Spurgeon, Charles Haddon - Psalm 130

Spurgeon, Charles Haddon - Psalm 130

Ein Stufenlied. - Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. - Herr, höre meine Stimme, lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens! - So du willst, Herr, Sünden zurechnen, Herr, wer wird bestehen? - Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte. - Ich harre des Herrn; meine Seele harrt, und ich hoffe auf sein Wort. - Meine Seele wartet auf den Herrn von einer Morgenwache bis zur andern. - Israel, hoffe auf den Herrn! denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm, - und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden.

Allgemeines

1. Überschrift

Ein Stufenlied. Der Psalm erhebt sich aus den Tiefen der Not zu den Höhen der Erlösung. Wir nennen diesen Psalm auch „De Profundis„: „Aus den Tiefen“. Aus solchen Tiefen heraus rufen, hoffen und warten wir! Schließlich hören wir auch von der Erlösung: Vielleicht hätte der Sänger diese Erlösung nie gefunden, wenn er vorher nicht in solche Tiefen geworfen worden wäre!

2. Einteilung

Das starke Verlangen des Herzens (V. 1-2); demütiges Bekenntnis in Buße und Glauben (V. 3-4); der Entschluss zum wachenden Warten (V. 5-6); die freudige Erwartung (V. 7-8).

Auslegung

1. Das starke Verlangen des Herzens (Vers 1-2).

V. 1 „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir„ Der Psalmist hörte niemals auf zu beten, auch wenn er in die tiefste Tiefe hinabgestoßen wurde. Diese Tiefe bringt gewöhnlich alles, was sie verschlingt, zum Schweigen; aber dem Knecht des Herrn konnte sie den Mund nicht schließen. Gerade dort in den Fluten des Leides lebte sein Gebet, und die Stimme seines Glaubens erhob sich über die Wogen. Es ist gleichgültig, wo wir sind, wenn wir nur beten können. Das Gebet ist nirgends echter als da, wo in der schlimmsten Lage gebetet wird. In der Tiefe entsteht tiefe Andacht. Tiefen der Trübsal erzeugen tiefen Ernst. Das Gebet „de profundis“ gibt Gott „gloria in excelsis„! Je größer unsere Not ist, desto stärker ist der Glaube, der tapfer dem Herrn vertraut. In der Not wendet sich der Glaube an Gott, und an Gott allein. Auch Gläubige können in Tiefen der Not geraten; aber gerade dann schauen sie auf ihren Gott und beten intensiver und ernster als zu anderen Zeiten. David ist schon oft in solchen Tiefen gewesen, und immer hat er zu Jehova, seinem Gott, gebetet. Er wusste, dass auch die Tiefen in Gottes Hand sind Í Er betete; er erinnerte sich daran, dass er gebetet hatte; und er betete weiter, dass Gott ihn doch bald erhören möchte. Es wäre traurig, wenn wir im Rückblick auf vergangene Not eingestehen müssten, dass wir nicht zum Herrn gegangen sind. Aber es ist sehr tröstlich, wenn wir daran denken können, dass wir in der Not, selbst wenn es uns am schlimmsten erging, herzlich zu Gott gebetet haben, obgleich wir vieles andere nicht getan haben oder nicht tun konnten. Wer aus den Tiefen zu Gott schreit, wird bald auf den Höhen singen!

