Spurgeon, Charles Haddon - Psalm 19
- Ein Psalm Davids, vorzusingen. - Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk. - Ein Tag sagts dem ändern, und eine Nacht tuts kund der andern. - Es ist keine Sprache noch Rede, da man nicht ihre Stimme höre. - Ihre Schnur geht aus in alle Lande und ihre Rede an der Welt Ende. Er hat der Sonne eine Hütte an ihnen gemacht; - und dieselbe geht heraus wie ein Bräutigam aus seiner Kammer und freut sich, wie ein Held zu laufen den Weg. - Sie geht auf an einem Ende des Himmels und läuft um bis wieder an sein Ende, und bleibt nichts vor ihrer Hitze verborgen. - Das Gesetz des Herrn ist vollkommen und erquickt die Seele; das Zeugnis des Herrn ist gewiss und macht die Unverständigen weise. - Die Befehle des Herrn sind richtig und erfreuen das Herz; die Gebote des Herrn sind lauter und erleuchten die Augen. - Die Furcht des Herrn ist rein und bleibt ewiglich; die Rechte des Herrn sind wahrhaftig, allesamt gerecht. - Sie sind köstlicher denn Gold und viel feines Gold; sie sind süßer denn Honig und Honigseim. - Auch wird dein Knecht durch sie erinnert; und wer sie hält, der hat großen Lohn. - Wer kann merken, wie oft er fehlet? Verzeihe mir die verborgenen Fehler! - Bewahre auch deinen Knecht vor den Stolzen, dass sie nicht über mich herrschen, so werde ich ohne Tadel sein und unschuldig bleiben großer Missetat. - Lass dir wohl gefallen die Rede meines Mundes und das Gespräch meines Herzens vor dir, Herr, mein Hort und mein Erlöser.
Inhalt
Zu welchem Zeitpunkt David dieses wunderbare Gedicht verfasst hat, lässt sich nicht feststellen. Die Überschrift lautet;
„Dem Musikmeister, ein Psalm Davids.“ David übergab dieses Lied dem Musikmeister, weil es im öffentlichen Gottesdienst gesungen werden sollte. Als David in seiner Jugend noch die Schafe seines Vaters hütete, hat er sich dem Studium der zwei großen Bücher Gottes hingegeben: dem Buch der Natur und dem Buch der Heiligen Schrift. Das waren die beiden einzigen Bände seiner Bibliothek. Er drang tief in den Geist dieser beiden Offenbarungen Gottes ein, so dass er in der Lage war, Natur und Heilige Schrift gegenüberzustellen und zu vergleichen. In beiden fand er die Herrlichkeit Gottes. Wie töricht sind Menschen, die nur darauf aus sind, Unterschiede und Widersprüche darin zu finden! Wir sollten diese beiden heiligen Werke Gottes dankbar entgegennehmen und seine göttliche Gnade in beiden erkennen. Die Spuren der Schöpfung widersprechen niemals dem Schöpfungsbericht, und das richtige Weltbild steht nicht im Widerspruch zu der Schilderung in 1. Mose 1. Nur der ist wirklich klug, der diese beiden Bände, das Buch der Welt und das Buch des Wortes, als zwei Teile ein und desselben Werkes versteht und weiß; Mein Vater hat beide geschrieben.
Einteilung
Der Psalm hat drei klar abgegrenzte Teile,
- Die Schöpfung offenbart Gottes Herrlichkeit (V. 2-7); - Das Wort offenbart Gottes Barmherzigkeit (V. 8-12); - David betet um Gnade (V. 13-15).
