Spurgeon, Charles Haddon - Liebe deinen Nächsten.
„Du sollst deinen Nächsten lieben, als dich selbst.“ - Matth. 19, 19.
Unser Heiland predigte oft über die Sittengesetze. Viele seiner Reden - und welche Reden dürften sich mit den seinigen vergleichen -. enthalten gar nicht das, was man gewöhnlich „das Evangelium“ nennt. Unser Heiland predigte nicht jedesmal, wenn er aufstund zu lehren, über die Lehre von der Gnadenwahl, oder von der Versöhnung, oder von der Berufung, oder von der Bewährung. Nein, er sprach eben so oft über die Pflichten des täglichen Lebens, und über die köstlichen Früchte des Geistes, welche die Gnade Gottes in uns wirkt. Beachtet wohl, was ich euch eben sagte. Ihr mögt wohl zuerst darüber erstaunt sein, aber bei fleißigem Lesen der vier Evangelisten werdet ihr finden, dass ich recht habe, wenn ich behaupte, dass der Heiland viele Zeit darauf verwendete, den Leuten zu sagen, wie sie sich gegen einander zu verhalten hätten; und viele seiner Predigten sind nicht gerade das, was die scharfen Kritiker unserer Zeit salbungsvolle Reden zu nennen pflegen; denn gewiss sind sie nichts weniger als nach dem Geschmack jener krankhaft empfindelnden Christen, die sich um den Teil der Religion, der ins tägliche Leben eingreift, nicht zu kümmern pflegen. Geliebte, es ist ebenso gut Pflicht des Dieners Gottes, die Pflichten der Menschen zu verkündigen, als das Versöhnopfer Christi zu predigen; und es sei denn, dass er die Menschen ihre Pflichten lehre, so wird er nie Gottes Segen erfahren, dass er die Menschen zur Erkenntnis der Herrlichkeit der Erlösung führe. Wenn er nicht von Zeit zu Zeit den Donner des Gesetzes erschallen lässt, und für seinen Herrn Gehorsam gegen dasselbe fordert, so wird er schwerlich Erkenntnis der Sünden wirken - gewiss nicht jene Sündenerkenntnis, die im Fortgang zur Bekehrung führt. Ich weiß, dass meine heutige Predigt nicht sehr salbungsvoll für diejenigen unter euch sein wird, die immer den nämlichen Kreis von Lehrsätzen wollen auslegen hören; aber darum kümmere ich mich nichts. Diese raue Welt muss von Zeit zu Zeit Vorwürfe hören, und können wir die Ohren des Volks erreichen, so ists unsre Aufgabe, es zurechtzuweisen, und es kommt mir vor, wenn je einmal die rechte Zeit gekommen ist, auf unsern Text ein Gewicht zu legen, so ists jetzt. Es wird so oft vergessen, so selten daran erinnert: „Du sollst deinen Nächsten lieben, als dich selbst.“
Ich erwähne vor Allem das Gebot; zweitens will ich einige Gründe anführen, warum wir diesem Gebot Gehorsam schuldig sind; und dann will ich einige Forderungen aus dem Gebot selber ziehen.
I.
Zuerst also das Gebot. Es ist das andere große Gebot (Matth. 22, 39.). Das erste ist: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben,“ und die Forderung lautet: du sollst den Herrn, deinen Gott, mehr lieben, denn dich selber.„ Das andere Gebot lautet: „Du sollst deinen Nächsten lieben,“ und hier lautet die Forderung zwar etwas schwächer, aber immer noch unendlich hoch: „Du sollst deinen Nächsten lieben, als dich selbst.“ So lautet das Gebot. Wir können es in drei Teile zerlegen. Wen soll ich lieben? „Meinen Nächsten.“ Was soll ich tun? „Ich soll ihn lieben.“ Wie soll ich das tun? „Ich soll ihn lieben als mich selbst.“
1) Wen soll ich lieben? Ich soll meinen Nächsten lieben. Unter dein Ausdruck Nächster sollen wir jeden verstehen, der uns irgendwie nahe ist. Unser Nächster ist zunächst unser Nachbar. Als der Samariter den Verwundeten auf der Straße nach Jericho erblickte, da fühlte er, er sei in seiner Nachbarschaft, und darum sei er sein Nachbar und er ihm zu helfen verpflichtet. „liebe deinen Nächsten.“ Vielleicht ist er reich, und du bist arm, und du wohnst in deiner Hütte neben dem vornehmen Palast. Du siehest seinen Aufwand, du bemerkst seine köstliche Leinwand und riechst den Duft seiner reichlichen Mahlzeiten. Gott hat ihm diese Gaben geschenkt, und wenn er sie dir nicht gegeben hat, so neide seinen Reichtum nicht, und hege keine harten Gedanken über ihn. Es wird immer Unterschiede geben in den äußern Umständen der Menschen; drum halte sich nicht darüber auf. Sei zufrieden mit deinem Loos, wenn dus nicht ändern kannst, aber schaue nicht mit neidischem Blick auf deinen Nachbar; wünsche nicht, er wäre so dürftig als du; hilf und rate auch keinem, der ihn seiner Reichtümer berauben möchte, um dich schnell damit zu bereichern. Liebe ihn, so kannst du ihn nicht beneiden. Vielleicht ists umgekehrt; du bist reich, und neben dir wohnt ein Armer. Schäme dich nicht, ihn deinen Nachbar zu nennen. Schäme dich nicht, zu bekennen, dass du ihm Liebe schuldig bist. Die Welt sagt, er stehe tiefer als du. Worin ist er weniger? Er ist dennoch deines Gleichen, ob auch nicht in der äußern Stellung. „Gott hat gemacht, dass von Einem Blut aller Menschen Geschlecht auf dem ganzen Erdboden wohnt“ (Ap. Gesch. 17, 26.). Du bist auf keinen Fall besser, als er. Er ist ein Mensch, und was bist du denn mehr? Er mag ein Mensch in zerrissenen Kleidern sein, aber der Mensch in Lumpen ist eben ein Mensch, und wenn du ein Mensch bist, gekleidet in Purpur und köstliche Leinwand, so bist du eben auch nur ein Mensch. Tue Fleiß, dass du deinen Nächsten liebest, ob er schon in armseligen Kleidern einhergehe, und verachte ihn nicht, ob er gleich versunken ist in den Tiefen der Armut.
