Spurgeon, Charles Haddon - Das 4. Wort: Angst

Spurgeon, Charles Haddon - Das 4. Wort: Angst

Um die neunte Stunde schrie Jesus laut und sprach: „Eli, Eli, lama asabtani?“ das ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Mat 27,46

„Von der sechsten Stunde an ward eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde.“ Dieser Schrei geschah also aus dem Dunkeln heraus. Darum erwarte nicht, dass du jedes einzelne Wort begreifst, als käme es vom heiteren Himmel herab wie ein Strahl der Sonne der Gerechtigkeit. Es ist zwar Licht in dieser Aussage, strahlendes, flutendes Licht; aber es liegt darin auch undurchdringliches Dunkel, vor dem die Seele zu Tode erschrickt.

Damals befand sich unser Herr auf der finstersten Wegstrecke. Stundenlang hatte er bereits die Weinkelter getreten. Das Werk war fast vollendet. Der Höhepunkt seiner Schmerzen und Qualen war erreicht. Dies ist sein Schmerzensschrei auf dem Tiefpunkt des Elends: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Ich kann mir nicht denken, dass die Geschichte, oder auch die Ewigkeit, einen Satz aufzuweisen hat, der mehr erfüllt wäre von Schmerz und Angst. Wermut und Galle und alle Bitterkeit sind nichts dagegen. Hier blickst du in einen unergründlichen Abgrund. Wie du auch deine Augen anstrengst, dass sie schier versagen-bis zum Grund dringst du nicht vor. Er ist nicht auszumessen. Die Angst des Heilands um unsertwillen ist ebenso wenig zu messen und zu wägen wie die Sünde, die sie verursachte, oder die Liebe, die sie durchstand. Wir wollen anbeten, wo wir nicht mehr begreifen können.

Hoffentlich hilft dieses Kapitel den Kindern Gottes, ein wenig besser ihre niemals endende Verpflichtung gegenüber ihrem Erlöser und Herrn zu verstehen. Miss die Höhe seiner Liebe, wenn sie sich überhaupt messen lässt, mit der Tiefe seines Schmerzes, wenn das möglich ist. Sieh, um welchen Preis er uns erlöst hat von dem Fluch des Gesetzes. Dann sage dir: Was für Leute sollten wir doch sein! Wie viel Liebe sollten wir dem entgegenbringen, der die schrecklichste Strafe erduldete, damit wir bewahrt bleiben vor dem kommenden Zorn? Ich behaupte nicht, dass ich in diese Tiefe vordringen kann. Ich will mich nur an den äußersten Rand des Abgrundes vorwagen und dich bitten, dort hinabzuschauen und den Geist Gottes zu bitten, dass er deine Gedanken konzentriere auf die Klage unseres sterbenden Herrn, die sich aus dem undurchdringlichsten Dunkel erhebt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Zunächst wollen wir darüber nachdenken, was er litt-denn Gott hatte ihn verlassen. Dann beschäftigen wir uns mit der Frage, warum er litt. Dieses Wort „Warum“ ist der springende Punkt in unserem Text: „Warum hast du mich verlassen?“ drittens soll uns die Antwort beschäftigen; das also, was sich aus seinem Leiden ergab. Die Antwort senkte sich still und sanft in die Seele des Herrn, ohne auf Worte angewiesen zu sein, denn er ließ seine Angst und Pein hinter sich zurück mit dem triumphierenden Ruf: „es ist vollbracht!“ (Joh. 19,30). Sein Werk war vollendet. Dass er die Verlassenheit ertrug, war ein wesentlicher Teil seines Werkes für uns.

Lasst uns zunächst besehen, was unser Herr erlitt!

Gott hatte ihn verlassen! Seelenqualen sind schwerer zu ertragen als körperliche Schmerzen. Du kannst all deinen Mut zusammennehmen und die stechenden Schmerzen der Krankheit ertragen, solange der Geist gesund und tapfer ist. Wenn aber die Seele in Mitleidenschaft gezogen ist, wenn der Geist krank wird vor Angst, dann nimmt jeder Schmerz ins Ungemessene zu, und es gibt nichts mehr, das Einhalt gebieten könnte. Seelische Leiden sind die schlimmsten. Der Mensch kann große Niedergeschlagenheit ertragen, solange er weiß, dass er sich an Gott wenden kann. Er ist niedergedrückt, aber nicht verzweifelt. Wie David wird er mit sich selbst zu Rate gehen und fragen: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott! denn ich werde ihm noch danken, dass er mir hilft mit seinem Angesicht“ (Ps. 42,6.12; 43,5). Doch hat sich der Herr zurückgezogen, verdunkelt sich das tröstliche Licht seiner Gegenwart auch nur für eine kurze Stunde, so bricht in unserer Brust ein Sturm los, der nur einem Vorspiel der Hölle vergleichbar ist. Das ist die größte aller Lasten, die auf unser Herz drücken können. Das ließ den Psalmisten bitten und flehen: „Verbirg dein Antlitz nicht vor mir und verstoße nicht im Zorn deinen Knecht“ (Ps. 27,9). Wir können ertragen, dass unser Körper blutet, ja, dass unser Geist verwundet ist, aber eine Seele, die sich von Gott verlassen weiß, erleidet Unerträgliches. Wenn Gott sich zurückzieht und sein Angesicht verbirgt, wer kann in solcher Finsternis durchhalten?

Dieser Notschrei aus dem Rachen der Hölle bezeichnet den Höhepunkt des Leidens unseres Heilands. Er war wirklich verlassen! Obwohl unser Herr in einem anderen Zusammenhang sagen konnte: „Ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir“ (Joh. 16,32), stimmt es doch zweifellos, dass der Vater ihn verließ. Nicht Mangel an Glauben ließ ihn annehmen, was gar nicht der Fall war. Unser Glaube versagt, und wir meinen dann, Gott habe uns verlassen. Aber der Glaube unseres Herrn geriet nicht für einen Augenblick ins Schwanken, denn zweimal rief er aus: „Mein Gott!“ Was für ein mächtiges, doppeltes Zufassen dieses Glaubens, der kein Zaudern kennt! Der Herr scheint sagen zu wollen: „Obwohl du, Vater, mich verlassen hast, gebe ich dich doch nicht auf.“ Der Glaube triumphiert. Es gibt kein Anzeichen dafür, dass das Herz unseres Herrn gegenüber dem lebendigen Gott schwankte. Und doch, so stark sein Glaube auch war, er spürte, dass Gott ihm seine tröstende Gemeinschaft entzogen hatte; er zitterte unter dieser schrecklichen Entblößung.

