freud'.
Und in solchem Kommen und Helfen, wenn die Zeit da ist, kann dann auch den HErrn nichts hindern und aufhalten, was immer im Wege zu stehen scheint. Hier in unserer Geschichte versuchen Ihn seine Jünger zurückzuhalten und rufen in Sorge und Angst: Meister, jenesmal wollten die Juden dich steinigen, und du willst wieder nach Judäa ziehen! Ja, so gewiss ist es ihnen, dass der HErr damit auf den Tod zugeht, dass, als Er auf seinem Entschlusse beharrt, Thomas ausruft: So lasst uns mit Ihm ziehen, dass wir mit Ihm sterben! Da sagt es ihnen denn nun der HErr in der freundlichen Weise, wie Er mit ihnen umzugehen pflegt: Seht, ich muss hinziehen, jetzt ist die Hilfe nötig, und ist noch des Vaters Wille zu seiner und meiner Verherrlichung; denn Lazarus, unser Freund, schläft. Und als sie das missverstehen, und erwidern: Nun, wenn er schläft, so wird es ja besser mit ihm, sagt Er es ihnen gerade heraus: Lazarus ist gestorben, aber ich gehe hin, dass ich ihn auferwecke.
Lazarus unser Freund schläft. Was ist das für eine Rede, da aus jedem Wort ein Liebes- und Friedens-Hauch uns umweht! Lazarus unser Freund. Im Vorhergehenden hieß es, wie wir's das letzte Mal hörten: „Jesus hatte Lazarus lieb“; jetzt nennt ihn der HErr selber seinen Freund, unsern Freund, mit dem innigsten trautesten Namen, durch den Er ihn gleichsam auf eine Linie mit sich stellt, wie das ja zur Freundschaft gehört, und wie mit sich, so zugleich mit allen denen, die sich Ihm übergeben haben und Ihm nachfolgen. Freilich war ja ein großer Unterschied zwischen seinen Jüngern, zwischen diesem geringen, wenig begabten Lazarus, von dem uns die evangelische Geschichte nicht ein einziges Wort berichtet, und einem Petrus und Johannes, den gewaltigen Aposteln voll Geist und Kraft.
Aber der HErr macht doch keinen Unterschied. Unser Freund sagt Er von Lazarus, noch ehe Er's von Petrus und Johannes sagte. Denn für das Verhältnis zu Ihm kommt's nicht auf Begabung und Kraft an Er kann, wenn Er will, aus Steinen große Geister und Kräfte erwecken , sondern da kommt es allein an auf das demütige, kindliche, vertrauensvolle, freudige Ihn Aufnehmen, und sich zu Ihm Halten, und seinen Willen Tun und in Ihm sein eins und alles Suchen und haben. Bei wem das so wird, der ist sein Freund, den schließt Er unauslöschlich in sein Herz und bekennt ihn als seinen Freund auf Erden und im Himmel, er sei im Übrigen hoch oder niedrig, stark oder schwach, ein Mächtiger, der die Welt bewegt, oder ein Kleiner, von dem sie kaum etwas weiß. Ja, gerade unter diesen Schwachen und Kleinen hat der HErr ganz besonders solche Freunde, weil sie sich leichter von Ihm finden lassen und Ihn williger aufnehmen, als die in sich selber etwas zu sein und zu haben meinen. Und wie freut man sich, wenn man da und dort in einer armseligen Hütte auch solch einen Freund Jesu trifft, dem alles zu fehlen scheint, und es hört und spürt, wie doch der ewige, herrliche HErr sich seiner annimmt, und ihn mit seiner