Liebe deinen Nächsten, und wenn er auch anderer Religion ist, als du. Du meinst, du gehörest zu denen, die der Wahrheit am nächsten stehen, und du hoffst, dass du und deine Freunde, die eben so rechtgläubig sind, gewiss einst selig werden. Dein Nächster denkt anders. Du sagst, seine Religion sei ungesund und irrig; liebe ihn eben umso mehr. Lass nicht zu, dass dich deine verschiedene Ansicht von ihm trenne. Möglich, dass er recht hat, vielleicht auch nicht; der ist im Leben der richtigste, der am meisten Liebe hat. Vielleicht hat er gar keine Religion. Er verachtet deinen Gott; er schändet den Sabbat; er bekennt sich zu den Gottesleugnern; liebe ihn dennoch. Harte Reden bekehren ihn nicht, harte Behandlung macht keinen Christen aus ihm. Liebe ihn geradezu; seine Sünde ist nicht gegen dich gerichtet, sondern gegen Gott. Dein Gott rächt die Sünden, die gegen ihn begangen werden, und überlasse du ihn Gottes Hand. Kannst du ihm aber Gutes tun, kannst du etwas finden, worin du ihm einen Dienst leistest, so tue es, es sei Tag oder Nacht. Und machst du einen Unterschied, so halte es also: Weil du nicht von meiner Religion bist, so will ich dir umso mehr dienen, auf dass du zum Rechten bekehrt werdest, sintemal du ein irrgläubiger Samariter bist, und ich ein rechtgläubiger Jude, du bist dennoch mein Nächster, und ich will dich lieben, in der Hoffnung, dass du deinen Tempel auf Garizim fahren lässt und kommst, anzubeten im Tempel Gottes zu Jerusalem. Liebe deinen Nächsten, trotz Verschiedenheit der Religion.
Liebe deinen Nächsten, obgleich er dir beim Beruf im Wege steht. Das ist ein Satz, der sich schwer im Handel und Wandel Geltung erwerben wird; aber dennoch bin ich verpflichtet, ihn euch Kaufleuten und Handwerkern zu verkündigen. So eben hat ein neuer Anfänger ein Geschäft eröffnet, und ihr fürchtet, er werde euch beeinträchtigen. Ihr dürft ihm keinen Anstoß geben, ihr müsst nichts Nachteiliges von ihm denken oder sagen. Es ist eure Aufgabe, ihn zu lieben, denn obgleich er euch in eurem Beruf entgegensteht, so ist er doch euer Nächster. Ein Anderer wohnt nicht ferne von euch, der euch schuldig ist, und wenn ihr von ihm Alles, was er euch schuldet, fordert, so ist er ein ruinierter Mann; wenn ihr ihm aber euer Geld eine kurze Zeit noch lasst, so vermag er, dem Sturm zu widerstehen, und seine Anstrengungen werden mit gutem Erfolg gekrönt. Es ist eure Pflicht, ihn zu lieben, wie euch selbst. Überlass ihm dein Geld noch eine Weile, lass ihn noch einmal es versuchen, so kommst du vielleicht wieder zu dem Deinen und ihm ist auch aufgeholfen. Alle, mit denen du in deinem Beruf in Berührung kommst, sind deine Nächsten. Jeder, mit dem du zu tun hast, er sei mehr oder geringer als du, ist dein Nächster, und das christliche Gesetz befiehlt, dass du deinen Nächsten lieben sollst. Es heißt doch nicht bloß: du sollst ihn nicht hassen, sondern es sagt: du sollst ihn lieben; und wenn er gleich deine Unternehmungen hinderte, wenn er gleich dir im Wege stünde, wo du reich werden könntest, ob er dir deine Kundschaft raubte, ja, ob er auch gleich deinen Ruhm verdunkelte, so bist du dennoch verpflichtet, ihn zu lieben, als dich selbst. Dies Gebot leidet keine Ausnahme. Steht er dir nahe und hat mit dir irgend etwas zu schaffen, so spricht das Gesetz also: „Du sollst ihn lieben.“
Ferner bist du verbunden, deinen Nächsten zu lieben, ob er dich gleich mit seiner Sünde beleidigt. Oft ist unser Geist überwältigt und unser Herz tief bekümmert, wenn wir der Schlechtigkeit im Leben begegnen. Man ist gewohnt, den Hurer und Ehebrecher als einen Verfluchten aus der Gesellschaft zu verbannen. Das ist nicht recht, es ist nicht christlich. Wir sind verpflichtet, auch die Sünder zu lieben, und sie nicht aus dem Lande der Hoffnung zu vertreiben, sondern wir müssen sie vielmehr zu gewinnen suchen. Ist ein Mensch ein Säufer, oder ein Dieb, oder ein Lügner, so kann ich seine Trunksucht nicht lieben, ich müsste sonst selbst ein Säufer werden; ich kann seine Unwahrheit nicht lieben, ich müsste sonst selbst unwahr sein; aber ich bin verpflichtet, ihn selber dennoch zu lieben, und wenn ich auch von ihm missbraucht werde, so darf ich dennoch meinen Widerwillen nicht Meister werden lassen, sondern wie ich wünsche, dass mir Gott vergebe, so muss ich ihm vergeben. Und wenn er gegen die Landesgesetze sich so schwer vergeht, dass er der Strafe anheimfällt (und das mit Recht), so muss ich ihn auch als Richter lieben; denn ich habe ihn nicht rachgierig zum Gefängnis zu verurteilen, sondern ich muss es tun um seines Besten willen, auf dass er durch Strafe zur Buße geleitet werde; ich muss ihm ein solches Maß der Strafe auferlegen, nicht als Sühne für sein Verbrechen, sondern ihm das getane Böse zum Bewusstsein zu bringen, und ihn zu bewegen, dass er davon lasse. Aber ich will ihn verurteilen mit einer Träne des Mitleids im Auge, weil ich ihn immer noch liebe. Und wenn er ins Gefängnis geworfen ist, so will ich sorgen, dass seine Wärter ihn gütig behandeln, und obgleich Ernst und Strenge im Zuchtause nötig ist, so dürfen sie nicht so weit getrieben werden, dass sie in Grausamkeit ausarten, und statt Gutes zu stiften, nur Schaden anrichten. Ich bin verpflichtet, ihn zu lieben, ob er gleich in Lastern versunken und gänzlich verkommen ist. Das Gesetz kennt keine Ausnahme. Es lässt mir nur die Liebe für ihn übrig. Ich muss ihn lieben.