Auslegung
V. 2 „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes.“ Das Buch der Natur hat drei Seiten: Himmel, Erde und Meer. Die erste Seite dieses Buchs ist die herrlichste. Wenn wir sie gründlich lesen, können wir auch die anderen beiden Seiten gut verstehen. Ein Buch ohne erste Seite ist verstümmelt - besonders das große Buch der Natur. Denn die erste Seite wirft Licht auf den übrigen Teil des Werkes. Wir lesen da von Sonne, Mond und Sternen. Ohne sie könnten wir die folgenden Seiten des Buchs nicht entziffern. Der Mensch mit seinem aufrechten Gang ist offenbar dazu geschaffen, den gestirnten Himmel über sich zu erforschen. Wer im Buch der Schöpfung lesen will, muss mit den Sternen beginnen - nur dann liest er das Buch der Schöpfung richtig. Das Wort „Himmel“ steht in der Mehrzahl, um eine Vielfalt aus- zudrücken. Der Psalmist denkt an die Wolken in ihren ständig wechselnden Formen und Farben, an die Luft in Ruhe und Bewegung, in Stille und Sturm; er denkt an den Tageshimmel mit der strahlenden Sonne und an den Nachthimmel mit den funkelnden Sternen. Wie muss der Himmel aller Himmel erst aussehen, wo Gott in seiner Herrlichkeit selbst wohnt! Das kann kein menschlicher Sinn erfassen. Schon in jedem einzelnen Teil der Schöpfung steckt mehr, als wir Menschen jemals entdecken und erfassen können. Der Raum des Himmels ist besonders reich an geistlicher Bedeutung. Die beiden Zeitwörter in diesem Vers, „erzählen“ und „verkündigen“, stehen in der Partizipialform; damit will der Psalmist sagen, dass dieses Zeugnis Himmels und der Erde nie aufhört. Stets und ständig bezeugen Himmel und Erde, dass Gott lebt und sehr mächtig ist, dass er weise und gut ist. Wer Gottes Hoheit spüren möchte, blicke hinauf zu dem stemenübersäten Himmelsgewölbe. Wer seine Unendlichkeit erahnen möchte, schaue hinein in die unermesslichen Tiefen des Universums. Wer seine göttliche Weisheit erkennen möchte, denke nur an die ungeheuren Kräfte der Anziehung und Abstoßung und die riesigen Welten der Fixsterne, Spiralnebel und Sternhaufen.
Die Himmel erzählen nicht nur von Herrlichkeit, sondern von Gottes Herrlichkeit. Sie liefern uns unumstößliche Beweise für das Dasein eines Schöpfers, der mit vollkommener Intelligenz diese Welten geplant und gebaut hat, der sie beherrscht und befehligt. Jeder unvoreingenommene Mensch muss davon überzeugt werden. Dieses Zeugnis der Himmel ist nicht nur ein Hinweis, sondern ein Beweis, nicht nur eine Erklärung, sondern unmissverständliche Verkündigung. Aber was nützt ein noch so lautes Zeugnis, wenn der Mensch taub ist? Was nützt ein noch so schönes und klares Bild, wenn der Mensch blind ist? Wenn der Heilige Geist uns nicht erleuchtet, nützen uns alle Sonnen der Milchstraße nichts.
„Und die Feste verkündigt seiner Hände Werk.“ Die Weite der Welt ist voll von den wunderbaren Werken des Herrn. Er hat sie mit meisterlicher, schöpferischer Hand erschaffen. Der Psalmist spricht von den Händen des großen schöpferischen Geistes, um die Sorgfalt und Kunstfertigkeit zu beschreiben, mit der Gott die Welt geschaffen hat. David will mit diesem Bild unserer armseligen Vorstellungskraft entgegenkommen. Es ist demütigend, dass selbst die geistlichsten Menschen Worte und Bilder dieser irdischen Welt benutzen müssen, um ihren höchsten Gedanken über Gott Ausdruck geben zu können. Wir sind Kinder und müssen bekennen: „Ich denke wie ein Kind und rede wie ein Kind.“ Am Himmel droben lässt Gott sein Sternenbanner fliegen, um uns zu zeigen, dass der König in seinem Palast ist. Er hängt sein Wappenschild aus, um die Gottesleugner zu- schanden zu machen. Wer zum Stemenhimmel aufschaut und dann noch bekennt, Atheist zu sein, brandmarkt sich selbst als Dummkopf und Lügner.