Freundschaft umfängt und trägt: wie ich kürzlich am Sterbebette einer armen Frau stand, einer der ärmsten und schwächsten, die es geben kann, aber ihre Augen leuchteten und ihr Mund floss über von der Seligkeit der Freundschaft Jesu, des Sohnes Gottes, dass ich mir sagen musste: Reicher und höher gibt es keinen Menschen auf Erden! Lockt uns das nicht, meine lieben Leser? Erbebt unser Herz nicht vor Verlangen und Freude, wenn wir's uns vorhalten, dass auch wir alle hierzu berufen sind, dass kein Einziger unter uns ist, wie arm und gering er sein mag, den so Jesus, der Sohn Gottes, nicht zu seinem Freund haben möchte, und zu seinem Freunde annehmen will? Sind wir das schon? Bist du's schon? versäume sie nicht, diese höchste, unvergängliche Ehre und Freude, und gehe hin und verkaufe alles, was du hast in dir selber, dass du diese köstlichste Perle erwirbst. Lazarus, unser Freund, schläft, sagt der HErr von dem Gestorbensein des Lazarus. Also in den lieblichen Namen des Schlafens verwandelt Er für die Seinen den furchtbaren Namen des Todes. Der Tod ist des Menschen bitterster Feind, der Schlaf ist einer seiner besten, willkommensten Freunde. Wie sehnt sich doch der Müde, der Kranke, der Ermattete nach dem Schlaf, wie köstlich ist es ihm, wenn er ihn endlich findet, wie ist es jedesmal ein Trost- und Freudenwort, wenn man von einem Leidenden oder Abgearbeiteten sich zuflüstern kann: Er ist jetzt eingeschlafen, er schläft; denn, wie's die Jünger sagten, dann wird es besser mit ihm, aus den Schlaf wacht man auf zu neuem, gekräftigten Leben. Seht, so ist jetzt das Sterben für die Freunde Jesu. Ein Ausziehen des müde und matt Gewordenen, ein Hinübergehen aus der Arbeit und dem Kampf in das Ruhen in der erlösten, geheiligten Welt, in die Freundesarme des Herrn Jesu selber, da man nun seine ganze Freundesliebe zu spüren bekommt, und in das selige Warten auf die Offenbarung der vollen Gotteskindschaft und Herrlichkeit, da dann auch der Leib auferwecket wird und ähnlich gemacht seinem verklärten Leibe. Das ist das sonst so furchtbare Sterben für die Freunde Jesu. Ja, Lazarus, unser Freund, schläft, das ist die Überschrift über den Gräbern aller, die sein geworden sind und in Ihm hinübergehen. Menschen können diese Grabschrift nicht sehen. Wenn man sie mit Diamantschrift auf Marmor eingrübe, es würde nichts nützen, sie könnte die schreiendste Lüge sein. Nur des HErrn Mund kann sie aussprechen, so dass sie wahr ist und Gültigkeit hat. Wird Er sie dereinst auch über uns aussprechen? Was wird einmal von uns gelten, wenn wir im Grabe liegen? Hier spricht der HErr: Lazarus, unser Freund, schläft; aber von einem andern, der Ihm gleichfalls nahe stand, von Judas, heißt es: Er ging hin an seinen Ort. Seht, das Eine oder das Andere heißt es einmal von einem jeden Menschen. Was wird es von uns heißen, von dir und von mir? O HErr, unser Erbarmer, zeige uns, wie es mit uns steht, und bekehre uns zu Dir, dass wir Dir leben und sterben!