Ich habe nicht das Recht, noch die Pflicht, ihn in mein Haus aufzunehmen; ich habe nicht nötig, ihn als ein Glied meiner Familie zu behandeln. Es gibt Beweise der Güte, die übel angebracht wären, wenn ich sehe, dass ich Andere dadurch zu Grunde richten und im Laster bestärken würde. Ich muss mein Angesicht gegen ihn verstellen, um der Gerechtigkeit willen, aber ich fühle, dass ich mein Herz nicht gegen ihn verstellen darf, denn er ist mein Mitbruder, und obgleich der Satan sein Antlitz besudelt hat, und sein Gift in seinen Mund gießt, so dass, wenn er spricht, nur Flüche zum Vorschein kommen, und wenn er geht, seine Füße eilend sind, Blut zu vergießen, so ist er dennoch ein Mensch, und als Mensch mein Bruder; und ich habe als Bruder die Verpflichtung, ihn zu lieben, und wenn ich ihn durch Teilnahme zu einer Art sittlicher Würde zu erheben im Stande bin, so ists unrecht, wenn ichs nicht tue, denn ich soll ihn lieben, wie mich selbst. Ach, wollte Gott, dass dies große Gebot auch völlig befolgt würde. O, meine lieben Freunde, ihr liebt eure Nächsten nicht, ihr wisst es wohl. Ihr liebt nicht herzlich Jedermann, der mit euch ins Haus Gottes geht. Gewiss, ihr würdet nicht daran denken, jene zu lieben, die in ihren Ansichten nicht mit euch übereinstimmen; nicht wahr? Das wäre eine gar zu wunderliche Liebe.
Ja, ihr liebt kaum die, die ihr Brüder und Schwestern nennt. Manche von euch liegen im Hader mit denen, welche die gleiche Glaubensnahrung mit euch empfangen. Ach, wie kann ich da erwarten, dass ihr eure Feinde lieben werdet, wenn ihr nicht einmal eure Freunde liebt? Manche von euch sind uneins mit ihren Eltern, dort ist ein Bruder, der seiner Schwester zürnt um eines Wortes willen, das sie zu ihm sagte, ehe er hieher kam. O, wenn ihr eure Brüder und Schwestern nicht lieben könnt, so seid ihr ärger, denn die Heiden und Zöllner. Wie kann ich von euch erwarten, dass ihr dieses große und erhabene Gebot befolgt: „liebt eure Nächsten?“ Ob ihr aber gehorchet oder nicht, so ists meine Pflicht, also zu predigen, und mich nicht nach dem Geschmack eines widerspenstigen Geschlechts zu richten. Vor Allem sind wir verpflichtet, alle Menschen zu lieben und zu ehren, schon darum, dass es Menschen sind; und dann müssen wir alle Gene lieben, die uns nahe stehen, nicht um ihrer Güte und Dienstfertigkeit willen, sondern weil Gottes Gebot es verlangt, und sie unsre Nächsten sind. „Liebe deinen Nächsten als dich selbst.“
2) Was soll ich nun aber meinem Nächsten erweisen? liebe ihn - es ist ein gewichtiges Wort - liebe ihn. „Ja, ich glaube,“ sagt Einer, „ich sage nie ein unfreundliches Wort über meine Nächsten. Ich weiß nicht, dass ich je in meinem Leben den guten Namen eines Menschen verunglimpft hätte.
Ich bin sehr darauf bedacht, dass ich meinem Nächsten keinen Schaden verursache. Wenn ich im Geschäft einen Anstand habe, so hüte ich mich, dass meine Aufwallung mich nicht zur Lieb- und Rücksichtslosigkeit hinreiße. Ich bestrebe mich, Niemand wehe zu tun.“ Mein lieber Freund, soweit ist Alles recht und schön, aber das ist noch nicht Alles. Es ist noch nicht genug, wenn du sagst, du hassest deinen Nächsten nicht; du musst ihn eben lieben. Wenn du ihm auf der Straße begegnest, so ists nicht genug, dass du ihm ausweichst und ihn nicht umrennst. Es ist nicht genug, dass du ihn Nachts nicht belästigst, noch seine Ruhe störst. Es ist kein vorbeugendes, es ist ein tatsächliches Gebot. Es handelt sich nicht um das Nichttun, sondern um eine Tat. Du darfst ihn nicht beleidigen, das ist richtig, aber du hast noch nicht Alles getan, wenn du das nicht getan hast. Du solltest ihn lieben. „Gut,“ spricht Einer, „wenn meine Nachbarn ringsum krank darniederliegen, wenn sie arm sind, dann nehme ich einen Teller voll Suppe von meinem Mittagstisch, und schicks ihnen, damit sie etwas zu essen haben, und sich ein wenig stärken, und wenn sie gar bedürftig sind, So tue ich ein Mehreres, und gebe Geld, dass man für sie sorge.“ Wohl, das kannst du tun, und sie doch nicht lieb haben. Ich habe gesehen, wie man einem Armen eine Wohltat hinwirft, wie einen Knochen einem Hunde, und das ist keine Liebe. Ich habe bemerkt, wie man einen Dürftigen Geld hinreichte mit kaum halb so viel Aufmerksamkeit, als wenn man einem Pferd sein Futter gibt. „Da habt ihrs; ihr habts nötig. Ich denke, ich muss es euch geben, sonst könnte man meinen, ich sei geizig. Nehmts, es ist mir zuwider, wenn ihr so oft kommt; warum geht ihr nicht auch in andere Häuser? Die Bettler hängen immer an meiner Glocke!“ O, das heißt nicht, den Nächsten lieben, und so flößt man ihm auch keine Liebe ein. Hätten wir ein liebevolles Wort zu ihm gesagt, und ihm nichts gegeben, er hätte uns mehr Liebe angemerkt, als da wir ihm auf eine unfreundliche Art gaben. Nein, wenn du auch die Armen speisest, und die Kranken besuchst, so hast du das Gebot doch nicht erfüllt, wenn nicht dein Herz mit der Hand übereinstimmt, und die Liebe in deinem Leben für das Wohlwollen deiner Seele spricht. „Du sollst deinen Nächsten lieben.“
