Spitta, Carl Johann Philipp - Wir waren auch weiland Unweise.
Tit. 3, 1-3. schreibt der Apostel: „Erinnere die Christen, daß sie alle Sanftmüthigkeit beweisen gegen alle Menschen. Denn wir waren auch weiland Unweise, Ungehorsame, Irrige, Dienende den Lüsten und mancherlei Wollüsten, und wandelten in Bosheit und Neid, und hasseten uns unter einander.“ Wenn wir im Gnadenstande unseres natürlichen Zustandes nicht vergessen, und bedenken, was wir waren, ehe sich Gott unserer erbarmte, so mag uns das eine Mahnung zur Sanftmüthigkeit gegen diejenigen sein, denen wir einst gleich waren. Und was waren wir damals? Wir waren Unweise; kannten weder Gott in seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit, noch uns selbst in unserer Unheiligkeit und Ungerechtigkeit; das Wort vom Kreuze war uns Aergerniß oder Thorheit, und eine andere Gerechtigkeit, als die durch des Gesetzes Werk, war uns unbekannt. Dennoch hielten wir uns für weise und verständige Leute, und dagegen diejenigen, die Christum ihre Weisheit und Gerechtigkeit sein ließen, und sich gläubig in Gottes Heils- und Gnadenordnung fügten, für unweise und unaufgeklärte Leute. Wir waren auch Ungehorsame. Denn obschon wir wußten, daß ein Gott sei, haben wir ihn doch nicht durch willigen, herzlichen, treuen Gehorsam geehret; und doch hielten wir uns für ehrliche und rechtschaffene Menschen, ja für Kinder Gottes, denen um ihre Seligkeit nicht bange sein dürfe. Ferner waren wir Irrige. Weil wir dem Worte Gottes nicht folgten, den Weg nicht gingen, davon es heißt: „Dies ist der Weg, denselbigen gehet, sonst weder zur Rechten, noch zur Linken!“ so ließen wir uns wiegen und wägen von jedem Winde menschlicher Lehre, gingen bald eigensinnig unseren eigenen bösen Gedanken nach, folgten bald leichtsinnig der Menge zum Bösen, kurz gingen in der Irre wie die Schafe ohne Hirten. Dennoch meinten wir nicht, auf dem Irrwege zu sein, ja, wenn sich einer unseres Gleichen bekehrte, so dachten wir: „der Mensch ist verführt!“ Auch waren wir Dienende den Lüsten und mancherlei Wollüsten. Augenlust, Fleischeslust und hoffärtiges Leben, das waren die drei Götzen, welchen zu Ehren wir Feste und Lustbarkeiten anstellten, denen wir die Blüthe der Jugend, die Kräfte und Gesundheit Leibes und der Seele opferten. - Und das nannten wir wahren Lebensgenuß, und wenn sich einer davon zurückzog, so befremdete es uns, und wir spotteten seiner, als eines Kopfhängers. Dabei wandelten wir in Bosheit und Neid, und hasseten uns unter einander. Anderen aus Eigennutz und Habsucht, oder wohl gar aus Schadenfreude Schaden zu thun, und ihr Gutes ihnen zu mißgönnen, jede erfahrene Kränkung und Beleidigung uns zum Hasse und zur Wiedervergeltung reizen zu lassen, und mit Worten und Werken wehe zu thun, oder bei kaltem und lieblosem Herzen uns zu geberden, als hätten wir uns gern und lieb: das war so unsere Lebensweise gegen einander, die uns aber nicht sündlich und gottlos schien. So waren wir weiland. Jetzt schämen wir uns dessen und beten die Gnade Gottes an, die uns da herausgerissen hat. Sollen wir aber nun nicht Sanftmüthigkeit gegen alle Menschen beweisen? Sollten wir uns gegen Unweise, Ungehorsame, Irrige, Lästerer, Boshafte geberden, als seien wir nicht ihrer Art und ihres Geschlechts gewesen, als seien wir von Natur oder durch unser Verdienst anderes Sinnes und Lebens geworden? Das sei ferne, denn von Gottes Gnaden sind wir, was wir sind!