´Aber wir verlassen jetzt den HErrn einen Augenblick, während Er hinaufzieht nach Bethanien, und eilen Ihm voran in das Haus, dem seine Reise gilt. Wie anders ist es jetzt in diesem Hause als es vor einer oder zwei Wochen darin war. Damals war es eine Stätte des Liebeslebens und der Liebesfreude in der gemeinsamen Zugehörigkeit zu dem Herrn Jesu; jetzt ist es ein Trauerhaus, da die Liebesgemeinschaft zerrissen ist, und das Freudenlicht erloschen, und die Zurückgebliebenen eine tiefe, bittere Leere und Vereinsamung empfinden. Und dabei ist es doch nicht still und einsam im Hause, sondern, wie es ja auch in unsern Trauerhäusern ist, eine Menge von Leidbesuchern stellt sich ein und geht ab und zu, wie's in unserer Geschichte ausdrücklich heißt: Viele Juden, Verwandte und Bekannte, waren zu Martha und Maria gekommen, um sie zu trösten; und die sitzen nun um die Schwestern her, und fragen, und sprechen ihre Teilnahme aus, und auf sie alle muss man hören, und mit ihnen reden, und ihnen Auskunft geben zum zehnten und hundertsten Mal über des Bruders Krankheit und Sterben. Und keiner versteht was in Martha und Maria wirklich vorgeht, und keiner vermag ihnen für ihr blutendes Herz und ihre angefochtene Seele ein wahrhaft tröstendes Wort zu sagen. Denn wie kann man wahrhaft trösten, wenn man Jesum nicht hat und bringt, wenn man nicht die gewisse, heilige, alles zum Segen wendende Liebe Gottes in Ihm kennt und glaubt und zu bezeugen weiß? O was sind doch auch wir oft für leidige, unnütze Tröster in solchen Trauerhäusern, selbst wenn wir nicht nur aus Höflichkeitspflicht hingehen, sondern in wirklichem Teilnehmen und Mitfühlen. Ein alter Christ hat gesagt: Niemand sollte in ein Trauerhaus gehen, ohne zuvor in seinem Kämmerlein mit Gott geredet, und für den Trauernden, dem er etwas bringen möchte, gebetet zu haben. Wer das unterlässt, der kann vielleicht viel Teilnahme bezeugen, und recht Schönes sagen, und geht vielleicht fort mit dem Bewusstsein, ein schweres Liebeswerk wohl vollbracht zu haben, und doch hat er in Wahrheit nichts gebracht und lässt nichts zurück.
Aber gottlob! in das Trauerhaus zu Bethanien kommt nun einer, der bringt etwas und bringt alles. Die Gedanken der Schwestern hatten sich in diesen schweren Tagen ohne Zweifel beständig mit Jesu beschäftigt: O dass Er da wäre, dass Er uns sein Wort deutete: Die Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes. Aber wo ist Er? Weiß Er überhaupt was geschehen ist? Haben wir noch etwas von Ihm zu hoffen? Sie dürfen diesen Gedanken nicht laut werden lassen und besprechen, wie sie's so gerne möchten. Denn die Bekannten und Verwandten, die sie besuchten, waren, wie wir aus dem Folgenden sehen, keine Freunde Jesu, sondern hatten sich vielleicht schon lange über die Verbindung der Geschwister mit Ihm geärgert, und hofften, jetzt werde die Schwärmerei für Ihn ein Ende nehmen, da Er sie so im Stiche gelassen, und ließen vielleicht sogar Andeutungen in diesem Sinne fallen, und verwundeten damit die Herzen der Schwestern noch tiefer und schmerzlicher. Da mit einem Male winkt man Martha hinaus von diesen Leidbesuchern, und draußen hört sie: Er kommt, Er kommt, eben steigt Er auf der Straße von Jericho herauf und ist schon ganz nahe. Und sie vergisst und lässt alles Andere, auch die noch darinnen sitzende Schwester, und eilt Ihm entgegen vor den Flecken hinaus. Und wie sie Ihn erblickt, da brach die Tiefe ihres Leides wie von neuem auf, und unter strömenden Tränen kann sie nur das eine Wort sagen: HErr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben! Das war das Wort, das ihr jetzt zunächst lag, das die Schwestern in diesen Tagen ohne Zweifel sich beständig wiederholt hatten, ein Wort wie der Klage und des Vorwurfs gegen den HErrn: Warum bist Du doch nicht hier gewesen? Warum bist Du nicht gekommen, und hast unsern Bruder so sterben lassen? wie manchen solchen klagenden Vorwurf muss doch unser HErr und Heiland sich gefallen lassen von den Seinen, bei Großen und bei Kleinen, wenn es nicht nach ihrem Meinen und Wünschen geht. Und welch ein sanftes, Langmütiges, liebendes Herz muss Er doch haben, unser großer Hohepriester, dass Er solche Vorwürfe fort und fort erträgt und Geduld hat mit solchen armen, törichten Kindern. Und Er meint es doch so treu und selig mit ihnen, und was Er tut ist doch so recht und nötig, und es ist nur unser Unglaube und unsere Kreuzesscheu, dass wir es nicht verstehen und uns nicht darein schicken wollen. Aber auch darüber hat Er Erbarmen mit uns, und kann sich selbst nicht verleugnen.