Und nun mag hier vielleicht Einer einwenden: „Ja, sehen Sie, ich kann meine Nächsten nicht lieben; Sie vielleicht die Ihrigen, weil sie wohl besser sind, als die meinigen. Aber die meinen sind ein so böses Volk von Nachbarn, und ich suche ihnen alle Liebe zu erweisen, und für Alles, was ich an ihnen tue, danken sie mir nur mit Verwünschungen.“ Um so glänzender kannst du deine uneigennützige Liebe bewähren. Wärest du lieber ein Federbetten-Held, statt dass du dich in den rauen Kampf der Liebe wagst? Ja, mein Lieber, wer nichts wagt, gewinnt nichts; und sind deine Liebeswege rau, so tritt nur fest auf, und liebe deinen Nächsten durch Dick und Dünn. Sammle feurige Kohlen auf ihre Häupter, und wills ihnen nicht recht munden, so suche nicht ihnen, sondern deinem Herrn und Meister zu gefallen, und bedenke, dass wenn sie auch deine Liebe von sich stoßen, dein Herr sie nicht verwirft, und deine Tat ihm so angenehm ist, als wenn sie von ihnen wäre angenommen worden. „Liebe deinen Nächsten.“
Wenn aber diese Nächstenliebe beobachtet würde - Liebe, wahre Liebe - so würde sie allem Hader ein Ende machen. Wer hat je über sich selber gezürnt? Ich denke, alle verständigen Leute sind dann und wann einmal erzürnt, und ich vermute, es stünde nicht recht bei uns, wenns nicht zuweilen vorkäme. Ein Mensch, der sich nie erzürnt, ist keinen Heller wert. Er kann kein braver Mensch sein, denn er wird manchmal etwas sehen, dass er sich darob erzürnen muss. Aber bedenke, du hast kein Recht, über deinen Nächsten mehr zu zürnen, als über dich selber. Du täuschest dich manchmal über dich selbst, und oft magst du dich auch in ihm getäuscht fühlen, wenn er Unrecht getan hat. Aber deine Unzufriedenheit mit dir selber dauert nie lange: du vergibst deinem eigenen lieben Ich gar bald; nun gut, du bist verpflichtet, deinem Nächsten eben so schnell zu vergeben, und hast du ein hartes Wort gesprochen, ein allzuhartes, so nimms zurück, und tue nicht noch mehr hinzu, damit die Sache schlimmer werde. Bezeuge die Wahrheit so zart als möglich, wenn dus doch tun musst. Sei nicht strenger, als es notwendig ist. Gehe mit Andern so um, wie mit dir selber. Vor Allem räche sich nicht. Lass nie die Sonne über deinem Zorn untergehen - es ist dir unmöglich, deinen Nächsten zu lieben, wenn du das tust. Der Zorn macht den Gehorsam gegen dies Gebot ganz unmöglich.
Du sollst deinen Nächsten lieben, darum vernachlässige ihn nicht. Er ist vielleicht krank, etwa ganz in der Nähe deiner Wohnung, und er lässt dich nicht bitten, ihn zu besuchen, weil er spricht: „Nein, ich will ihn nicht stören.“ Bedenke, dass es deine Aufgabe ist, ihn aufzusuchen. Die achtbarste Dürftigkeit ist die, welche nicht um Hilfe fleht. Frage nach, siehe dich um, wo deine Nachbarn im Elend sind; warte nicht, bis man dir Nachricht bringt, sondern suche sie auf, und bringe ihnen Hilfe. Versäume sie nicht; und wenn du hingehst, so gehe nicht mit dem hochtrabenden Stolz, den sich die Wohltätigkeit oft anmaßt, gehe nicht hin wie ein Vornehmer, der ein Almosen austeilt; sondern gehe zu deinem Bruder, wie wenn du ihm eine alte Schuld abzutragen hättest, und setze dich zu ihm, und unterhalte dich mit ihm; und wenn er empfindlich ist, und in seinem Zartgefühl leicht verlebt, so erweise ihm deine Wohltat nicht wie eine Wohltat, sondern lass ihn deine Gabe in irgend einer andern Weise entgegennehmen, damit du nicht sein Haupt mit der Salbenbüchse verletztest, deren du dich doch bedienen wolltest, um seine Wunden zu salben. Sei äußerst zartfühlend und vorsichtig, wenn du mit ihm sprichst; verletzte ihn ja nicht. Lass deine Barmherzigkeit hinter dir zurück, und er soll sie vergessen; aber deine Freundlichkeit im Gespräch mit ihm wird er dir nimmermehr vergessen.
Liebe zu unsern Nächsten beseitigt allen Neid und allen Geiz, und macht uns allezeit dienstfertig gegen sie, macht uns bereit, ihr Fußschemel zu werden, wenn es sein muss, auf dass wir uns solcher Weise als wahre Kinder Gottes bewähren.
„Gut,“ spricht Jemand, „ich kann aber nicht einsehen, dass ich immer und immer Nachsicht üben und vergeben soll. Auch ein Wurm krümmt sich, wenn man ihn mit Füßen tritt.“ Und soll ein Wurm dein Vorbild sein? Ein Wurm krümmt sich freilich, aber ein Christ tuts nicht. Es kommt mir vor, es sei arger Hohn, den Wurm zum Vorbild zu nehmen, wenn ich Christo nachfolgen soll. Der Herr Jesus krümmte sich nicht da er gescholten ward, schalt er nicht wieder; da er gekreuzigt und ans Fluchholz genagelt ward, rief er: „Vater, vergib ihnen.“ Lass doch die Liebe, unüberwindliche Liebe, in deinem Herzen wohnen, eine Liebe, welche viele Wasser nicht auslöschen, eine Liebe, welche die Meereswogen nicht ersäufen können. Liebe deinen Nächsten.
3) Wir haben nun noch zu betrachten, wie wir unsere Nächsten lieben müssen. Es wäre wohl recht artig, wenn manche Damen ihre Nächsten so sehr liebten, als ihre Schoßhündchen. Es wäre sehr schön, wenn mancher Gutsherr so viel Aufmerksamkeit für seine Nachbarn hätte, als für seine Koppel Hunde.