Eigenartig ist es, dass manche Gotteskinder eine gewisse Angst davor haben, das Buch der Natur zu erforschen. Es gibt leider auch ein geistliches Muckertum - Gläubige, die schon zu himmlisch sind, um die Himmel zu betrachten. Das unterstützt nur die Behauptung der Gottlosen, dass Natur und Offenbarung sich widersprechen. Wir können aber getrost die Spuren des Herrn in der Schöpfung verfolgen, ebenso wie im Werk der Gnade. Das ehrliche Erforschen der Natur kann unseren Glauben an das Wort nicht erschüttern. Dr. McCosh sagt: „Die Bemühungen, Gottes Werk gegen sein Wort auszuspielen, machen uns recht traurig. Dadurch entstehen dauernde Streitereien, die Gemeindegruppen auseinandergerissen haben, die in Eintracht und Gemeinschaft zusammenleben sollten. Besonders bedauern wir, dass immer wieder versucht wird, die Natur gegenüber der Offenbarung abzuwerten. Wissenschaft und Glauben fallen nicht auseinander und bekämpfen sich auch nicht wie zwei feindliche Brüder. Sie haben beide viel zu viel gemeinsame Feinde, um sich einen Kampf untereinander leisten zu können. Da ist Unwissenheit und Vorurteil, Leidenschaft und Laster. Wissenschaft und Glaube können ihre Kräfte nicht in einem nutzlosen Kampf gegeneinander verschwenden. Die Wissenschaft hat eine Grundlage und der Glaube auch. Wenn beide sich vereinigen, wird die Basis breiter, und beide Teile bauen sich zu einem einzigen, mächtigen Bau zur Ehre Gottes.“
V. 3 „Ein Tag sagts dem ändern, und eine Nacht tuts kund der ändern.“ Jeder Tag nimmt die Erzählung da wieder auf, wo der Tag vorher geendet hatte, und jede Nacht überliefert sie der folgenden Nacht. Im Grundtext steckt das Bild von einer übersprudelnden Quelle. Tag und Nacht sprudeln über vom Lobpreis des Herrn. Trinken wir doch von dieser Quelle, damit wir auch lernen, die Herrlichkeit Gottes zu besingen! Die Zeugen Gottes am Firmament kann niemand mundtot machen. Von ihren hohen Kanzeln predigen sie ständig den lebendigen Gott - unberührt und unbewegt von den vielen Meinungen der Menschen. Selbst der Wechsel von Tag und Nacht hat eine stumme Beredsamkeit, und Licht und Schatten offenbaren gleicherweise den Unsichtbaren. In den wechselnden Geschicken unseres Lebens wollen wir das auch tun. Wir loben Gott, der uns helle Freudentage schenkt, und wir loben ihn, der „Lobgesänge gibt in der Nacht“ (Hiob 35,10).
Tag und Nacht lehren uns viele Dinge. Es ist gut, wenn wir diese Lehren beherzigen. Wie die Zeit schnell dahinfliegt, wie wechselvoll das Wesen aller irdischen Dinge ist, wie kurz Freude und Leid ist, wie machtlos wir Menschen sind, vergangene Stunden zurückzuholen, und wie die Ewigkeit unausweichlich näher kommt. Der Tag ruft uns zur Arbeit, und die Nacht erinnert uns daran, dass wir uns auf die letzte Ruhestätte vorbereiten müssen. Der Tag mahnt uns, für Gott zu wirken, und die Nacht ladet uns ein, in ihm zu ruhen. Der Tag lässt uns voraussehen auf jenen Tag, der kein Ende hat, und die Nacht predigt uns, der Nacht zu entrinnen, die auch kein Ende hat.
V. 4 „Es ist keine Sprache noch Rede, da man nicht ihre Stimme höre.“ Jeder Mensch kann die Stimmen der Sterne vernehmen. Auf der Erde gibt es viele Sprachen; das Universum kennt nur eine Sprache, und die kann jeder verstehen, der sie verstehen will. Niemand hat eine Entschuldigung, denn Gottes unsichtbares Wesen wird an den Werken der Schöpfung wahrgenommen (Römer 1,20). Sonne, Mond und Sterne sind Gottes Prediger. Sie sind wandernde Apostel, die die Herzen der Menschen stärken, die auf Gott achten; gleichzeitig sind sie Richter, die alle Götzenanbeter aburteilen.
V. 5 „Ihre Schnur geht aus in alle Lande und ihre Rede an der Welt Ende.“ Obwohl die Himmelskörper in feierlichem Schweigen ihre Bahnen ziehen, sprechen sie doch eine beredte Sprache, die alle verständigen Menschen hören. Diese Sprache der Natur gleicht der Zeichensprache der Taubstummen; die Sprache der Gnade aber erzählt klar und offen vom Vater. Mit der Meßschnur ist wahrscheinlich die Abmessung des Gebietes gemeint, wo man das zeichenhafte Zeugnis des Himmels sehen kann: die ganze Erde. Unter dem gewaltigen Himmelsgewölbe wohnt kein einziger Mensch außerhalb der Reichweite dieser Prediger Gottes. Dem Licht der Boten Gottes, die sein Evangelium verkündigen, kann man sich leicht entziehen. Aber dann finden solche Menschen in den Lichtem der Sterne einen Natan, der sie anklagt, einen Jona, der sie warnt, und einen Elia, der sie straft. Für den gläubigen Menschen haben die Sterne aber eine andere, tiefere und schönere Sprache: die Sprache des lebendigen Gottes, der Vater sein will, zu dem man sich hingezogen fühlt und wo man geborgen sein kann.