Das war kein Wahn, hervorgerufen durch die Schwäche des Körpers; kein Delirium unter Fieberhitze, Niedergeschlagenheit oder angesichts des nahen Todes. Sein Geist war klar bis zum letzten Augenblick. Unter Schmerzen, Blutverlust, Spott, Durst, Verlassenheit seitens der Menschen, verzagte er doch nicht. Er ließ keine Klage laut werden über Kreuz, Nägel und Verhöhnung. In den Evangelien ist uns nur von einem Schrei Jesu aus Schwäche berichtet: „Mich dürstet!“ (Joh. 19,28). All die Torturen, die man seinem Körper zufügte, ertrug er schweigend. Doch als er von Gott verlassen wurde, da brach er in den Ruf aus: „Lama Asabtani?“ Seine einzige Klage betraf seinen Gott. Nicht: „Warum hat Petrus mich verlassen?“ Nicht: „Warum hat Judas mich verraten?“ Das bekümmerte ihn sehr, aber es war nicht sein größter Schmerz. Erst dieser Schlag presste die Klage aus ihm hervor: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? „Es war kein Gespenst der Nacht, sondern wirkliche Gottverlassenheit, die er beklagte.

Diese Verlassenheit ist etwas Besonderes. Es ist nicht Gottes Art, seine Söhne oder Knechte zu verlassen. Die Heiligen verspüren Gottes Nähe, wenn sie in großer Schwäche und unter heftigen Schmerzen sterben. Deswegen drängt es sie zu singen: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich“ (Ps. 23,4). Sterbende Heilige haben einen klaren Blick für den lebendigen Gott. Aus Erfahrung wissen wir, dass der Herr, wenn er gelegentlich auch fern zu sein scheint, seinem Volk immer nahe ist im Tode und im Feuerofen der Anfechtung.

Wir lesen nichts davon, dass Gott der Herr den drei Männern erschien, bevor sie von Nebukadnezar in den Feuerofen geworfen wurden; aber dann und dort begegnete er ihnen. Meine Lieben, es ist Gottes Wunsch und Wille, engen Kontakt zu behalten mit seinem Volk in der Versuchung. Dennoch verließ er seinen Sohn in der Stunde der Trübsal. Wie sind wir daran gewöhnt, Gott bei seinen treuen Zeugen zu sehen, wenn sie bis aufs Blut widerstehen! Lies im Buch der Märtyrer! Es ist ganz gleich, ob du die Geschichte vergangener oder der jüngsten Verfolgungen studierst, all diese Begebenheiten und Erfahrungen stehen im hellen Licht offenbarer Gegenwart des Herrn bei seinen Zeugen.

Vergaß Gott der Herr jemals, einem Märtyrer auf dem Scheiterhaufen seine Hilfe zu gewähren? Übersah er schon einmal einen Zeugen auf dem Schafott? Die Gemeinde hat es immer wieder bezeugt: Wenn der Herr es auch zuließ, dass die Heiligen dem Leibe nach litten, so half er doch ihrem Geist auf göttliche Weise, so dass sie glänzend überwanden und ihre Leiden wie leichte Anfechtungen ertrugen. In den Flammen des Scheiterhaufens war keiner auf Rosen gebettet, aber die Feuersglut verwandelte sich in einen Siegeswagen. Das Schwert ist scharf, der Tod ist bitter, aber die Liebe zu Christus ist süß, und der Märtyrertod bedeutet Herrlichkeit. Nein, es ist nicht Gottes Art, seine Kämpfer im Stich und auch nur das geringste seiner Kinder allein zu lassen in der Stunde der Prüfung.

Die Verlassenheit unseres Herrn war einmalig. Hatte sein Vater ihn jemals zuvor allein gelassen? Lässt sich in den Evangelien ein anderes Beispiel dafür finden, dass der Sohn sich darüber beklagte, dass der Vater ihn allein ließ? Nein! Vielmehr: „Ich wusste wohl, dass du mich allezeit hörst“(Joh. 11,42). Er lebte ständig in Tuchfühlung mit Gott. Seine Gemeinschaft mit dem Vater war immer klar und wahr. Aber jetzt, zum ersten Mal, ruft er aus: „Warum hast du mich verlassen? „Das lässt uns aufhorchen. Es ist ein Rätsel, das nur der Hinweis auf seine Liebe und Selbsthingabe für uns lösen kann. Als Christus seinen Liebesplan durchführte, musste er durch dieses Leid, entrang sich ihm diese Klage über das Alleingelassensein von Gott.

Die Verlassenheit war schrecklich. Wer kann aussagen, was Verlassensein von Gott bedeutet? Wir kennen nur vorübergehende und teilweise Verlassenheit, um daraus schließen zu können. Gott hat uns niemals völlig allein gelassen, denn er sagt ausdrücklich: „Ich will dich nicht verlassen noch Versäumen“ (Jos. 1,5; vgl. Heb. 13,5). Aber wir hatten zuweilen das Gefühl, als habe er uns von sich gestoßen. Wir schreien: „Dass ich doch wüsste, wo er zu finden ist!“ Das volle Licht seiner Liebe fehlte uns. Diese Erlebnisse vermitteln uns eine kleine Ahnung von dem, was unser Erretter empfand, als Gott ihn verließ. Das Denken unseres Herrn war völlig verdüstert, jeder frohmachende Gedanke war ihm versagt. Das war die Stunde, in der er nach einem alten Prophetenwort ganz bewusst als Träger unser aller Sünde vor Gott stehen musste: „Er trägt ihre Sünden“(Jes. 53,11). Damit traf es zu: „Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht“ (2. Kor. 5,21). Petrus drückt es so aus: „Welcher unsere Sünden selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz“ (1. Pet. 2,24). Sünde, Sünde, Sünde-überall und um Christus her! Er selber war sündlos, aber Gott hatte unsere Sünden auf ihn gelegt. Er hatte ihn nicht vom Himmel herab gestärkt und nicht Öl oder Wein stillschweigend in seine Wunden gegossen. Der Sohn musste sich in der einsamen Gestalt des Lammes Gottes, das die Sünde der Welt hinwegträgt, Gott nahen. Unter der Last der Sünde musste er schier zusammenbrechen und sehen, wie das heilige Angesicht Gottes, das die Sünde verabscheut, sich von ihm abwandte.