Ich hielte es für eine hohe Tugend bei Manchem von euch, wenn er so viel Liebe zu seinen Nächsten hätte, als zu seinem Liebling unter den Haustieren. Und doch, wie wenig scheint das verlangt! Und doch wäre es weit mehr als das, was Manche von euch erstreben. Ihr liebt euren Nächsten nicht wie euer Haus, euern Aufwand, euern Beutel. Wie hoch reicht darum die Forderung: „Liebe deinen Nächsten als dich selbst?“ Wie sehr liebt denn ein Mensch sich selber? Keiner zu wenig, gar Viele unter uns zu viel. Du darfst zwar dich selber so sehr lieben, als du nur immer willst, aber sorge dafür, dass du deinen Nächsten ebenso viel liebst. Ich bin überzeugt, du bedarfst keiner Ermahnung, dich selber zu lieben, du wirst dich schon versorgen, dein Wohlbefinden ist gewiss deine allererste Sorge. Du fütterst dein Lager mit Eiderdaunen, wenn dus vermagst. Du bedarfst keiner Ermahnung, dein Wohl nicht aus den Augen zu verlieren. Das wirst du schon tun. Nun gut, liebe deinen Nächsten, wie dich selbst, und bedenke, wer damit gemeint ist: dein Widersacher, der Mensch, der dir im Handel und Geschäft Abbruch tut, und der Geringere oder Vornehmere, denn du, die sollst du lieben, als dich selbst.
Ja, das würde die Welt umkehren, wenns dazu käme. Das wäre ein trefflicher Hebel, Vielem zu steuern, was jetzt in ganzen Gegenden Sitte, oder eigentlich Unsitte geworden ist. Wir haben bei uns ein ebenso strenges Kastenwesen, wie in Indien; es ist ein fast unnahbarer Unterschied zwischen verschiedenen Ständen und Klassen der Bevölkerung. Gesellen und Tagelöhner werden immer mehr von der Familie ausgeschlossen, mit der sie in früheren Zeiten Ein Haus bildeten. Die Dienstboten sind vom Familientisch verbannt; und noch viel weiter klafft die Kluft zwischen Hoch und Niedrig, zwischen Vornehm und Gering, die nicht genötigt sind, unter Einem Dache zu leben. O, wenn kommt der Tag, wo diese Schranken fallen, wo das Gefühl der gemeinsamen Abstammung zur Geltung kommt, wo Alles einander liebt, als Glieder einer großen Familie, wo Alle fühlen, dass sie zu einander gehören, wie die Glieder Eines Leibes! O, wie gut wärs, wenn Jedes strebte, dem Andern Liebe und Hilfe zu beweisen, wie es seine Pflicht ist. Ja, liebe vornehme Dame dort, Sie sind allsonntäglich zum Gottesdienst in Samt und Seide, und saßen neben einem armen Weibe im abgetragenen, abgebleichten Kleid, die auch zur Gemeinschaft der Heiligen gehört; aber Sie haben noch nie eine Sylbe mit ihr gesprochen, noch nie in Ihrem ganzen Leben. Sie würden auch nie mit der armen Seele ein Wort verlieren, weil sichs gerade trifft, dass Sie jährlich über mehr als hundertmal so viel Taler Einkommen gebieten, als sie Groschen im Vermögen hat. Und Sie, Herr Schmidt, kommen hieher, und lassen sich von Allen ehrfurchtsvoll begrüßen, wie es auch in Wahrheit Recht ist; denn wir sind Alle ehrbare Leute, und der gleiche Mund, der da spricht: „Ehret den König,“ befiehlt auch: „Tut Ehre Jedermann“ (1 Petri 2, 17.). Und also sind wir verpflichtet, einem Jeden die gebührende Ehre zu erweisen. Ihr meinet aber, dass ihr von allen Menschen müsset angebetet werden, und wollt den Leuten von niedrigerm Stande nicht gleiche Ehre antun. O, mein Lieber, Sie wären ein viel größerer Mann, wenn Sie nicht so groß scheinen wollten. Ach, ich sage wieder: Gelobt sei Jesus Christus, gelobt sei sein Vater um dieses Gebotes willen, und gesegnet alle Welt, wenn sie diesem Gebot Gehorsam leistet, und wir unsre Nächsten lieben, als uns selbst!
II.
Und nun habe ich euch die Gründe anzugeben, warum ihr diesem Befehl nachzukommen habt.
Der Beste Grund ist der, mit welchem wir den Anfang machen: Wir müssen die Nächsten lieben, weils Gott befiehlt. Für den Christen ist kein Grund so triftig, als der Wille Gottes. Gottes Wille ist des Gläubigen Gesetz. Er fragt nicht, was es ihm nützt, was es auf Andere für einen wohltätigen Einfluss ausübt, sondern er fragt einzig: Sagt es mein Vater? O, Heiliger Geist, hilf mir gehorsam sein, nicht weil ich sehe, dass es zu meinem Besten ist, sondern einzig, weil du es willst. Es ist des Christen Vorrecht, Gottes Befehle auszurichten und „zu gehorchen der Stimme seines Worts“ (Ps. 103, 20.). Aber etliche andere Gründe mögen bei denen, die keine Christen sind, mehr Ansehen genießen.
Ich will anführen, dass euch die Rücksicht auf euch selbst gebietet, eure Nächsten zu lieben. Merkwürdig, dass die Selbstsucht gegen sich selbst eine Predigt halten soll; und dennoch, wenn das ich zum Worte käme, so würde es, wenn ihm Vernunft nicht mangelt, etwa folgendermaßen sich ausdrücken: „Mein Ich, liebe deinen Nächsten, so wird er dich wieder lieben. Mein Ich, hilf deinem Nächsten, so wird er dir wieder helfen. Mache dir, mein Ich, Freunde mit dem ungerechten Mammon, auf dass, wenn du nun darbest, sie dich aufnehmen in die ewigen Hütten (Luk. 16,9.). Mein Ich, du möchtests gern gut haben; behandle Jedermann zuvorkommend, so wird dirs nicht fehlen. Mein Ich, du möchtest Freude genießen; du wirst keine Freude erleben, wenn dich deine Nächsten hassen. Mache, dass sie dich lieben, mein teures Ich, so wirst du dir Gutes erweisen.“ Ja, gerade wenn ihr eigennützig seid, möchte ich, dass ihr so überaus selbstsüchtig und so verständig selbstsüchtig wäret, Andere zu lieben, damit ihr euer eigenes Glück gründet.
