Spurgeon, Charles Haddon - Psalm 126
- Ein Lied im höheren Chor. Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. - Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein. Da wird man sagen unter den Heiden: Der Herr hat Großes an ihnen getan. - Der Herr hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich. - Herr, bringe wieder unsere Gefangenen, wie du die Bäche wiederbringst im Mittagslande. - Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. - Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.
Überschrift
„Ein Stufenlied„ (Elberfelder Übersetzung). Wir sehen hier, dass Zion nicht nur ewig besteht, sondern auch die Freude nach dem Leid zurückerhält. Der ewige Bestand Zions ist noch nicht genug. Zion soll auch fruchtbar sein. Die Pilger schreiten auf ihrem heiligen Weg von einem Segen zum andern. Sie sind ein glückliches Volk; jeder Schritt wird zum Lied, jeder neue Rastplatz steigert die Freude. In unserem Psalm wird aus dem Mann, der Gott vertraut, ein Säemann. Der Glaube wird durch die Liebe tätig, empfängt Segen und sichert sich eine reiche Freudenernte.
In diesem Psalm gibt es keinen Anhaltspunkt für die Zeit seiner Entstehung. Es ist ein Lied von der herrlichen Befreiung aus schwerer Unterdrückung. Dabei muss man nicht nur an die Gefangenen Israels denken, sondern wir dürfen alle Errettung aus schwerer Trübsal einbeziehen.
Einteilung
Ein Bericht (Verse 1—2); ein Lied (Vers 3); ein Gebet (Vers 4); eine Verheißung (Verse 5—6).
Auslegung
V. 1 „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden.“ (Elberfelder Übersetzung: „Als der Herr die Gefangenen Zions zurückführte, waren wir wie die Träumenden.„) In Notzeiten trösteten sich die Pilger mit der Erinnerung an herrliche Errettungen aus nationalen Katastrophen. Wenn Gott so mit seiner Hilfe eingriff, war der ganze Kummer verschwunden wie ein Traum, und die Freude war so groß, dass man es kaum für möglich hielt. Die Erlösten fürchteten fast, dass das alles nur das Hirngespinst überreizter Einbildung sei. Die Freude kam so plötzlich und überwältigend, dass sie in Verzückung gerieten und ganz außer sich waren. So schwer die Gefangenschaft war, so herrlich war die Befreiung! Der große Gott selbst hat sie errettet. Es war zu schön, um wahr zu sein. Jeder fragte sich: „Ist das nicht nur ein Traum?“ Der Herr hatte nicht nur einen einzelnen befreit, sondern in seiner Barmherzigkeit das ganze Volk erlöst. Das war Grund genug zu überströmender Freude! Wir brauchen die Ereignisse in der Geschichte Israels, auf die sich dieser Vers bezieht, nicht erst im einzelnen anzuführen; lasst uns die Gefangenschaften ansehen, aus denen der Herr uns befreit hat. Welch eine Befreiung aus Gefangenschaft haben wir erlebt, als wir uns bekehrten! Niemals werden wir diese Stunde vergessen. Freude, Freude über Freude! Und seitdem sind wir aus vielen Trübsalen befreit worden. Der Herr hat uns aus mancher Niedergeschlagenheit herausgeholt, aus schlimmen Rückfällen errettet und von schweren Zweifeln befreit. Wir können das Glück gar nicht beschreiben, das uns nach jeder neuen Befreiung erfüllte.
Dieser Vers wird seine letzte Erfüllung an dem Tage des Gerichts finden, wenn der Herr die Mächte der Finsternis stürzt und seinen Erlösten Heil und Herrlichkeit bringt. Dann werden in einem noch tieferen Sinn als zu Pfingsten unsere Ältesten Träume haben und unsere Jünglinge Gesichte sehen (Joel 3,1). Das wird so wunderbar sein und alle Erwartungen in solchem Maße übertreffen, dass wir uns fragen werden, ob es nicht nur ein Traum ist. Die Vergangenheit wirft Licht auf die Zukunft: Was gewesen ist, wird wieder sein. Und immer und immer wieder werden wir staunen über die wunderbare Güte des Herrn. Wir wollen dankbar an alle Güte des Herrn denken, die wir bisher erfahren haben. Wir waren oft in großen Tiefen und schweren Nöten, ohne jede Hoffnung. Aber als der Herr erschien, riss er uns nicht nur aus der Verzweiflung heraus, sondern erhob uns auch zu einem unbegreiflichen Glück. Der Herr, der allein uns aus der Gefangenschaft befreit, macht keine halben Sachen. Wenn er rettet, bringt er auch in den Himmel. Er verwandelt Gefangenschaft in Freiheit und Leid in Glück.