Diesmal bekannte sich sein Vater nicht öffentlich zu ihm. Bei gewissen anderen Gelegenheiten hörte man eine Stimme vom Himmel: „Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe“(Mat. 3,17). Jetzt aber, als ein solches Bekenntnis bitter nötig erschien, herrschte absolutes Schweigen. Man hatte ihn wie ein verfluchtes Etwas ans Kreuz gehängt. Denn „Christus hat uns erlöst von dem Fluch des Gesetzes, da er ward ein Fluch für uns, denn es steht geschrieben: „Verflucht ist jedermann, der am Holze hanget“ (Gal. 3,13). Und der Herr, sein Gott, nahm sich seiner nicht an! Wenn es der Wille des Vaters gewesen wäre, hätte er ihm zwölf Legionen Engel schicken können. Aber nicht ein Engel erschien, als Christus den Garten Gethsemane verließ. Seine Verächter konnten ihm getrost ins Angesicht speien. Aber kein Seraph war zur Stelle, um die unerhörte Tat zu rächen. Sie konnten ihn binden und auspeitschen. Aber kein Vertreter des himmlischen Heeres trat dazwischen, um den Rücken Christi vor der Peitsche zu schützen. Sie konnten ihn mit Nägeln ans Holz schlagen, ihn mit dem Kreuz aufrichten und dabei spotten. Aber keine Kohorte dienstbarer Geister eilte herbei, um den lärmenden Haufen zurückzutreiben und den Fürsten des Lebens zu befreien. Nein, er war ganz offensichtlich verlassen, „geplagt und von Gott geschlagen und gemartert “(Jes. 53,4), ausgeliefert in die Hände grausamer Menschen, die ihm ohne jede Hemmung bitterstes Leid zufügten. Mit Recht rief er aus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Doch war das noch nicht alles. Der Vater ließ nun jenen heiligen Strom friedevoller Gemeinschaft und liebevollen Miteinanders versiegen, der bis zu diesem Augenblick seinen Weg durch das Erdenleben des Sohnes genommen hatte. Hatte er nicht von sich gesagt: „Sieh, es kommt die Stunde und ist schon gekommen, dass ihr zerstreut werdet, ein jeglicher in das Seine, und mich allein lasset. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir“(Joh. 16,32)? Das war sein ständiger Trost. Aber alle Tröstung aus dieser Quelle war nun versiegt. Der göttliche Geist stand seinem menschlichen Geist nicht mehr zur Seite. Keine Mitteilungen der Liebe des Vaters ergossen sich in sein Herz. Der göttliche Richter konnte dem kein Lächeln schenken, der die Sünder vor den Schranken des Gerichts vertrat. Aber wie ich schon sagte, der Glaube verließ unseren Herrn nicht, denn er sagte: „Mein Gott, mein Gott!“ doch sein Herz erfuhr keine Unterstützung mehr, und kein Trost erhellte seinen Geist. Ein Ausleger erklärt, dass Jesus den göttlichen Zorn nicht zu spüren bekam, sondern nur unter dem Abbruch der göttlichen Gemeinschaft litt. Was ist da für ein Unterschied? Ob Gott Wärme entzieht oder Kälte verbreitet, es ist gleich. Der Sohn empfing kein Lächeln mehr. Es war ihm nicht mehr erlaubt, die Nähe Gottes zu spüren-das bedeutete für seinen empfindsamen Geist allerhöchste Not.

Ein Heiliger berichtete einst, dass er in seiner Trübsal von Gott“wohl Notwendigkeiten, aber keine Lieblichkeiten „empfangen habe. Unser Herr wurde des Letzten beraubt. Ihm fehlte das Licht, das das Dasein lebenswert und das Leben hell macht. Wer weiß, was es bedeutet, die Gewissheit der Gegenwart und Liebe Gottes zu verlieren, der ahnt ein klein wenig von dem Leid und Schmerz des Heilands, der sich von seinem Gott verlassen fühlte. Wenn ihm die Basis entzogen wird, was kann der Gerechte tun? Für unseren Herrn war die Liebe des Vaters die Grundlage für alles. Wenn sie verlorenging, dann war alles verloren. Nichts blieb -in ihm, um ihn und über ihm-,wenn sein Gott, der Gott, der sein ganzes Vertrauen hatte, sich von ihm abwandte. Jawohl, Gott verließ unseren Heiland.

Von Gott verlassen zu sein, war für Jesus in viel größerem Maße eine Quelle der Angst, als es für uns sein Würde. „Wie“, fragst du, „ist das möglich?“ Meine Antwort: „Weil er vollkommen heilig war.“ Ein Bruch zwischen dem vollkommen heiligen Sohn und dem dreimal heiligen Gott muss im höchsten Grade befremden, unnormal, verwirrend und schmerzhaft sein. Wenn all die unter uns, die keinen Frieden mit Gott haben, ihre Lage erkennen könnten, würde Furcht sie schütteln. Wenn ihr, denen noch keine Vergebung geschenkt wurde, wüsstet, wo ihr euch in diesem Augenblick befindet und was ihr in den Augen Gottes seid, ihr würdet kein Lächeln mehr wagen, bis ihr mit Gott versöhnt seid. Wehe! Wir sind unempfindlich und verhärtet durch die Täuschung der Sünde und erkennen darum unsere wahre Lage nicht. Unser Herr aber litt dermaßen unter dem Verlassensein vom dreimal heiligen Gott, weil er selber vollkommen heilig war.