Das einfachste Mittel, selbst glücklich zu werden, liegt darin, dass man Andere glücklich macht. Die Welt ist schlecht genug, aber doch so schlecht nicht, dass sie die Macht der Güte nicht empfände. Behandelt die Dienstboten gütig. Es gibt unverbesserliche Diener; aber behandelt sie wohl, so werden sie in der Regel auch euch wieder gefällig sein. Seid gehorsam und dienstfertig euren Herrn. Manche unter ihnen sind wunderlich und mürrisch, aber sie wissen gute Dienstboten zu schätzen und werden es euch Dank wissen. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, so wären es nicht Reichtümer und Schätze dieser Welt, noch Pracht und Bequemlichkeit des Lebens; das Lieblichste, was ich mir wünschte, wären liebevolle Seelen um mich her, und das Gefühl, dass überall, wo ich hinkomme, ich Glück und Freude um mich her verbreitete. Das ist der Weg, glücklich zu werden, und die Selbstsucht selber dürfte. sagen: „liebe deinen Nächsten;“ denn so du das tust, so liebst du dich selber; und es ist dann eine solche Verbindung zwischen euch beiden, dass wenn du ihn liebst, der Strom deiner Liebe in dein eigenes Herz zurückströmt.
Ich will euch aber mit einem so elenden Beweggrund nicht belästigen; er ist zu erbärmlich für einen Christen; er sollte überhaupt zu schlecht sein für einen Menschen. So liebe denn deinen Nächsten darum, dass dies der Weg ist, in der Welt Gutes zu stiften. Ihr seid Menschenfreunde, Manche von euch sind bei einer Halbbatzen-, oder Kreuzer-, oder Schillings-Collekte für die Mission, für Negerkinder u. dgl. Ich bin überzeugt, dass solche Einrichtungen, obgleich in gewisser Beziehung ganz vortrefflich, in mancher Hinsicht ein Verlust sind; denn nun gibt Einer vielleicht nur den zehnten Teil so viel, als er sonst gegeben hätte, und wo eine Waise früher von einer einzelnen Familie wäre versorgt worden, stehen jetzt zehn Familien zusammen für dieses eine Kind, und so wird nur noch der zehnte Teil so viel Gutes getan. Ich meine, ein Mensch, der Zeit dazu hat, sollte seine Gaben selber verwenden und gar nichts an Gesellschaften geben. Seid eure eigene Gesellschaft. Habt ihr Zeit, so geht hin und besucht die Kranken, so wisst ihr, dass das Geld gut verwendet wird, und ihr erspart wieder so viel an der Besoldung eines Cassirers und Buchhalters. Es gibt eine Armensuppen-Commission. Kocht die Suppe selber, teilt sie selbst aus; und wenn Jeder, der einen halben Gulden an eine Gesellschaft gibt, einen halben Taler für eigene Rechnung auf Armensuppen verwendete, so könnte mehr geschehen. Gesellschaften sind etwas Gutes; Gott behüte, dass ich etwas dagegen sagen sollte; unterstützt sie so viel als möglich; aber dennoch fürchte ich, dass sie zuweilen die Privatwohltätigkeit schmälern, und ich weiß, dass sie uns die Freude eigenen Wohltuns verkürzen - die Freude, das freudeglänzende Auge zu sehen, die dankbewegte Stimme zu vernehmen, wo wir selbst gegeben, geholfen haben.
Teure Freunde, bedenkt, das Menschenwohl erfordert es, dass ihr gegen eure Mitgeschöpfe liebevoll seid. Die Beste Weise, wie ihr die Welt bessert, ist, selber gütig zu sein. Bist du ein Prediger? Predige in einem finstern Ton und in schroffer Weise, so wirst du bald dein Gotteshaus gesäubert haben! Bist du ein Sonntagslehrer? Unterrichte die Kinder mit einer Runzel auf der Stirne, so werden sie ein niedliches Stück lernen! Bist du Familienvater und hältst Andacht? Fordere unwirsch die Dienstboten zusammen und sprich: „Kommet zum Beten;“ so werdet ihr auf solche Weise große Andacht bei ihnen erwecken. Bist du ein Gefangenwärter, und hast Sträflinge unter dir? Missbrauche und misshandle sie, und schicke ihnen dann den Hausgeistlichen zu; das wird eine saubere Vorbereitung für die Anhörung des Wortes Gottes sein! Ihr habt Arme in eurer Nähe, und wünscht sie besser zu erziehen, sagt ihr. Ihr murrt beständig über ihre elenden Wohnungen und ihre rohen Sitten und ihren schlechten Geschmack. Geht hin und gebt ihnen durch die Bank eine herbe Zurechtweisung; das wäre eine feine Weise, sie zu bessern! Nein, waschet jene düstre Falte aus eurem Antlitz, und kauft irgendwo ein wenig Mai-Essenz und wascht damit euer Gesicht; und lächelt freundlich und sprecht: „Ich habe euch lieb. Ich bin kein Schwätzer, sondern ich habe euch wirklich lieb, und soweit es in meinen Kräften steht, will ich euch meine Liebe auch mit der Tat beweisen. Womit kann ich euch dienen? Kann ich euch über Schwierigkeiten hinweghelfen? Kann ich euch irgendwie Beistand leisten, oder ein tröstliches Wort sagen? Es kommt mir vor, ich könnte ein wenig auf euer Kind Achtung geben, oder soll ich den Arzt rufen für eure kranke Frau?“ All diese kleinen Aufmerksamkeiten würden die Welt ein wenig bessern. Euer Sauersehen und Mürrischsein hat noch nie etwas zur Besserung der Leute beigetragen. Hängt so viele Menschen, als ihr wollt, ihr wehrt damit dem Mord und Todschlag noch nicht. Und wenn ihr uns Alle hängt, so sind wir darum noch nicht besser dran. Es ist nicht nötig, irgend Einen zu hängen; das macht die Welt nie besser. Benehmt euch Höflich, liebevoll, teilnehmend; und auch ein Wolf in Menschengestalt müsste zahm werden, und ein Tiger in Weibesgestalt müsste zerschmelzen in Tränen, wenn Gott die Liebe segnet, welche ihr Freund ihr entgegenbringt. Ich sage nochmals: Um des Besten der Welt willen liebt eure Nächsten.