V. 2 „Herr, höre meine Stimme.“ Das ist alles, was wir bitten; aber mit nichts weniger geben wir uns zufrieden! Wenn nur der Herr uns hört, so wollen wir getrost seiner Weisheit überlassen, ob er uns antworten will oder nicht. Es ist wichtiger, dass er uns hört, als dass er uns antwortet. Wenn der Herr uns eine absolute Verheißung gegeben hätte, alle unsere Bitten zu erfüllen, wäre das eher ein Fluch für uns als ein Segen. Denn wir würden damit die Verantwortung für unser Leben ganz allein auf uns selbst nehmen, und das wäre eine ungemein schwierige Situation für uns! Nun aber hört der Herr unser Gebet, und das ist genug. Wir wollen, dass er nur dann unsere Bitten erfüllt, wenn es für uns und zu seiner Ehre gut ist. Es ist hier auch zu beachten, dass der Psalmist laut betete; laut zu beten, ist zwar nicht notwendig, aber sehr hilfreich. Die Stimme unterstützt die Gedanken. Doch hat auch unser stilles Gebet eine Stimme, unser Weinen und das Leid, das man nicht aussprechen kann. Auch das wird der Herr hören, wenn es an ihn gerichtet ist! „Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens!„ Der Schrei des Psalmisten ist die Stimme eines Bettlers. Er bettelt den großen König an, ihm doch Gehör zu schenken. Er hat doch so oft gefleht. Und nun bettelt er darum, in seiner Sache erhört zu werden. Er wünscht, dass der König zuhört, die Sache bedenkt, sich daran erinnert und seine Bitte berücksichtigt. Der Beter ist verwirrt, und seine Bitte ist vielleicht nur noch ein Stoßseufzer, kaum zu verstehen. Desto ernster und mitfühlender möge der Herr zuhören, um diese Stimme der vielen Leiden zu verstehen! Wenn wir keine Worte mehr finden können für unser Leid, wollen wir den Herrn anflehen, die Bitten doch zu hören, die wir bereits geäußert haben. Wenn wir treu gewesen sind in unserem Beten und ständig gebetet haben, wird Gott auch seine Verheißung erfüllen und uns ganz bestimmt helfen. Der Psalmist betete im Glauben, obwohl er unter seiner Sünde litt und in den Tiefen war. Er betete trotz seiner ganzen Unwürdigkeit. Denn er wusste sehr gut, dass Gottes Treue auf seinem eigenen Wesen beruht und nicht abhängig ist von seinen irrenden Geschöpfen.

2. Demütiges Bekenntnis in Buße und Glauben (Vers 3-4).

V. 3 „So du willst, Herr, Sünden zurechnen, Herr, wer wird bestehen?“ Wo würden wir bleiben, wenn der Allwissende uns in strenger Gerechtigkeit für jede Übertretung zur Verantwortung ziehen würde? Gewiss führt er Buch über alle unsere Sünden. Aber er legt seine Aufzeichnungen bis zu einem bestimmten Tag beiseite. Wenn die Menschen nur auf Grund ihrer Werke gerichtet würden, wer könnte dann darauf hoffen, unschuldig dazustehen? Wer würde von Gott angenommen werden? Dieser Vers zeigt, dass der Psalmist um seine Sünde wusste; er spürte die Notwendigkeit, Gott nicht nur als Beter anzuflehen, sondern sich vor ihm auch als Sünder zu bekennen. Er gestand ein, dass seine eigene Gerechtigkeit vor dem großen König nicht ausreicht. Niemand kann vor dem heiligen Richter und seinem Gesetz bestehen. Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer. Der Herr wird alle Gedanken, Worte und Taten richten, die mit seinem Gesetz nicht genau übereinstimmen. Gäbe es Hoffnung, wenn der Herr Jesus Christus nicht da wäre? Wagen wir es etwa, auf Grund des Gesetzes Gott gegenüberzutreten? Der folgende Vers zeigt nun den Weg, zu dem wir Zuflucht nehmen können:

V. 4 „Aber bei dir ist die Vergebung.„ Herrliches „Aber“! Freie und souveräne Gnade von der Hand des großen Königs! Es ist für Gott eine große Freude, Vergebung zu üben. Sein Wesen ist Barmherzigkeit, und deshalb hat er ein Opfer für Sünden bereitet. So kann er allen Vergebung schenken, die zu ihm kommen und ihre Sünden bekennen. Diese Vollmacht zur Vergebung hat Gott jederzeit. Er kann immer und sofort Vergebung schenken. „Dass man sich fürchte.„ Da ist die tiefe Wurzel aller wahren Frömmigkeit. Keiner fürchtet den Herrn mehr als der, der die vergebende Liebe Gottes erfahren hat. Die Dankbarkeit für die Vergebung erzeugt viel mehr Gottesfurcht und Ehrerbietung als der ganze Schrecken des kommenden Gerichts. Würde der Herr seine Gerechtigkeit über alle Menschen ausüben, würde ihn keiner mehr fürchten; Verzweiflung müsste uns ja ergreifen, wenn wir nur um seinen Zorn wüssten. Aber gerade die Gnade füllt uns mit heiliger Ehrerbietung und unser Herz mit Furcht, Gott zu betrüben!

3. Der Entschluss zum wachenden Warten (Vers 5-6).

V. 5 „Ich harre des Herrn; meine Seele harrt.“ Ich warte still auf sein Erscheinen; ich warte darauf, dass er in Liebe zu mir kommt; ich warte auf ihn mit Dienen, ich warte auf ihn mit Glauben. Auf Gott warte ich, und auf ihn allein. Wenn er sich offenbart, gibt es nichts anderes mehr, auf das ich warte. Aber bis er mir zu Hilfe kommt, muss ich warten, muss ich auch in den Tiefen hoffen. Mein Warten ist nicht nur etwas Äußerliches, sondern mein ganzes Herz liegt darin „meine Seele wartet.„ Ich warte und warte beachte diese Wiederholung! Es ist gut, so ernst und eindringlich mit dem Herrn zu reden. Wenn der Herr uns warten lässt, wollen wir das von ganzem Herzen tun. Er ist es wert, dass wir auf ihn warten. Und dieses Warten ist für uns sehr segensreich: Der Glaube wird erprobt, die Geduld geübt, die Ergebung in den Willen Gottes immer neu gefordert, und der Segen wird für uns umso wertvoller, je länger wir auf ihn warten müssen. Das Volk des Herrn ist immer ein wartendes Volk gewesen. Es hat auf das erste Kommen des Herrn gewartet, und nun wartet es auf sein zweites Kommen. Es hat auf die Vergebung gewartet, und nun wartet es auf die völlige Heiligung. Die Gläubigen haben in der Tiefe gewartet; sie riefen um Hilfe und warteten; und ihr Gebet machte sie geduldig. „Ich hoffe auf sein Wort.“ Das ist die Kraftquelle für das Warten. Wer keine Hoffnung hat, kann nicht warten. „So wir aber des hoffen, das wir nicht sehen, so warten wir sein durch Geduld„ (Rom. 8, 25). Gottes Wort ist wahrhaftig, wenn es auch manchmal lange dauert, bis die Erfüllung kommt. Wenn unser Glaube echt ist, werden wir warten, bis die Zeit des Herrn gekommen ist. Ein Wort des Herrn ist Brot für die Seele des Gläubigen. Er wird dadurch gestärkt und kann durch die lange Nacht des Leides auf die Morgendämmerung der Rettung und Freude warten. Wir lesen Gottes Wort, während wir warten. Wir glauben es, wir hoffen darauf und leben nach diesem Wort. Alles deswegen, weil es s e i n Wort ist, das Wort dessen, der nichts umsonst sagt. Gottes Wort ist ein fester Grund, auf dem unser Herz beim Warten ruhen kann.