Ich erinnere ferner daran, dass unser hochgelobter Herr in einer ungebrochenen Gemeinschaft mit Gott gelebt hatte und dass darum Gottverlassenheit ein bisher unbekannter Schmerz für ihn war. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht gewusst, was Dunkelheit ist; sein ganzes Leben stand bis dahin völlig im Lichte Gottes. Bedenke doch, Kind Gottes: Wenn du immer in ungebrochener Gemeinschaft mit Gott gelebt hättest und wenn jeder Tag gewissermaßen ein Tag des Himmels auf Erden gewesen wäre, würde dich nicht der Schlag treffen, fändest du dich plötzlich in Finsternis und Verlassenheit wieder? Wenn du dir vorstellen kannst, was das für einen vollkommenen Menschen bedeuten muss, dann ahnst du, wie viel schrecklicher es für den Hochgeliebten war. Seine Gemeinschaft mit Gott war vollkommener als unsere, und sie erlitt niemals eine Unterbrechung. Seine Gemeinschaft mit dem Vater war so hoch, so tief und so umfassend wie nur möglich-was muss es für ihn bedeutet haben, sie zu verlieren? Uns entgehen nur wenige Tropfen, wenn wir aus der frohen Erfahrung der himmlischen Gemeinschaft herausfallen, und doch wirkt dieser Verlust schon tödlich. Aber für unseren Herrn Jesus Christus war es, als sei ein Meer ausgetrocknet-ich meine das Meer der Gemeinschaft mit dem unendlichen Gott.

Vergiss nicht, dass für ihn die Trennung von Gott eine Katastrophe gewesen sein muss. Er war in jeder Beziehung vollkommen und in allen Stücken vollkommen eingestellt auf Gemeinschaft mit Gott. Ein Sünder ist ganz auf Gott angewiesen, aber er weiß es nicht. Darum spürt er nicht den Hunger und den Durst nach Gott, der einen vollkommenen Menschen überkommt, wenn er um die Gemeinschaft mit Gott gebracht wird. Dass er vollkommen ist, lässt dem Heiligen keine andere Wahl: Entweder lebt er in der Gemeinschaft mit Gott, oder er ist hoffnungslos verlassen.

Stell dir einen Engel vor, der sich verirrt hat! Einen Seraph, der seinen Gott verloren hat. Nimm an, dass er absolut heilig und doch nicht in der Lage ist, seinen Gott wiederzufinden. Ich kann diesen Zustand nicht beschreiben, vielleicht wäre Milton dazu in der Lage gewesen. 1)

Der Seraph ist ohne Sünde und voll Vertrauen, und doch steht er ganz unter dem überwältigenden Gefühl, dass Gott ihm ferne ist. Er wurde ins Nichts abgetrieben -in die unvorstellbare Region im Rücken Gottes. Ich meine das Klagen und Weinen dieses Engels zu Hören: „Mein Gott, mein Gott, wo bist du?“ Was für ein Schmerz für den Sohn des Lichtes!

Doch hier haben wir die Klage eines Wesens, das weit mehr in der Lage war, Gemeinschaft mit Gott zu haben. Je aufnahmefähiger er für die Liebe des großen Vaters war, desto mehr sehnte er sich nun danach unter Schmerzen. Als der Sohn ist er fähiger für die Gemeinschaft mit Gott als irgendein dienender Engel. Und jetzt, da ihn Gott verlassen hat, ist seine Sehnsucht umso größer und sein Schmerz umso bitterer.

Herz und Wesen unseres Herrn waren sittlich und geistlich so wunderbar verfasst, so einfühlsam, so empfindsam, dass ohne Gott sein für ihn eine unermessliche Not bedeutete. Ich lasse mir von dem Text sagen, dass er die Verlassenheit ertrug, und doch empfinde ich, dass er sie nicht tragen konnte. Ich kann es nicht anders als auf diese widersprüchliche Weise ausdrücken. Es ist für mich unmöglich, ohne Gott zu sein. Er stellte sich freiwillig dafür zur Verfügung, dass Gott ihn verließ-ihm als dem Stellvertreter der Sünder blieb nichts anderes übrig-,aber nach dreistündigem Schweigen wurde die Situation für seine reine und heilige Natur unerträglich; so bricht es aus ihm hervor, nachdem er drei Stunden gelitten hatte, und er ruft aus: „Warum hast du mich verlassen?“ Er beklagt sich nicht über das Leiden, aber er kann das, was das Leiden hervorrief, nicht mehr ertragen. Die Probe musste ein Ende nehmen, so schien es, nicht der Schmerzen wegen, sondern wegen des sittlichen Schocks. Noch einmal erfasst ihn der Ekel vor der Sünde, den er schon vor Beginn seines Leidens empfand, damals als er ausrief: „Mein Vater, ists möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ (Mat. 26,39). „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Darin drückt sich der Schrecken und die Verwunderung der Heiligkeit Christi aus vor dem stellvertretenden Leiden für schuldige Menschen.

So ist es, meine Freunde. Ich habe mein Bestes getan, aber ich komme mir vor wie ein kleines Kind, das von Dingen schwätzt und plappert, die es absolut nicht versteht. Wir verlassen nun den Punkt, dass unser Herr Jesus am Kreuz von seinem Gott tatsächlich verlassen wurde.

Damit kommen wir zu der Frage, warum er litt

Beachte diesen Ruf sorgfältig: „Mein Gott, mein Gott. warum hast du mich verlassen?“ Es ist nackte Angst, erbarmungsloser Todeskampf, der so schreien lässt, aber es ist der Todeskampf einer göttlichen Seele, denn nur sie konnte sich so ausdrücken. Lasst uns davon lernen! Dieser Schrei stammt aus Dem „Buch“, der Bibel. In seinem bittersten Schmerz wendet sich unser Herr der Heiligen Schrift zu, um dort einem passenden Ausdruck zu finden. Zeigt sich darin nicht die Liebe unseres Herrn zu dem heiligen Buch? Es handelt sich um den ersten Satz des 22. Psalms. Ich wünsche uns eine solche Liebe zu dem inspirierten Wort, dass wir darüber nicht nur singen, sondern auch weinen können.