Und nun noch Eins: Liebe deinen Nächsten; denn es gibt viel Elend in dieser Welt, wovon du keine Ahnung hast. Wir haben oft Arme und Elende hart angefahren; wir kannten ihre Noth nicht, aber wir hätten sie kennen, sie ausfindig zu machen suchen sollen. Soll ichs Ihnen nur sagen, mein lieber Freund Gutsherr dort, dass Sie gestern hiehergereist sind, um einen Pfandschein gegen ein armes Weib mit drei Kindern zu lösen. Ihr Mann ist schon längere Zeit gestorben. Sie war mit den Zinsen um drei Wochen im Rückstand; als sie Ihnen den vorigen Zins bezahlen musste, verkaufte sie ihres verstorbenen Mannes Uhr und ihren eigenen Trauring; es war Alles, was ihr von teuren Andenken übrig geblieben war, und sie bezahlte Ihnen damals den Zins; nun kamen Sie das nächste Mal zu ihr, den Zins in Empfang zu nehmen, und da bat sie um Geduld, und Sie meinten, wie wundergütig und edel Sie wären, weil Sie den kleinen Aufschub gestatteten. „Ich muss sagen,“ sprachen Sie, „das Weib ist nichts wert, und wenn auch, so ists nicht meine Sache, dass sie drei Kinder zu erhalten hat; Zins ist Zins, und Geschäft ist Geschäft.“ Sie zieht, entblößt von Allem, aus ihrer Wohnung, und sagt kein Wort. O, wenn Sie dieser Frau hätten ins Herz blicken können, als sie ohne Obdach und ohne einen Pfennig dastand, und nicht wusste, wo sie ihre Kindlein in dieser Nacht beherbergen sollte, da würden Sie gesagt haben: „Kümmert euch nicht, gute Frau, bleibet hier; ich kann eine hilflose Witwe nicht verstoßen.“ Hätten Sies nicht so gemacht? Nein, sondern Sie hätten vielleicht Ihren Buchhalter hingeschickt, und die Sünde wäre nichts desto weniger auf Ihrem Herzen liegen geblieben. Sie haben kein Recht, so zu handeln; nach menschlichen Gesetz zwar wohl, aber nicht vor dem Flammenauge Gottes. Denn das Gebot Gottes spricht: „Du sollst deinen Nächsten lieben, als dich selbst.“ Es kam letzthin ein junger Mensch zu Ihnen. Er sprach: „Herr, Sie wissen wohl, wie gering mein Geschäft geht. Ich habe im Anfang recht schwer durchzukommen gehabt, und Sie waren so gut, mir Waren auf Credit anzuvertrauen. Aber die schweren Zeiten drücken mich hart, und ich weiß nicht, wie ich meinen Verpflichtungen nachkommen kann. Ich dachte, wenn Sie noch vier Wochen warten könnten, so käme ich bis dorthin in eine bessere Lage. Ich habe alle Aussicht auf einen günstigen Erfolg; Bestellungen sind da, und einige kleine Posten sollten mir auch noch eingehen. Aber ich sollte noch einen kleinen Vorrat von Waren haben, und vielleicht hätten Sie nun die Güte, mich noch weiter durch einen kleinen Credit zu unterstützen, wenn es Ihnen etwa möglich ist.“ „Lieber Mann,“ antworteten Sie ihm, „ich habe erst letzthin mehrere Ausstände verloren. Außerdem bieten Sie mir keine Sicherheit; ich kann Ihnen keinen Credit geben.“ Der junge Mann verbeugt sich und geht. Ihr wisst nicht, dass sein Geist sich noch tiefer beugte, als sein Rücken. Er hat zu Hause eine arme alte Mutter und zwei Schwestern, und er hatte ein kleines Geschäft angefangen, um für sich und die Seinigen das tägliche Brot zu erschwingen. Die letzte Zeit hatten sie kaum etwas Anderes zu genießen, als Brot und Wasser; und doch hat er sich hart angestrengt in seinem Beruf; aber ein Kunde, der noch ärmer war, als es schien, konnte ihm die kleine Rechnung, die er schuldig war, nicht bezahlen, und so war unser junge Mann außer Stande, Ihnen seine Schuld abzutragen. Und hätten Sie ihm geholfen, so wäre es noch Alles gut gegangen; so aber weiß er nicht, was anfangen. Sein Herz ist gebrochen, und seine Brust will, ihm zerspringen. Was soll nun aus dieser seiner armen Mutter aus den beiden Mädchen werden? Sie kannten seine Angst nicht, sonst würden Sie ihm geholfen haben. Aber die hätten Sie wissen sollen und können. Sie hätten ihm keine abschlägige Antwort geben sollen, bis Sie Erkundigungen über seine Verhältnisse eingezogen gehabt hätten. Nicht wahr, das wäre aber nicht geschäftsmäßig gewesen? Nein. Aber, mein Herr, geschäftsmäßig ist manchmal teufelmäßig. Weg mit Ihrem Geschäftsgeist, handeln Sie in Christi Geist. Nennen Sie sich einen Christen, so dienen Sie Gott im Gehorsam gegen sein Gebot: „Liebe deinen Nächsten, als dich selbst.“
„Ich aber bin stets liebevoll gegen die Armen,“ sagt ein Anderer. Da ist eine reiche, steinreiche Dame, die eine volle Spartruhe hat. Und sie geht hin und besucht die Armen; und wenn sie hineingeht, stellt man ihr einen Stuhl hin, und sie setzt sich, und fängt an, mit ihnen über die Sparsamkeit zu reden, und gibt ihnen ganz vortreffliche Vorschriften und Ratschläge darüber. Aber die armen Seelen machen große Augen, und verwundern sich, dass sie sollen anfangen zu sparen; sie haben ja kaum trockene Brotrinde zu beißen, und vermögen gar nicht zu begreifen, wie sie sich noch knapper einrichten können. -Dann fängt sie an, über Sauberkeit und Reinlichkeit zu predigen und macht hundert gehässige Bemerkungen über die Kleidchen der Kinder. „Nun,“ sagt sie, „liebe Frau, ich muss jetzt gehen, aber ich gebe Euch noch einen trefflichen Traktat über die Trunksucht; vielleicht gebt Ihrs eurem Mann.“ Gibt sies ihm, so schlägt er sie; darauf könnt ihr euch verlassen. „Seht da,“ sagt sie, „hier habt Ihr einen halben Gulden.“ Und da denkt nun meine Dame: „Ich liebe meinen Nächsten.“ Haben Sie ihnen denn die Hand gegeben? „Ach nein.“ Haben Sie herzlich mit ihnen gesprochen? „Herzlich? Das ist Lumpengesindel.