V. 2 „Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein.„ Sie waren so voller Freude, dass sie nicht an sich halten konnten. Sie mussten ihrer Freude Ausdruck verleihen und fanden doch keine passende Ausdrucksmöglichkeit. Übermächtige Freude bahnt sich einen Weg im Lachen, denn Worte sind dafür viel zu schwach. Die Barmherzigkeit Gottes war so unerwartet, so gewaltig und einzigartig, dass sie nichts anderes tun konnten als lachen. Und sie lachten, dass ihr Mund voll ward — denn ihre Herzen waren voll unbeschreiblicher Freude. Als schließlich ihre Zungen wieder imstande waren, klare Worte zu formulieren, mussten sie gleich singen. Sie konnten sich nicht damit begnügen zu reden. Sie sangen aus vollem Herzen. Das frühere Leiden erhöhte die gegenwärtige Freude. Die furchtbare Gefangenschaft ließ die Befreiung in einem viel helleren Licht erstrahlen. Noch nach Jahren erinnerte sich das Volk an diese Flut der Freude. In unserem Psalm ist der Bericht darüber in ein Lied verwandelt. Beachte den Zusammenhang zwischen den beiden Wörtern „wenn“ und „dann„. Gottes Wenn ist unser Dann. In dem Augenblick, wo der Herr unsere Gefangenschaft wendet, wendet sich auch unser Herz vom Kummer ab. Wenn er uns mit Gnade erfüllt, werden wir mit Dank erfüllt.
„Dann wird man sagen unter den Heiden: Der Herr hat Großes an ihnen getan.“ Die Heiden hörten die Lieder Israels, und die besseren unter ihnen errieten die Ursache dieser Freude. Der Herr war bekannt als Gott Israels, und deshalb schrieben die Völker diese Befreiung Israels dem Herrn zu. Wer Völker in die Gefangenschaft wegführte, ließ sie selbstverständlich nicht an ihre alten Wohnstätten zurück. Diese Heiden hier waren keine Träumer. Wenn sie auch nur Zuschauer waren und an der Barmherzigkeit Gottes nicht teilhatten, so sahen sie doch genau, was geschehen war. Es ist etwas Herrliches, wenn die Heiligen den Sündern Anlass geben, über die Güte des Herrn zu sprechen. Lieber Leser, der Herr hat wirklich wunderbare Dinge für sein Volk getan, und diese großen Dinge sollen für immer das Thema der Lobgesänge aller geistbegabten Geschöpfe sein!
V. 3 „Der Herr hat große Dinge an uns getan; des sind wir fröhlich.„ Die Israeliten lehnten die Äußerungen der Heiden nicht ab, denn dadurch wurde der Herr geehrt. Fröhlich bestätigten und wiederholten sie die feierliche Aussage: „Der Herr hat Großes getan.“ Es ist keine gute Bescheidenheit, wenn man sich die Freude im Herrn nicht eingestehen will; im Gegenteil, das ist eine Beraubung Gottes ! Es gibt so wenig Freude in der Welt. Wenn wir davon ein volles Maß haben, wollen wir unser Licht nicht unter den Scheffel stellen, sondern allen leuchten lassen, die im Hause sind. Keiner ist so glücklich wie der, der erst kürzlich aus der Gefangenschaft gekommen ist. Keiner kann so klar und überzeugend wie dieser den Grund der Freude angeben, die in ihm ist. Der Herr selbst hat uns sehr gesegnet, jeden einzelnen von uns; deshalb singen wir zur Ehre seines Namens! Neulich hörte ich jemanden dieses Wort so beten: „Des möchten wir gern fröhlich sein“ Was für eine seltsame Entstellung dieses Schrift Wortes! Wenn Gott große Dinge für uns getan hat, dann sind wir fröhlich und können gar nicht anders! Das Gebet sollte demütig klingen, war es aber im Grunde nicht.