Die Klage unseres Herrn ist an Gott gerichtet. Die Frommen wenden sich in ihrer Angst der Hand zu, die sie züchtigt. Der Notschrei des Heilands wendet sich nicht gegen Gott, sondern an Gott. „Mein Gott, mein Gott!“ Er unternimmt einen doppelten Versuch, sich Gott zu nähern. Darin zeigt sich echte Sohnschaft. Das Kind im Dunkeln ruft nach seinem Vater: „Mein Gott, mein Gott!“ Beide, Bibel und Gebet, waren Jesus teuer und wert, selbst in seinem Todeskampf.

Ja, es ist ein Ruf des Glaubens. Obwohl da steht: „Warum hast du mich verlassen?“, heißt es doch zunächst zweimal: „Mein Gott, mein Gott!“ In dem Wörtchen „Mein“ liegt das Moment der Aneignung, doch Ehrerbietung und Demut drücken sich in dem Wort „Gott“ aus. „Mein Gott, mein Gott“, das heißt: „Immer bleibst du für mich Gott und ich bin dein armes Geschöpf. Ich streite mich nicht mit dir. Du bist fraglos im Recht, denn du bist mein Gott. Du kannst tun, was du willst, und ich beuge mich vor deiner heiligen Souveränität. Ich küsse die Hand, die mich schlägt, und aus vollem Herzen rufe ich: „Mein Gott, mein Gott.““ wenn du wahnsinnig wirst vor Schmerz, besinne dich auf deine Bibel! Wenn deine Gedanken umherirren, lass sie zum Thron der Gnade ziehen! Wenn dir Herz und Leib versagen, halte fest am Glauben und rufe: „Mein Gott, mein Gott!“

Lasst uns der Frage näher treten. Auf den ersten Blick hielt ich sie für eine Verzweiflungsfrage, aus dem Lot geraten; nicht völlig daneben, aber zu theoretisch und darum unausgeglichen. „Warum hast du mich verlassen?“- Wußte Jesus das wirklich nicht? War ihm wirklich nicht bekannt, warum er verlassen war? Ganz gewiss wusste er es. Aber soweit er Mensch war, zerschlagen, zermalmt, aufgelöst, schien er die Ursache so großen Schmerzes nicht mehr zu begreifen. Er musste verlassen sein, aber gab es eine ausreichende Erklärung für solchen Schmerz? Der Kelch musste bitter sein, aber warum diese Übelkeit erregenden Zutaten? Ich zittere, dass ich nicht sage, was ich nicht sagen sollte. Ich habs gesagt, und ich glaube, es stimmt: Der Mann der Schmerzen wurde gepackt von ungeahnten Schrecken. In diesem Augenblick kam die Seele des Menschen Christus Jesus unter Schrecken in Berührung mit der unbestechlichen Gerechtigkeit Gottes. Der eine Mittler zwischen Gott und Mensch, der Mensch Christus Jesus, sah sich auf einmal der Heiligkeit Gottes gegenüber, die alle Mittel gegen die Sünde des Menschen, für den er eingetreten war, aufbot. Gott war für ihn und mit ihm, daran besteht kein Zweifel. Aber in diesem Augenblick war Gott, was Jesu subjektives Empfinden anging, gegen ihn und notwendigerweise fern von ihm.

Es ist nicht überraschend, dass die heilige Seele Christi erschauerte, als sie unter Schmerzen in Berührung kam mit der schrankenlosen Gerechtigkeit Gottes, obwohl Christus diese Gerechtigkeit rechtfertigen und den Gesetzgeber verherrlichen sollte. Unser Herr konnte nun sagen: „Alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich“ (Ps. 42,8). Darum bedient er sich einer Sprache, die zu leidenschaftlich ist, um sich analysieren zu lassen mit kalter Logik. Schmerz kümmert sich wenig um die Regeln der Grammatik. Selbst fromme Menschen, die sonst stets zuchtvoll reden, drücken sich in äußerster Not eigenwillig und in einer Weise aus, die sich nur dem mitfühlenden Ohr ganz erschließt. Ich verstehe nicht alles, was hier vorgeht, und was ich verstehe, kann ich doch nicht recht in Worte kleiden.

In diesem Ausdruck liegen, so meine ich, Ergebenheit und Entschlossenheit zugleich. Unser Herr weicht nicht zurück. Die Frage bedeutet Bewegung nach vorne. Wer etwas aufgibt, der zerbricht sich darüber nicht mehr den Kopf. Unser Herr aber bittet nicht darum, dass die Verlassenheit vorzeitig beendet werden möchte. Es geht ihm allein um ein neues Verständnis. Er schreckt nicht zurück, sondern er liefert sich Gott neu aus mit den Worten: „Mein Gott, mein Gott!“ Indem er die Angst zu ergründen sucht, die er bis zum Ende ertragen will, klammert er sich an Gott. Es geht ihm um das Motiv, das ihn bislang bestimmte und bestimmen muss bis ans Ende. Tiefe Ergebenheit und starke Entschlossenheit, die Gott wohlgefallen, entdecke ich in dem Schrei unseres Herrn.