Martha, in ihrem zarten, frommen Sinn, scheint es auch gleich selbst gefühlt zu haben, dass sie ungebührlich geredet, und versucht es wieder gut zu machen, da ihr Glaube jetzt neu belebt ist durch das Kommen des HErrn, indem sie hinzusetzt: Aber ich weiß auch noch, dass, was Du bittest von Gott, das wird Dir Gott geben. Das war allerdings ein rechtes, ein in die Tiefe gehendes Glaubenszeugnis, das den HErrn im Innersten erfreute, und dem Er darum auch sogleich entgegenkommt mit der vollen Offenbarung seiner Gnadenabsicht und spricht: Dein Bruder soll auferstehen. Dein Bruder soll auferstehen. Man sollte denken, diese Worte müssten wie ein Lichtstrom in der Martha Herz geflutet sein, ihre Schmerzenstränen müssten mit einem Mal vertrocknet sein, und sich in Freudentränen und Jubel verwandelt haben. Aber wir lesen gerade das Gegenteil. Indem sie die heißersehnte Zusage empfängt, siehe, da hat sie nun doch nicht den Mut und den Glauben, diese Zusage auch wirklich für wahr zu halten und zu ergreifen. Das ihr Zugesagte scheint ihr viel zu groß und unerhört, als dass sie's aufnehmen dürfte; „ich weiß wohl,“ sagt sie, „dass mein Bruder auferstehen wird am jüngsten Tage, wenn alle auferstehen,“ und verwandelt so die Verheißung, die ihr geworden, in eine allgemeine Wahrheit, die sie nicht bezweifelt, von der sie aber einstweilen nichts hat, und wagt nicht, sie auf sich anzuwenden, gleich auf diesen Tag und diese Stunde anzuwenden, wie der HErr es meint und will.
O meine lieben Mitchristen, wie oft machen doch auch wir es so und trauen es unserm Gott und Heiland nicht zu, dass das, was Er uns zusagt, nun auch ganz und buchstäblich und sofort uns gilt. Du sehnst dich von deiner Sündenlast loszukommen und zum Frieden zu kommen, und rufst Ihn darum an, und Er antwortet dir in seinem Worte: Deine
Sünde ist getragen und getilgt und dein Schuldbrief zerrissen, ich habe Frieden für dich gemacht und bin dein Friede; und du ziehst das nicht in Zweifel, du hältst es für wahr, aber dass es auch für dich wahr ist, und gleich jetzt für dich wahr ist, dass du's gleich jetzt ergreifen und dich darauf gründen darfst und sollst als auf den gewissesten Felsen, das glaubst du nicht, danach tust du nicht, und kommst so nicht zu dem dargebotenen Frieden und nicht zu einem versöhnten, freudigen Gewissen. Oder du bist in Kummer und Sorge und Not, und wendest dich an den HErrn: O hilf mir und errette mich! Und es tritt dir seine feste Versicherung entgegen: Sei getrost, ich bin bei dir in der Not, ich will dich herausreißen, und du sollst mich preisen. Und das dringt dir für den Augenblick wie ein Lichtstrahl in die Seele, und du glaubst's und fasst's; aber da heißt es wieder in deinem armen, törichten Herzen wie hier bei Martha: aber wird Er's auch jetzt tun, kann ich mich auch jetzt auf Ihn verlassen? Das wagst du nicht, dazu hast du nicht den Glauben, und bleibst so in deinem dich Kümmern und Sorgen, und das Wort deines Gottes ist dir wenig nütze. O meine lieben Brüder, lasst uns doch unserm Gott und Heiland besser glauben lernen, ganz und unbedingt, so wie sein Wort lautet und gemeint ist. Es ist unmöglich, dass man da zu Schanden wird. Wer glaubt, der hat's und erfährt's.