V. 4 „Herr, bringe wieder unsere Gefangenen.„ Das Volk erinnert sich an die Freude über Befreiungen, die es erlebt hat, und bittet nun den Herrn, er möge das doch wiederholen. Es ist gut, wenn wir uns an die herrlichen Taten Gottes erinnern, wenn wir um Befreiung beten. Nichts kann den Glauben so sehr stärken wie die Erinnerung an frühere Erfahrungen mit dem Herrn. „Der Herr hat getan“ passt gut zu dem Gebet „Herr bringe wieder„. Es ist gut, wenn man seine Zuflucht zu dem Herrn nehmen kann, der in vergangenen Zeiten so wunderbar geholfen hat. Zu wem sollten wir sonst gehen? Wer kann uns aus Gefangenschaft befreien wenn nicht der, der es schon früher getan hat? „Wie du die Bache wiederbringst im Mittagslande.“ Wenn der Herr die trockenen Flussbetten im heißen Süden wieder mit Wasserströmen füllt, kann er auch unsere verschmachtenden Herzen mit Fluten heiliger Freude erfüllen. Das kann der Herr für jeden von uns tun, und er kann das sofort tun, denn nichts ist ihm zu schwer. Wir sollten unsere Anliegen und Bitten immer diesem Herrn vortragen, denn er allein kann uns so reich segnen. Wir wollen mit unseren gegenwärtigen Schwierigkeiten unsere Zuflucht beim Herrn suchen. Wir wollen ihn bitten, das für uns zu tun, was wir nicht selber für uns tun können. Israel kehrte aus der baby„ Ionischen Gefangenschaft heim, und wie eine Flut strömten die Menschen nach Zion und füllten die Tempelhöfe. In großen Scharen werden sie in den letzten Tagen in ihr eigenes Land zurückkehren und es wieder bevölkern. In jener Zeit der Gnade werden die Völker wie mächtige Ströme zum Herrn eilen.
V. 5 „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.“ Die gegenwärtige Trübsal dauert nicht ewig. Sie ist nicht das Ende, sondern nur der Weg zum Ende hin. Wir säen mit Tränen, aber wir ernten mit Freuden. Wenn es kein Säen mit Tränen gäbe, würde es auch keine Ernte mit Freuden geben. Wären wir nie gefangen gewesen, würden wir die Freude der Befreiung nicht kennen. Unser Mund wäre niemals voll Lachens, wenn wir nicht vorher die Bitterkeit des Kummers geschmeckt hätten. Wir säen im naßkalten Winter des Leides, aber wir werden im hellen Sonnenschein der Freude ernten. Wir wollen in dieser Saatzeit treu bei der Arbeit bleiben und unsere Kraft aus dieser wunderbaren Verheißung schöpfen. Dieses Psalmwort ist mit Recht in den Gemeinden Gottes sehr bekannt geworden. Nicht jedem Säen ist die Zusage der Ernte gegeben, sondern dem Säen mit Tränen. Wer über die Sünden anderer weinen kann, ist zu dieser Fruchtbarkeit erwählt. Wie es keine Geburt ohne Schmerzen gibt, so gibt es keine geistliche Ernte ohne schmerzliche Wehen. Wenn unsere Herzen im Kummer über die Sünde brechen, brechen wir damit die Herzen der Menschen. Ernste Tränen für andere erzeugen Tränen der Reue und Buße.
V. 6 „Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.„ In der Frühe des Morgens stehen sie auf und gehen hinaus in die kühle Morgenluft, auf den Acker und an ihre schwere Arbeit. Sie weinen über begangene Fehler, über den unfruchtbaren Boden, über die Unbeständigkeit des Wetters, über den Mangel an gutem Saatkorn und über die Feinde, die so zahlreich sind und die Frucht der Arbeit rauben wollen. So gehen sie weinend und säen das Feld auf und ab. Sie haben Saatgut im Korb, das sehr wertvoll ist, weil sie nur wenig davon haben; in diesem Samen liegt die ganze Hoffnung auf die Ernte des nächsten Jahres. Jedes einzelne Saatkorn wird mit herzlichem Gebet ausgestreut, dass es doch nicht verlorengehen möchte. Diese Menschen denken wenig an sich selber, aber viel an die Saat. Sie fragen: Wird die Saat aufgehen? Wird es Frucht geben? Ja, du guter Säemann, ganz bestimmt wirst du Garben einsammeln. Der Herr hat es gesagt. Du brauchst nicht daran zu zweifeln. Wenn der Herr es versprochen hat, gibt es keinen Grund zum Zweifein. Du wirst auf dieses Feld zurückkommen — nicht, um zu ernten; nicht, um zu weinen, sondern um zu jubeln. Und eines Tages wirst du leichteren Schrittes als heute heimkehren, obwohl du dann die schwerere Last deiner Garben zu tragen hast. Eine Handvoll Saat wird zu vielen Garben werden; und du sollst die Freude haben, sie alle zu ernten und heimzutragen. Die Verheißung der Fruchtbarkeit in Verbindung mit der Befreiung aus Gefangenschaft ist etwas eigenartig. Aber wir finden das in unserer Erfahrung bestätigt: Wenn unsere Herzen befreit und belebt werden, werden auch andere Herzen durch unser Wirken gesegnet. Wenn wir heimgefunden haben aus einsamer und langer Gefangenschaft, werden wir zu Säeleuten, die guten Samen ausstreuen. Möge uns der Herr bald zu fröhlichen Schnittern machen, die die Ernte einbringen! Ihm sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.