“ Dann haben Sie das Gebot verleugnet: „Liebe deinen Nächsten, als sich selbst.“ Soll ich Ihnen sagen, was vor sich ging, nachdem Sie fort waren? Kaum hatten Sie die Türe hinter sich, so fing die Frau an zu weinen und war wie außer sich. Sie kam sogleich zu mir und suchte Trost. Sie sprach zu mir: „Ach, Sie wissen, ich bin Gott so dankbar, dass er mir heute ein wenig Trost geschenkt hatte, denn meine Seele war unter der Last fast erdrückt. Sie wissen ja, wir waren früher in bessern Verhältnissen. Heute Morgen kam Frau So-und-so zu uns, und machte mirs nicht besser, als wäre ich ein Hund, oder ein unverständiges Kind, und wenn sie mir schon einen halben Gulden gab, so hätte ich doch nicht gewusst, was anfangen. Ich brauchte den halben Gulden nötig genug, sonst hätte ich ihr denselben gewiss vor die Füße geworfen. Sie sprach auf eine Weise mit mir, dass ichs nicht ertragen konnte. Aber wenn Sie zu uns kommen, Herr Pastor, so weiß ich, Sie reden liebevoll mit mir, und wenn Sie mir auch nichts geben, so machen Sie mir doch keine Vorwürfe und kränken mich nicht.“ „Ach,“ sprach sie, „das Herz bricht mir schier. Ich kann das nicht ertragen, denn wir haben bessere Tage gesehen und sind eine andere Behandlung gewohnt.“ Nun, Sie haben der Frau keine Liebe bewiesen. Was war denn an Ihrem halben Gulden Gutes, wenn Sie ihn nicht in ein wenig Liebe einwickelten? Sie hätten ihn mit Ihrer Liebe vergoldet und einen Louisdor daraus gemacht. Sie hätte es weit höher geschätzt. „Liebe deinen Nächsten!“ Ach! wollte Gott, dass ichs selber immer könnte, und dass ichs Jedem von euch recht tief ins Herz prägen könnte: „Liebe deinen Nächsten, als dich selbst.“
III.
Und nun will ich den letzten Grund anführen, der ganz besonders Christen angeht. Ihr Christen, eure Religion verlangt liebe von euch. Christus hat euch zuerst geliebt! Er liebte euch, da nichts Gutes in euch war. Er liebte euch, obgleich ihr ihn schmähtet, ihn verachtetet, und ihn verwarfet. Er hat euch aufrichtig geliebt, und nie zu lieben aufgehört. Er hat euch geliebt in euren Verirrungen, in euren Sünden, in eurer Bosheit und Torheit. Sein liebevolles Herz war ewig unveränderlich dasselbe, und er vergoss seines Herzens Blut, um euch seine Liebe zu beweisen. Er hat euch gegeben, was ihr auf Erden nötig habt, und hat euch im Himmel eine Wohnung bereitet. Nun, ihr Christen, eure Religion verlangt von euch, dass ihr lieben solltet, wie euer Heiland euch geliebt hat. Wie könnt ihr ihm nachfolgen, wenn ihr nicht auch Liebe übet? Wir wollen den Juden, Türken und Heiden Kälte und Lieblosigkeit lassen; das stimmt mit ihren Ansichten und Lehren am besten überein; aber bei euch ist Lieblosigkeit ein sonderbarer Widerspruch. Es ist eine grobe Verletzung eurer Religion; und wenn ihr euren Nächsten nicht liebt, so sehe ich nicht, wie ihr treue Nachfolger des Herrn Jesu sein könnt.
Und nun schließe ich mit einigen gewichtigen Ergebnissen. Unser Textwort stellt zunächst fest unser Aller Schuld. Teure Freunde. Wenn dies Gottes Gebot ist, wer muss sich nicht schuldig bekennen? Wenn Gottes Gebot verlangt, ich soll meinen Nächsten lieben, so muss ich hier auf der Kanzel mich schuldig bekennen. Als ich gestern über diesen Text nachdachte, liefen die Tränen über meine Wangen, weil ich erkannte, dass ich in unbewachten Augenblicken manches harte Wort gesprochen hatte. Ich bedachte, wie oft ich meinen Nächsten betrübte, wo ich ihm liebevoll hätte begegnen sollen, und es trieb mich, hier meine Sünde zu bekennen.
Und ihr! Seid ihr nicht schuldig? Ihr liebevollsten der Seelen, ihr mitleidigsten der Herzen, seid ihr nicht schuldig? Wollt ihr es nicht bekennen? Und nun bedenkt: Wenn Niemand kann selig werden, es sei denn, dass er das Gesetz vollkommen erfülle, wer kann denn durch Werke selig werden? Hat Jemand unter euch seinen Nächsten sein ganzes Leben hindurch von ganzem Herzen geliebt? Dann müsstet ihr selig werden um eurer Werke willen, wenn ihr kein andres Gebot verlegt habt. Habt ihr es aber nicht getan (und ihr könnts auch nicht tun), dann hört das Urteil des Gesetzes: Ihr habt gesündigt, und ihr müsst sterben um eurer Sünden willen. Hoffet nicht, durch den Richterspruch des Gesetzes selig zu werden. Und 0, wie teuer ist mir um deswillen das Evangelium! Ich habe dies Gebot übertreten, und darum ist mir der Heiland so köstlich, der mich abwaschen kann von allen meinen Sünden durch sein Blut. Köstlich ist Er, der mir den Mangel an Liebe verzeihen kann, und vergeben, was mir fehlte an Herzensgüte - der vergeben kann meine Unzartheit und Gefühllosigkeit, der abtun kann all meine Härte in Reden, mein unzeitiges Eifern und meine Lieblosigkeit, und mir durch sein allversöhnendes Opfer einen Stuhl im Himmel erwirbt, trotz aller meiner Sünder. Ihr fühlt euch heute als Sünder, und unsere Betrachtung muss euch unter des Herrn Beistand davon überzeugt haben. Nun denn, ihr Sünder, so lasst euch auch die gute Botschaft verkündigen: „Wer da glaubet an den Herrn Jesum, der wird selig werden.“ Ob er gleich bisher dies Gebot Gottes übertreten hat, so wird es ihm der Herr nicht zurechnen, sondern ein neues Herz und einen neuen Geist in ihn geben, damit er fortan das Gebot halten könne und nach und nach erlange die Krone des Lebens in der ewigen Herrlichkeit.
Gott segne euch und sei mit euch um Jesu willen!