„Er hat der Sonne eine Hütte an ihnen gemacht.“ (Elberfelder Übersetzung: „Er hat der Sonne in ihnen ein Zelt gesetzt.“) Mitten am Himmel hat die Sonne ihren beherrschenden Platz. Sie wandert ihren Weg wie ein mächtiger Herrscher. Sie hat keinen festen Wohnsitz, sondern wandert wie ein Wanderer, der sein Zelt aufbaut und wieder abbricht. Dieses Zelt wird bald für immer abgerissen und wie ein Buch zusammengerollt werden (Offenbarung 6,14). Wie das königliche Zelt im Mittelpunkt eines Heerlagers stand, so erscheint die Sonne wie ein König zwischen allen Sternen.
V. 6 „Und dieselbe geht heraus wie ein Bräutigam aus seiner Kammer.“ Festlich gekleidet erscheint der Bräutigam am Hochzeitstag. Sein Gesicht leuchtet vor Freude, und diese Freude geht auf alle Hochzeitsgäste über. Das ist ein Bild für die Sonne, wenn sie aufgeht. „Und freut sich, wie ein Held zu laufen den Weg.“ Wie ein Wettläufer sich mit aller Kraft dem Wettlauf hingibt, so läuft die Sonne mit regelmäßiger Genauigkeit und unermüdlicher Schnelligkeit auf ihrer vorgeschriebenen Bahn. Sie kennt kein Ermüden, sie wird nicht schwach und bleibt nicht vor Erschöpfung stehen. Nichts gibt der Erde so viel Freude wie ihr Bräutigam, die Sonne. Niemand kann es mit der Sonne an Schnelligkeit und Ausdauer aufnehmen. Aber die Herrlichkeit der Sonne ist nur ein geringer Abglanz der Herrlichkeit Gottes. Auch die Sonne hat ihr Licht von dem Vater des Lichtes selbst.
V. 7 „Sie geht auf an einem Ende des Himmels und läuft um bis wieder an sein Ende.“ Die Sonne leuchtet mit ihrem Licht bis an die Grenzen des Sonnensystems. Alle, die in ihrem Bereich wohnen, haben teil an ihrem Licht. „Und bleibt nichts vor ihrer Hitze verborgen.“ Überall macht sich die Hitze der Sonne bemerkbar. In den Tiefen der Erde findet sich gespeicherte Sonnenenergie in Form von allerlei Ablagerungen. Und wo das Licht der Sonne nicht hinkommt, findet immer noch die Wärme einen Weg. Zweifellos beabsichtigt der Dichter, zwischen dem Himmel der Natur und dem Himmel der Gnade einen Vergleich zu ziehen. Der Weg der Gnade Gottes ist erhaben, weltumspannend, und erfüllt mit seiner Herrlichkeit. Wir dürfen seine Gnade tief in uns aufnehmen. Nicht nur die Lichtseiten, sondern auch die Schattenseiten der Gnade haben Bedeutung. Fast allen Völkern ist die Gnade Gottes bereits verkündigt worden und wird zu gegebener Zeit die entferntesten Gegenden der Erde durchdringen, bis jeder Mensch die Botschaft der Gnade vernommen hat. Jesus Christus ist der Mittelpunkt der ganzen Offenbarung. Er wohnte in seiner Herrlichkeit unter uns Menschen. Er ist der Bräutigam seiner Gemeinde und der Held in der Welt. Die Spuren seiner Gnade durchziehen die ganze Welt. Keinem suchenden Menschen versagt Jesus seine Liebe und seinen Segen, wie verlassen und verloren er auch ist. Sogar der Tod wird die Macht seiner Gegenwart zu spüren bekommen und muss die Leiber der Heiligen wieder hergeben. Die gefallene Erde wird zu ihrer ursprünglichen Herrlichkeit wiederhergestellt werden.
In den folgenden drei Versen haben wir eine kurze, aber sehr lehrreiche Hexapla. (Hexapla heißt „Die Sechsfache“ und ist eine Anspielung auf das große Bibelwerk von Origines, der in sechs Reihen verschiedene Bibelübersetzungen nebeneinander stellte.) Mit sechs verschiedenen Ausdrücken wird das Wort Gottes beschrieben, sechs charakteristische Eigenschaften und sechs Wirkungen des Wortes werden genannt. Eindrucksvoll wird auf diese Weise Wesen und Wirkung des Wortes Gottes dargestellt.