Könnte es nicht sein, dass Erstaunen und Verwunderung unseren Herrn veranlassten, so zu rufen, als er „für uns zur Sünde gemacht“ wurde (2. Kor. 5,21)? Für ein so heiliges und reines Wesen musste es eine außerordentliche Erfahrung gewesen sein, zum Sündopfer gemacht zu werden. Sünde wurde auf ihn gelegt, und er wurde behandelt, als sei er schuldig, obwohl er persönlich niemals gesündigt hatte. Nun erfüllt der abgrundtiefe Schrecken vor der Rebellion gegen den dreimal heiligen Gott seine heilige Seele. Das Unrecht der Sünde bricht ihm das Herz, und er schreckt davor zurück mit dem Ruf: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ „Warum muss ausgerechnet ich die schrecklichen Folgen eines Verhaltens ertragen, das ich so sehr verabscheue?“

Deutet sich hier nicht etwas von seiner ewigen Bestimmung an, von seiner heimlichen Quelle der Freude? Dieses „Warum“ ist wie ein Silberstreifen am dunklen Horizont, und unser Herr schaute dorthin voller Verlangen. Er wusste, dass die Verlassenheit nötig war, damit die Schuldigen gerettet werden, so heftete er seinen Blick auf diese Errettung, um selber getröstet zu werden. Er wurde nicht ohne jeden Sinn und Zweck verlassen, nicht ohne eine Absicht, die es wert war. Das Ziel der Verlassenheit war seinem Herzen so teuer, dass er das Übel auf sich nahm, obwohl es den Tod für ihn bedeutete. Er hält sich an dieses „Warum“, und durch das winzige Fenster strömt das Licht des Himmels hinein in sein verdunkeltes Leben.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? „Gewiss gab sich unser Herr mit dem „Warum“ ab, damit auch wir darauf Acht haben sollten. Er möchte, dass wir wissen, warum und wozu er litt. Er will, dass wir das gnadenreiche Motiv seines Aushaltens und Durchhaltens klar erkennen. Beschäftige dich mit den vielfältigen Leiden unseres Herrn, aber übersieh nicht die Begründung. Wenn du auch nicht immer verstehst, wie die einzelnen Phasen des Leidens Christi dem Zweck und Ziel der ganzen Passion dienten, so glaube doch fest daran, dass sie alle teil haben an dem großen „Warum“. Widme dein ganzes Leben dieser bitteren, aber segensvollen Frage: „Warum hast du mich verlassen?“ So besehen, stellt der Heiland diese Frage weniger um seiner selbst willen als vielmehr unseretwegen, weniger wegen der Verzweiflung seines Herzens, als vielmehr um der Hoffnung und Freude willen, die auf ihn warteten und die für ihn Quellen des Trostes in der Wüste des Leids waren.

Denke einen Augenblick darüber nach, dass Gott seinen Sohn, der bis zum Äußersten gehorsam war, niemals verlassen konnte, auch nicht im weitesten Sinne des Wortes. In jedem Moment des großartigen Heilswerkes war er bei ihm. Unerschöpfliche Liebe muss Gott allezeit mit dem Herrn Jesus verbunden haben. Es ist sicher wahr: Der eingeborene Sohn war dem Vater niemals lieber als in diesen Augenblicken, da er gehorsam war bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz. Doch in diesem Zusammenhang müssen wir Gott als den Richter aller Welt ansehen und den Herrn Jesus in seiner offiziellen Eigenschaft als Garant des Bundes und Opfer für die Sünden. Der große oberste Richter kann dem, der die Schuldigen vertritt, kein Lächeln schenken. Gott verabscheut die Sünde. Selbst wenn der Sohn sie trägt, um sie aus der Welt zu schaffen, bleibt doch Sünde als solche abscheulich. Der, der sie trägt, kann nicht in froher Gemeinschaft mit Gott stehen. Das war eine bittere Notwendigkeit der Versöhnung. Doch im letzten Grunde hörte die Liebe des Vaters zu seinem Sohn niemals auf, noch verminderte sie sich jemals. Ihr Fluss musste vorübergehend eingedämmt werden, aber ihre Quelle konnte für keinen Augenblick versiegen. Darum, wunderst du dich noch über die Frage: „Warum hast du mich verlassen?“

Wir kommen nun zur Antwort

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Was ist das Ergebnis dieses Leidens? Was ist sein Zweck? Unser Heiland konnte seine Frage selber beantworten. Wenn er auch, soweit er Mensch war, für einen Augenblick verwirrt war, so erfasste sein Geist die Situation doch bald darauf ganz Klar: „Es ist vollbracht! „Wie wir schon andeuteten, meinte er damit das Werk, das er in seinem einsamen Todeskampf vollendete. Warum also verließ Gott seinen Sohn? Für mich gibt es nur eine Antwort: Er hat unseren Platz eingenommen! In Christus selber gab es keinen Grund dafür, dass der Vater ihn verlassen müsste: Er war vollkommen und sein Leben war fleckenlos. Gott handelt niemals ohne Grund. Da es im Charakter und in der Person des Herrn Jesus Christus keinen Grund dafür gab, weshalb der Vater ihn verlassen sollte, müssen wir die Gründe woanders suchen. Ich weiß nicht, wie andere diese Frage beantworten. Für mich gibt es nur diese Lösung: Er trug die Sünden der Sünder, darum musste er wie ein Sünder behandelt werden, obwohl er kein Sünder war. Freiwillig litt er, als ob er selbst die Übertretungen getan hätte, deren Folgen ihm auferlegt wurden. Unsere Sünde und die Tatsache, dass Christus sie auf sich nahm, sind die Antwort auf die Frage: „Warum hast du mich verlassen?“

Wir erkennen, dass sein Gehorsam vollkommen war. Er trat in unsere Welt ein, um dem Vater zu gehorchen, und er war gehorsam bis zum Äußersten. Weiter konnte der Gehorsam nicht gehen als bei dem, der sich von Gott verlassen fühlte und dennoch sich an ihn klammerte in heiliger, unverbrüchlicher Hingabe; der vor der spottenden Menge sein Vertrauen zu dem Gott erklärte, der ihm Schmerz bereitete. Es zeugt von vornehmer Gesinnung, wenn man ruft: „Mein Gott, mein Gott!“, während einem die Frage auf den Lippen brennt: „Warum hast du mich verlassen?“ Kann der Gehorsam vollkommener sein? Ich sehe keine Möglichkeit. Der Wachsoldat vor dem Stadttor von Pompeji, der auf seinem Posten blieb, als die glühende Asche herniederfiel. war nicht treuer als der, der sich treu und unverbrüchlich an Gott hielt, der ihn verließ.