V. 6 „Meine Seele wartet auf den Herrn von einer Morgenwache bis zur andern“ (Elberfelder: Meine Seele harrt auf den Herrn, mehr als die Wächter auf den Morgen, die Wächter auf den Morgen). Männer, die eine Stadt bewachen, sehnen sich nach dem Anbruch des Tages. Beter, die morgens in den Tempel kommen, erwarten in tiefem Gebet das Morgenopfer: das Lamm, das auf dem Altar dargebracht werden soll. David erwartet mehr. Er wartet länger, sehnsüchtiger und hoffnungsvoller. Er fürchtet sich nicht vor dem großen Gott, vor dem niemand in seiner eigenen Gerechtigkeit bestehen kann; er lebt in der Gerechtigkeit des Glaubens und sehnt sich nach der begnadigenden Gegenwart des heiligen Herrn. „Mehr als die Wächter auf den Morgen.„ Man kann sich kaum ein stärkeres Bild für dieses Warten denken, und doch war es noch zu schwach. Deshalb wiederholt David auch diesen Satz. Er fühlt, dass sein sehnsüchtiges Warten einzigartig und ohne Vergleich ist. Glücklich der, der so nach Gott hungert und dürstet! Wir sehnen uns nach der Gunst und Liebe des Herrn mehr, als die müden Wächter auf der Stadtmauer das Tageslicht erwarten, das sie von ihrer mühseligen Wache erlöst!

4. Die freudige Erwartung (Vers 7-8).

V. 7 „Israel, hoffe auf den Herrn!“ Der Herr ist Israels Gott, deshalb soll Israel sein Vertrauen auf ihn setzen. Was in einer aus dem Volk tut, sollen alle tun. Wer selber das Beispiel gibt, darf andere ermahnen. Gott hat große Dinge vor mit seinem Volk, deshalb sollen sie auch große Hoffnungen haben! „Denn bei dem Herrn ist die Gnade.„ Gnade liegt im Wesen Gottes. Bei uns ist Sünde, beim Herrn ist Gnade, und deshalb hoffen wir auf ihn. Unser Trost liegt nicht in dem, was wir selber haben, sondern in dem, was Gott hat. Wir wollen von unserer eigenen Armut wegsehen auf die Reichtümer, die der Herr besitzt! „Und viel Erlösung bei ihm.“ Gott kann und will sein ganzes Volk aus seinen vielen und großen Leiden erlösen. Seine Erlösung ist sogar schon durchgeführt und liegt nun jederzeit bereit, so dass er seinem Volk den vollen Segen schenken kann. Gottes Gnade und die Tatsache der Erlösung sind schon Grund genug, das ganze Vertrauen auf ihn zu setzen. Und außerdem sollte die Tatsache, dass es nirgendwo anders Gnade oder Befreiung gibt, unsere Seele von allem Götzendienst bewahren! Sind nicht diese Tiefen Gottes wunderbarer Trost für alle, die aus den Tiefen rufen müssen? Ist es nicht besser, mit David in den Tiefen zu sein und auf Gottes Gnade zu hoffen, als auf den Höhen zu stehen und sich eingebildeter Gerechtigkeit zu rühmen?

V. 8 „Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden.„ Unsere Sünden sind unsere große Gefahr. Wenn wir von ihnen gerettet sind, sind wir ganz errettet. Aber es gibt keine andere Rettung von den Sünden als die Erlösung. Und diese Erlösung wird hier in einer Form versprochen, die allen Zweifel beseitigt: Der Herr wird ganz bestimmt sein Volk von allen Sünden erretten! Diese Gnade muss wirklich groß und reichlich sein, wenn es um das ganze Volk Israel und alle seine Sünden geht! Unser Psalm ist hier zu einer großen Höhe aufgestiegen: Das ist kein Schrei aus der Tiefe mehr, sondern ein Choral in der Höhe! Die Erlösung ist die größte Segnung des Bundes. Wenn Israel das einmal erfährt, ist die Herrlichkeit der letzten Tage gekommen, und das Volk des Herrn wird sagen: „Worauf sollen wir nun noch warten?“ Ist dies nicht eine klare Prophezeiung für das erste Kommen des Herrn Jesus Christus? Und können wir es nicht jetzt als eine Verheißung für das zweite und viel herrlichere Kommen des Herrn ansehen, der unseren sterblichen Leib erlösen wird? Ja, darauf wartet unser Herz: Leib und Seele sehnen sich mit freudiger Erwartung nach dieser Erlösung!

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