V. 8 „Das Gesetz des Herrn ist vollkommen.“ David meint hier nicht nur das mosaische Gesetz, sondern die ganze Heilige Schrift. Wie vollkommen ist dieses Buch, das uns die göttliche Liebe offenbart und uns freien Einblick in die erlösende Gnade gewährt! Das Evangelium ist eine vollständige Lehre und Lebensordnung des Heils. Es bietet dem Sünder alles, was er braucht. Nichts ist überflüssig, und nichts fehlt in diesem Wort und Heilsplan Gottes. Warum versuchen manche, diese Blume noch zu bemalen und dieses Gold noch zu vergolden? Das Evangelium ist in jeder Hinsicht vollkommen und bedarf keiner Aufbesserung! Es ist frevelhaft, etwas hinzuzufügen, es ist betrügerisch, etwas zu ändern, und es ist verbrecherisch, etwas wegzunehmen. „Und erquickt die Seele.“ (Nach der englischen Übersetzung: „Und bekehrt die Seele.“) Der Mensch wird wieder an den Ort zurückgebracht, wo die Sünde ihn hinausgeworfen hatte. Die praktische Wirkung des Wortes Gottes besteht darin, den Menschen wieder zu sich selbst, zu Gott und zur Heiligkeit zurückzuführen. Diese Wendung oder Bekehrung geschieht nicht nur äußerlich, sondern hauptsächlich innerlich: Die Seele wird erneuert. Das Wort ist das Mittel, das Gott benutzt, um den Sünder zu bekehren. Je mehr wir uns in unserem Dienst an das Wort Gottes halten, desto mehr wird es uns gelingen, die Herzen zu bewegen. Nicht Menschenwort, sondern Gottes Wort hat Macht über die Herzen. Das Gesetz treibt, das Evangelium zieht - die Art des Wirkens ist verschieden, aber die Wirkung ist dieselbe. Unter dem Einfluss des Heiligen Geistes ruft der Mensch: „Bekehre mich du, so werde ich bekehrt!“ (Jeremia 31,18.) Mit Philosophie und Logik erreicht man nichts. Darüber lacht der Mensch. Aber das Wort Gottes hat die Kraft, Herzen zu verwandeln.
„Das Zeugnis des Herrn ist gewiss.“ Das Wort offenbart die Sünde des Menschen und die Gerechtigkeit Gottes. Es bezeugt Fall und Wiederherstellung des Menschen. Dieses Zeugnis ist einfach, klar und unfehlbar. Was Gott in seinem Wort sagt, ist so sicher, dass wir daraus vollkommenen Trost holen können für Zeit und Ewigkeit; so sicher, dass kein heimtückischer und gewaltsamer Angriff dieses Wort in seiner Kraft zerstören kann. Welch ein Segen, dass wir in dieser Welt der Ungewissheiten eine Gewissheit haben! Darauf können wir uns restlos verlassen. Wir bleiben nicht auf dem Flugsand menschlicher Spekulationen stehen, sondern stellen uns auf den Felsengrund der göttlichen Offenbarung. „Und macht die Unverständigen weise.“ Demütige, aufrichtige, aufnahmebereite Menschen empfangen das Wort. Sie werden dadurch unterwiesen zur Seligkeit (2. Tim. 3,15). Dinge, die den Weisen und Klugen verborgen sind, werden den Unmündigen offenbart (Matthäus 11,25). Wer sich belehren lässt, wird weise, wer unbelehrbar ist, bleibt ein Tor. Das Wort Gottes bekehrt und lehrt. Es genügt nicht, ein bekehrter Mensch zu sein; man muss auch ein gelehriger Jünger sein. Wenn wir die Kraft der Wahrheit gespürt haben, sollen wir sie auch in der Erfahrung erproben. Durch die Vollkommenheit des Wortes werden Menschen bekehrt, und durch die Zuverlässigkeit des Wortes werden sie erbaut. Wir dürfen nicht durch Unglauben an den Verheißungen Gottes zweifeln. Ein Evangelium, dem wir nicht vertrauen, kann uns nicht weise machen; aber eine Wahrheit, auf die wir uns restlos verlassen, macht uns stark.