Dies Leiden unseres Herrn entsprach den Erfordernissen und war notwendig. Es hätte nicht genügt, wenn unser Herr nur körperliche Schmerzen oder auch nur geistige Anfechtungen erlitten hätte. Er musste auf diese besondere Weise leiden. Er musste sich von Gott verlassen fühlen, denn das ist die unabwendbare Folge der Sünde. Die Gottverlassenheit ist eine Strafe, die sich ganz von selber und unvermeidlich ergibt, wenn die Beziehungen zu Gott abgebrochen werden. Was ist der Tod? Was war der Tod, der Adam bedrohte? „Welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben“ (1. Mo. 2,17). Bedeutet Tod die völlige Vernichtung? Wurde Adam vernichtet, als er das Gebot, nicht von dem bestimmten Baum zu essen, übertrat? Gewiss nicht, er lebte noch viele Jahre. Und doch starb er an dem Tage, an dem er von der verbotenen Frucht aß, indem er nun von Gott getrennt wurde. Die Trennung der Seele von Gott bedeutet den geistlichen Tod, so wie die Trennung der Seele vom Körper den physischen Tod bedeutet. Das Sündopfer muss daher an die Stelle der Trennung treten und sich dem Todesurteil beugen. Stellte sich das Opfer unter die Verlassenheit und unter den Tod, so mussten alle Geschöpfe in der Welt einsehen, dass Gott keine Gemeinschaft mit der Sünde haben kann. Wenn sogar der Heilige, der als der Gerechte für die Ungerechten eintrat, die Gottverlassenheit erfuhr, was für ein Urteil musste dann die treffen, die tatsächlich Sünder waren! Sünde ist offensichtlich, immer und in jedem Fall ein trennender Faktor, der sogar Christus als den stellvertretenden Träger der Sünde in der Distanz von Gott hält.

Das Leiden war in dieser Form noch aus einem anderen Grunde notwendig. Leiden um der Sünde willen konnte nicht auferlegt werden, ohne dass das stellvertretende Opfer von Gott dem Herrn verlassen wurde. Solange Gott dem Menschen noch ein Lächeln schenkt, kann das Gesetz ihm nichts anhaben. Wer an der Stelle des Schuldigen steht, kann die Zustimmung des großen Richters nicht finden. Christus litt nicht nur infolge der Sünde, sondern auch für die Sünde. Wenn Gott ihn aufmunterte und unterstützte, litt er nicht für die Sünde. Der Richter erlegt kein Leiden für die Sünde auf, wenn er dem Geschlagenen in aller Öffentlichkeit zu Hilfe eilt. Es wäre kein stellvertretendes Leiden Christi für menschliche Schuld möglich gewesen, hätte er sich weiterhin der strahlenden Sonne der Gegenwart des Vaters erfreuen können. Als unser stellvertretendes Opfer musste er rufen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Meine Lieben, wie wunderbar hat Gott der Herr seinem Gesetz in der Person Christi Genüge getan! Hätte er, um sein Gesetz zu verherrlichen, gesagt: „Diese vielen Menschen haben mein Gesetz gebrochen, darumsollen sie zugrunde gehen“, dann wäre das Gesetz zu erschreckender Größe erhoben worden. Aber statt dessen sagte er: „Hier ist mein eingeborner Sohn, mein anderes Selbst; er nimmt das rebellische Wesen meiner Geschöpfe auf sich; er sagt Ja dazu, dass ich ihm die Last ihrer Ungerechtigkeit auferlege und mich bei der Wahrung des Rechts an ihn halte, während eigentlich die vielen, vielen Menschen bestraft werden müssten. Ich will, dass es so ist!“ Wenn Jesus sein Haupt vor dem Schlag des Gesetzes beugt, wenn er sich demütig damit einverstanden erklärt, dass der Vater sein Angesicht von ihm abwendet, dann erfasst ungezählte Welten tiefes Erstaunen über die vollkommene Heiligkeit und unbestechliche Gerechtigkeit des Gesetzgebers. Wahrscheinlich gibt es zahllose Weiten im grenzenlosen Raum der Schöpfung Gottes; sie alle werden den Tod des lieben Sohnes als eine Willenserklärung des Gottes verstehen, der es niemals erlauben wird, dass man mit der Sünde scherzt.

Wenn sein Sohn, belastet mit den Sünden anderer, vor ihn geführt wird, dann wird er sein Angesicht vor ihm so gut verbergen wie vor dem, der selber schuldig geworden ist. Gottes Liebe kennt keine Grenzen und ist überwältigend, aber sie setzt seine absolute Gerechtigkeit so wenig außer Kurs, wie die Gerechtigkeit seine Liebe außer Kraft setzt. Gott verfügt über alle Vollkommenheit in vollkommener Weise, und in Christus Jesus sehen wir sie sich widerspiegeln. Meine Lieben, das ist ein wunderbares Thema! Hätte ich doch einen Mund, der dieses Gegenstandes wert wäre! Wer aber käme jemals an diesen Schluss göttlicher Logik heran?

Wiederum, wenn wir fragen: „Warum musste Jesus die Verlassenheit vom Vater erleiden?“, erkennen wir, dass der Fürst des Heils durch Leiden vollkommen gemacht wurde. Unser Herr schritt jedes Stück des Weges selber ab. Nimm an, unser Herr Jesus wäre nicht so verlassen gewesen. Dann hätte es passieren können, dass einer der Jünger solches erleiden musste, ohne dass Jesus Mitgefühl mit ihm haben konnte. Der Jünger würde sich dann an seinen Führer und Fürsten wenden und fragen: „Mein Herr, hast du jemals eine solche Dunkelheit erfahren?“ und Jesus müsste antworten: „Nein, in solche Tiefen bin ich niemals gelangt.“ Wie würde das den Schwergeprüften treffen! Eine Not zu ertragen, die dem Herrn unbekannt ist, das ist wirklich erschütternd für den Knecht.

Dann gäbe es eine Wunde, für die die Salbe fehlt, einen Schmerz, für den es keine Linderung gibt. Gott sei Dank ist es nicht So! „Worin er gelitten hat und versucht ist, kann er helfen denen, die versucht werden “(Heb. 2,18). „Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte Mitleid haben mit unseren Schwachheiten, sondern der versucht ist allenthalben gleichwie wir“(Heb. 4,15). „Ein Hoherpriester, der da könnte mitfühlen mit denen, die da unwissend sind und irren, dieweil er auch selbst umgeben ist mit Schwachheit“ (Heb. 5,2). Darüber sind wir froh, jetzt und immer, wenn wir niedergeschlagen sind. Uns trägt die bittere Erfahrung tiefer Verlassenheit unseres Herrn.