Der Herr in unserer Geschichte blickt mit herzlichem Mitleiden auf diesen Kleinmut und Kleinglauben seiner lieben Jüngerin und sucht sie wieder in die rechte Stimmung zu bringen, indem Er zu ihr sagt: Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe, und wer da lebt und glaubt an mich, der
wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? Was der HErr im Allgemeinen damit will, ist: die Martha, die sein Tun noch nicht glauben und fassen kann, darauf hinlenken auf seine Person, auf sich selbst, die Quelle dieses Tuns. Liebe Martha, siehe jetzt von allem andern hinweg allein auf mich, deinen Jesus, und halte dich nur an mich im Glauben. Kannst du das? willst du das? Und da ist nun die rechte Saite getroffen in dem Herzen der Jüngerin, da ist sie nun nicht im Ungewissen, da hebt sie ihre Augen auf und spricht und ruft: Ja, HErr, ja, ich glaube, dass du bist Christus der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist. O seliges Bekenntnis, selig das Herz, in dem es wahrhaftig lebt, und der Mund, der es mit Gewissheit aussprechen kann! Als Simon Petrus zuerst es aussprach, da sagt ihm der HErr: Fleisch und Blut haben dir das nicht geoffenbart, sondern mein Vater im Himmel; auf dies Bekenntnis, diesen Felsen will ich meine Gemeinde gründen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. - Ja, auch du, wo du das in Wahrheit hast, und darauf stehst mit deinem ganzen Herzen und Wesen, so dass du dein innerstes Leben daraus ziehst: Du, Herr Jesus, bist der Sohn Gottes, der Seligmacher, der in die Welt gekommen ist, auch für mich in die Welt gekommen ist, da hast du im Grunde alles, was dir nötig ist und dich selig macht für Zeit und Ewigkeit. Es mag dir dann noch viel fehlen an Erkenntnis, an Mut, an Geduld, an Erfahrung, aber der von Gott Gekommene ist ja für dich da und bei dir und du bei Ihm, und es fließt dir aus Ihm Eins um das Andere zu wie du's bedarfst; und wenn dir alles versänke und Erde und Himmel dir unterginge, du bist in den gegründet, der mehr ist als Erde und Himmel, und Er ist dein Heiland, Erretter, der sein Werk unfehlbar an dir tut.
Wir sehen es hier wieder an seinem Tisch, an dem Zeichen seines Leibes und Blutes, wie ernst es Ihm mit diesem Heilandswerk ist, wie Er's auch mit seinem Tode vollendet und versiegelt hat, und fort und fort seine Früchte und sich selbst uns darbietet. Auf Ihn, der so bei uns ist, den für uns Gekreuzigten und Auferstandenen, unsere Versöhnung und unser Leben wollen wir denn unsere Seelen richten mit ganzem Verlangen und wollen kommen und bekennen und bitten und danken:
Erlöst, mein Heiland, hast Du mich,
Mein ganzes Leben preise Dich,
Dir eigen will ich werden.
Und bin ich dein, so fehlt mir nichts,
Nichts einst am Tage des Gerichts,
Und nichts, am Heil, auf Erden.
Auf diesem Weg zum Vaterland
Entzieh' mir niemals deine Hand.
Zu deinem Dienste stärke mich,
Damit ich siege, HErr, durch dich.
Herr Jesu Christ, mein HErr und Gott,
Mein HErr und Gott,
Hilf mir zum Leben durch den Tod!