V. 9 „Die Befehle des Herrn sind richtig.“ Gottes Anordnungen gründen sich auf Gerechtigkeit. Für den richtigen Menschen- verstand sind sie richtig. Wie ein Arzt die richtige Medizin verschreibt und ein Rechtsanwalt den richtigen Rat erteilt, so zeigt das Wort Gottes dem Menschen den richtigen Weg. „Und erfreuen das Herz.“ Beachte die Steigerung: Der Mensch wird bekehrt; dann wird ihm Weisheit geschenkt, und nun wird er mit Freude erfüllt. Die Wahrheit, die das Herz erneuert, gibt auch Freude in das erneuerte Herz. Freie Gnade schafft fröhliche Menschen. Irdische Fröhlichkeit belebt nur Herz und Mund; himmlische Freude aber erfüllt Seele und Geist. „Die Gebote des Herrn sind lauter.“ Keine Beimischung von Irrtum trübt sie, kein Makel der Sünde befleckt sie. Die Gebote des Herrn sind wie lautere Milch und echter Wein. „Und erleuchten die Augen.“ Die Klarheit des Wortes beseitigt die menschlich-irdische Schwerfälligkeit, die unsere Unterscheidungskraft überlagert und lahmt. Ob unser Auge trüb geworden ist vor Kummer oder die Sünde unseren Blick verschleiert hat - immer ist das Wort Gottes ein geschickter Augenarzt. Es macht das Auge klar und hell. Schau in die Sonne: sie blendet dich. Schau in die Offenbarung, die unvergleichlich heller strahlt als die Sonne: sie erleuchtet dich. Die blendende Helligkeit des Schnees in den Alpen macht den Wanderer schneeblind; die lautere Reinheit des göttlichen Wortes dagegen heilt die natürliche Blindheit der Seele. Auch hier muss man wieder auf die Steigerung achten: Der Bekehrte wurde zum Jünger und bekam ein fröhliches Herz; nun wird ihm ein klares Auge geschenkt. Er besitzt jetzt geistliche Unterscheidungsfähigkeit. „Der geistliche Mensch aber ergründet alles und wird doch selber von niemand ergründet“ (1. Korinther 2,15).
V. 10 „Die Furcht des Herrn ist rein.“ Die göttliche Wahrheit wird hier in ihrer geistlichen, innerlichen Wirkung beschrieben. Das ist die Furcht des Herrn. Sie ist rein in sich selbst und reinigt uns von der Liebe zur Sünde. Das Herz, in dem die Furcht des Herrn regiert, wird geheiligt. Gottesfurcht ruht nicht, bis sie jede Ecke und jedes Winkelchen des Herzens von allen teuflischen Mächten gereinigt hat! „Und bleibt ewiglich.“ Schmutz wirkt Fäulnis und Verfall, Sauberkeit ist der große Feind des Verderbens. Die Gnade Gottes ist im Herzen ein reines Element und deshalb auch unvergänglich und unzerstörbar. Der geoffenbarte Wille Gottes ist unveränderlich. Jesus ist nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen (Matthäus 5,17). Selbst die Zeremonialgesetze sind nur ihrer äußerlichen Form nach aufgehoben worden, während Wesen und Bedeutung dieser Gesetze ewig bestehen bleiben. Wenn irdische Regierungen stürzen und uralte Verfassungsrechte aufgelöst werden, trösten wir uns in der Gewissheit, dass Gottes Thron und Gesetz unerschütterlich feststeht. „Die Rechte des Herrn sind wahrhaftig, allesamt gerecht.“ Sowohl im einzelnen als auch im ganzen sind die Worte des Herrn wahr. Was im Detail gut ist, ist im Zusammenhang ausgezeichnet. Es gibt beim Worte Gottes in dieser Beziehung keine Ausnahme, weder für den einzelnen Satz noch für das ganze Buch. Alle Rechte des Herrn sind vortrefflich und benötigen keine mühsam aufgestellten Rechtfertigungen. Die Rechtsentscheidungen des Herrn, wie sie im Gesetz niedergelegt sind und in der Geschichte rechtskräftig wurden, sind absolute Wahrheit und werden so auch von jedem wahrhaftigen Menschen aufgefasst. Nicht nur ihre Macht ist unüberwindlich, sondern auch ihre Gerechtigkeit ist unantastbar.
V. 11 „Sie sind köstlicher denn Gold und viel feines Gold.“ Biblische Wahrheit bereichert das Herz am meisten. Man beachte, wie das Bild vom Gold gesteigert wird, um den Vergleich kräftig herauszubringen: „Gold - feines Gold - viel feines Gold.“ Gold ist nicht nur gut, sondern sehr gut und sogar das Beste. Wie jagen die Menschen nach Gold! Weil ein geistlicher Schatz viel mehr wert ist als materieller Reichtum, sollte man ihn mit aller Kraft des Herzens suchen - so intensiv, wie ein Geizhals habgierig nach Gold trachtet. Die Menschen halten viel von echtem Gold; aber was ist echter als die Wahrheit? Aus Liebe zum Gold geben viele ihre Vergnügungen, Bequemlichkeiten und Sicherheiten auf. Sollten wir nicht mindestens ebensoviel für die Wahrheit tun? „Sie sind süßer denn Honig und Honigseim.“ Wer die Zeugnisse Gottes recht in sich aufnimmt, kennt einen höchsten Genuss. Dagegen sind alle irdischen Genüsse nichts.