Wir können dieses Kapitel nicht schließen, ohne auf drei Dinge aufmerksam zu machen.

1. Du und ich, die wir an den Herrn Jesus Christus glauben und von ihm unser Heil erwarten, wollen uns fest und mit unserem vollen Gewicht auf unseren Herrn stützen. Er wird die ganze Last unserer Sünde und unserer Bedürfnisse tragen. Sobald ich den Ruf Jesu Vernehme: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, höre ich die bitteren Anklagen nicht mehr. Ich weiß, dass ich Gottes Gericht und die tiefste Hölle verdient habe, aber ich fürchte mich nicht. Er wird mich niemals verlassen, denn er verließ seinen Sohn um meinetwillen. Ich werde die Folgen meiner Sünde nicht tragen müssen, denn Jesus tat es an meiner Stelle zur Genüge; ja, er litt so sehr, dass es aus ihm Herausbrach: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Hinter diesem ehernen Wall der Stellvertretung ist der Sünder sicher. Diese Felsenburg bietet allen Glaubenden Schutz. Sie dürfen in ihr sicher ruhen. Der Fels hat sich für mich geöffnet. Ich berge mich in seinen Klüften. Kein Unheil kann mich treffen. Du hast eine völlige Versöhnung, ein großartiges Opfer; vollkommen sind die Forderungen des Gesetzes erfüllt. Darum habt ihr Frieden, die ihr euer Vertrauen auf Jesus setzt.

2. Wenn wir mal unter dem Eindruck stehen sollten, dass Gott uns verlassen hat, dann lasst uns von unserem Herrn lernen, wie wir uns recht verhalten. Wenn Gott dich verlassen hat (wie du meinst), dann schließe nicht die Bibel, nein, öffne sie, wie Jesus es tat, und lass dir das Wort schenken, das dir aufhilft. Wenn dich Gott verlassen hat (wie du meinst), dann höre nicht auf zu beten, nein, bete, wie es Jesus tat, und bete ernsthafter als zuvor. Wenn du glaubst, dass Gott dich verlassen hat, dann kündige ihm dein Vertrauen nicht auf, sondern rufe, wie Jesus es tat: „Mein Gott, mein Gott!“ Tue es immer wieder! Wenn du bis dahin einen Anker auswarfst, um deinem Schi. Halt zu geben, wirf nun zwei Anker aus und verdoppele den Halt deines Glaubens. Wenn du Gott Nicht „Vater „nennen kannst, wie es Christus wünscht, so nenne ihn deinen „Gott“. Gib dem Wörtchen „Mein“ einen Halt: „Mein Gott!“ Lass nichts dich vom Glauben abhalten. Halte fest an Jesus. Setze alles auf eine Karte: Geh unter oder schwimme!

Wenn ich verlorengehe, dann soll es am Fuß des Kreuzes geschehen. Wenn ich niemals die Zeichen der Zustimmung auf dem Angesicht Gottes sehe, bin ich doch entschlossen zu glauben, dass er seinem Sohn die Treue halten und seinen Bund nicht brechen wird, der mit Eid und Blut versiegelt ist. Wer an Jesus glaubt, hat ewiges Leben; daran halte ich mich, wie die Napfschnecke an den Felsen. Es gibt nur ein einziges Tor zum Himmel. Wenn ich es nicht betreten darf, dann will ich mich wenigstens an seine Pfosten anklammern. Was sage ich? Ich werde eintreten, denn dieses Tor war noch niemals verschlossen für Menschen, die Jesus angenommen haben. Jesus sagt: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen“ (Joh. 6,37).

3. Lasst uns die Sünde verabscheuen, die solchen Schmerz über unseren geliebten Herrn brachte. Was für ein verfluchtes Ding ist die Sünde, die unseren Herrn ans Kreuz schlug! Lächelst du darüber? Machst du dir einen schönen Abend, indem du dich an einer künstlerischen Nachbildung der Passion unseres Herrn weidest? Lässt du die Sünde genießerisch auf deiner Zunge zergehen wie ein Stückchen Zucker, um dann am Sonntagmorgen ins Haus Gottes zu kommen und Gott anzubeten? Besuche nur deinen Gottesdienst! Mit Sünde in deiner Brust! Während du die Sünde liebhast und verhätschelst! Falls ich einen Bruder hätte, der einem Mord zum Opfer gefallen ist, könnte ich es über mich bringen, das Messer zu liebkosen, das noch befleckt ist mit seinem Blut? Könnte ich mich mit dem Mörder anfreunden, mich täglich anbiedern mit dem Attentäter, der den Dolch ins Herz meines Bruders stieß? Dann mache ich mich selbst zum Komplizen des Verbrechens! Sünde brachte Christus um; willst du der Sünde Freund sein? Sünde durchbohrte das Herz des menschgewordenen Gottes; kannst du sie lieben? Ach, dass sich ein Abgrund öffnete, so tief wie das Elend Christi am Kreuz, damit ich den Dolch der Sünde in Tiefen hinabschleudern könnte, aus denen ihn niemand wieder herausholen würde! Hinweg, Sünde! Du bist verbannt aus Herzen, in denen Jesus herrscht! Hinweg, denn du hast meinen Herrn ans Kreuz gebracht! Du ließest ihn rufen: „Warum hast du mich Verlassen?“ Lieber Leser, wenn du die Liebe Christi kenntest, würdest du schwören, dass du der Sünde nicht mehr Haus und Herz öffnest. Tue es! Dann bin ich zufrieden. Der Herr segne dich! Möge Christus, der für dich litt, dich segnen. Aus seiner Dunkelheit erstrahle dir das Licht. Amen.

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John Milton, englischer Dichter, 1608-1674, beschrieb in dem großartigen Versepos „Das verlorene Paradies“ den Sündenfall.
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