V. 12 „Auch wird dein Knecht durch sie erinnert.“ Das Wort Gottes erinnert uns an unsere Pflichten, warnt uns vor Gefahren und weist uns hin auf die Quelle unserer Kraft. Auf dem Ozean des Lebens würde es noch viel mehr Schiffbrüchige geben, wenn Gottes Sturmsignale nicht wären. Aber nur die Wachsamen hören sie rechtzeitig. Die Bibel ist unser Ratgeber, Lehrer, Erinnerer und der Hüter unseres Gewissens. Es ist traurig, dass nur so wenige die freundlichen Warnungen des Herrn beachten. Das sind die wahren Knechte Gottes, die nach dem Willen ihres Meisters fragen. Aber sie finden auch eine große Belohnung: „Und wer sie hält, der hat großen Lohn.“ Es gibt einen Lohn, und zwar einen großen Lohn. Allerdings hat es den Anschein, als wären die Heiligen die Verlierer. Aber am Ende sind sie doch die Gewinner. Übrigens ist schon jetzt ein ruhiges Gewissen kein geringer Lohn für den Gehorsam. Der volle Lohn wird erst später ausgezahlt. Welche Herrlichkeit wird einmal an uns offenbart werden! Wir warten mit Sehnsucht darauf. „Denn unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit“ (2. Korinther 4,17).
V. 13 „Wer kann merken, wie oft er fehlet?“ Das ist eine Frage, die zugleich Antwort ist. Eigentlich müsste statt des Fragezeichens ein Ausrufezeichen stehen. Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde (Römer 3,20), und im Licht der göttlichen Wahrheit erkennt der Psalmist, wieviel er sündigt. Der kennt sich selbst am besten, der das Wort Gottes am besten kennt. Aber selbst dann staunt man mehr darüber, was man nicht weiß, als dass man sich beglückwünschen könnte für das, was man weiß. Das Irren des Menschen ist keine Komödie, wie man es manchmal humoristisch darstellen will, sondern eine Tragödie. Manche Bücher haben am Schluss einen kurzen Hinweis auf Druckfehler. Die Druckfehler unseres Lebens sind so zahlreich, dass kein kurzer Hinweis mehr genügen würde: Das ganze Buch unseres Lebens ist falsch gedruckt. Man muss nur scharf genug hinsehen. Der Kirchenvater Augustinus schrieb in seinen letzten Lebensjahren zwei Bücher, die er „Retractiones“ nannte. Darin berichtigte und verbesserte er alles, was er früher geschrieben hatte. Die Berichtigungen und Verbesserungen unseres Lebens würden wahrscheinlich nicht nur zwei Bücher, sondern eine ganze Bücherei ausfüllen. „Verzeihe mir die verborgenen Fehle!“ Du kannst Fehler in mir entdecken, die mir selbst verborgen sind. Für mich ist es ein aussichtsloses Bemühen, alle Flecken zu entdecken. Herr, wasche mich deshalb in dem Blut der Versöhnung von allen Sünden, die mein Gewissen nicht entdecken konnte. Verborgene Sünden sind wie geheime Verschwörer; sie müssen aufgespürt werden, weil sie sonst tödliches Unheil anrichten können. Es ist gut, gerade dafür zu beten. Auf einem Lateran-Konzil der Kirche im Jahre 1215 wurde die Vorschrift erlassen, dass jeder Gläubige einmal im Jahr alle seine Sünden einem Priester bekennen muss. Dann wurde noch die Erklärung hinzugefügt, dass nur der auf Vergebung der Sünden hoffen kann, der sich an diese Vorschrift hält. Gibt es etwas Unsinnigeres als solchen Erlass? Kann man denn seine Sünden zählen, wie man seine Finger zählt? Wenn wir dadurch Vergebung erlangen könnten, dass wir in einer Stunde alle unsere Sünden aufzählten - dann käme keiner von uns in den Himmel. Denn außer den Sünden, die uns bekannt sind und die wir bekennen können, gibt es unzählige andere, die wir nicht kennen, weil sie uns nicht bewusst sind. Wenn wir uns selbst mit den Augen Gottes sehen könnten, würden wir anders über uns selbst denken. Die Übertretungen, die uns bewusst sind und die wir bekennen können, gleichen den wenigen Getreideproben, die ein Bauer auf den Markt mitnimmt, während er zu Hause die ganze Scheune voll hat. Es gibt nur wenig Sünden, die wir selbst an uns entdecken. Die meisten sehen wir gar nicht - auch unsere Mitmenschen sehen sie nicht.
V. 14 „Bewahre auch deinen Knecht vor den Stolzen, dass sie nicht über mich herrschen.“ (Nach der englischen Übersetzung: „Halte deinen Knecht zurück vor anmaßenden Sünden.“) Dieses ernste und demütige Gebet zeigt uns, dass selbst Knechte Gottes in die schlimmsten Sünden fallen können, wenn sie nicht durch die Kraft der Gnade bewahrt werden. Wir müssen wachen und beten, um in der Anfechtung nicht umzufallen. In jedem Menschen steckt eine natürliche Neigung zur Sünde. Wir müssen zurückgehalten werden, wie ein Pferd durchs Geschirr im Zaum gehalten wird, damit wir nicht einfach in die Sünde hineinrennen.
Sünden des Hochmuts sind besonders gefährlich. Alle Sünden wiegen schwer, aber es gibt auch besonders schwere Sünden. Jede Sünde hat das Gift der Empörung gegen Gott in sich und ist im innersten Wesen verräterischer Aufruhr gegen Gott. Aber es gibt Sünden, in denen die Empörung gegen Gott weiter fortgeschritten ist, die die Lästerung Gottes unverhüllt zeigen. Es stimmt nicht, dass eine Sünde nicht schlimmer als die andere ist, weil schließlich jede Sünde in die Verdammnis führt. Es gibt Übertretungen, wo die schwarzen Schatten schwärzer sind und das Schwere schwerer wiegt. Die Sünden des Hochmuts sind die größten und schlimmsten. Im jüdischen Gesetz gab es schon die Versöhnung für alle Sünden, mit einer Ausnahme: „Wenn aber eine Seele aus Frevel etwas tut, es sei ein Einheimischer oder Fremdling, der hat den Herrn geschmäht. Solche Seele soll ausgerottet werden aus ihrem Volk“ (4. Mose 15,30). Durch das Opfer Jesu Christi werden uns heute auch vorsätzliche und hochmütige Sünden vergeben. Aber zweifellos empfangen alle, die mit diesen Sünden sterben, ein besonders schweres Strafgericht Gottes. Deshalb ist David so besorgt. Er möchte nie unter die beherrschende Gewalt dieser schweren Sünden kommen. „So werde ich ohne Tadel sein, und unschuldig bleiben großer Missetat.“ David schaudert bei dem bloßen Gedanken an die unvergebbare Sünde. Geheime Sünden sind eine Vorstufe zu vermessenen Sünden, und vermessene Sünden sind eine Vorstufe zu der Sünde, die zum Tode führt. Wer sich vor Sünden hütet, ist auf dem guten Weg der Unsträflichkeit, soweit ein armer, sündiger Mensch unsträflich sein kann; wer aber den Teufel reizt, braucht sich nicht wundem, dass er vom Teufel gereizt wird und einen Weg beschreitet, der immer tiefer ins Verderben führt.
V. 15 „Lass dir wohl gefallen die Rede meines Mundes und das Gespräch meines Herzens vor dir, Herr, mein Hort und mein Erlöser.“ Das ist ein tiefes, geistliches Gebet und hat schon im Leben vieler Gläubiger große Bedeutung gewonnen. Die Rede des Mundes ist Heuchelei, wenn das Herz nicht beteiligt ist. Die Schale ist nichts ohne den Kern. Aber beides zusammen ist ebenso wertlos, wenn es nicht angenommen wird. Selbst wenn Menschen es wohlgefällig aufnehmen, ist es doch eitel, wenn Gott es nicht mit Wohlgefallen annimmt. Wenn wir beten, wenden wir uns an den Herrn, der unsere Kraft ist, und an den Heiland, der uns errettet. Wir dürfen und sollen beten: „Herr, mein Hort und mein Erlöser.“ Wir müssen diese ganz persönliche Beziehung zu ihm haben, sonst werden unsere Gebete nicht erhört. Mit dem Wort „Erlöser“ schließt der Psalm. Er begann mit dem Himmel und endet mit dem, dessen Herrlichkeit Himmel und Erde erfüllt.