Spitta, Carl Johann Philipp - Der Stärkere
Die Macht des Bösen ist eben so groß, als des Menschen Ohnmacht, sich derselben zu entreißen. Der Heiland vergleicht jene ein Mal einem starken Gewappneten, der seinen Palast, den ganzen wohl verschlossenen Umfang seines Wohnsitzes, also bewahret, daß das Seine mit Frieden bleibt, daß er über die Seinen mit stolzer Ruhe und sicherm Frieden herrscht. Unter seiner Botmäßigkeit stehen aber nicht blos die groben Sünder und schändlichen Lasterknechte, die Spieler, Säufer, Hurer, Diebe und dergleichen, sondern er zählt zu seinen Knechten und Mägden auch eine Menge äußerlich ehrbarer und anständiger Leute, die, so zu sagen, seinen Hofstaat ausmachen, seiner Hofhaltung einen rechten Glanz geben, und nicht wenig dazu beitragen, daß das Seine mit Frieden bleibt, und sich niemand zu Gott bekehrt. Aber wenn auch je zuweilen ein Mensch sich aus der Macht des Bösen herausreißen will, so findet sich doch bald, wie ohnmächtig er dazu ist. Er ist lange unter der Herrschaft der Sünde dahingegangen, alle menschlichen Ermahnungen, Warnungen und Drohungen, selbst die empfindlichsten Züchtigungen und Strafen sind vergeblich gewesen; die Macht schlechter Gewohnheiten, der Einfluß schlechter Gesellschaften, die mannigfaltigen äußeren Anreizungen zum Bösen sind zu stark; er findet in sich weder Kraft noch Lust zum ernstlichen Widerstande. Wenn sich ihm auch zuweilen die Ueberzeugung aufdrängt: „Du muß ein anderer Mensch werden!“ und in einsamer Stunde das Gewissen ihn schreckt, und er einen guten Vorsatz faßt: es wird doch nicht anders mit ihm. Da geschieht, was der Heiland Luc. 11, 22. sagt: „Es kommt ein Stärkerer.“ Der elende Sündenknecht lernt den Herrn Jesum kennen. Es geht ihm ein Licht auf über die Größe seines Verderbens und das Gefahrvolle seines Zustandes, es ist aus mit allem Entschuldigen; aber um so größer und herrlicher erscheint ihm nun die vergebende und erlösende Liebe Christi; und er erfährt sie an seinem Herzen. Christus beweiset sich ihm als der Stärkere. Er überwindet den Menschen, oder vielmehr überwindet er in dem Menschen den Geist des Unglaubens und Ungehorsams, nimmt ihm seinen Harnisch, darauf er sich verließ, das heißt, alles das, womit er sich sonst gegen Gottes Ansprüche und Forderungen wehrte; und der Mensch, der sonst ein Raub des Bösen war, wird nun ein Eigenthum seines Gottes und Heilandes. Ja, so ist es. Wem weichen die unsauberen Geister der Hoffart und Eitelkeit, des Geizes, Luges, Betruges und Diebstahls, der Unzucht und Völlerei, des Neides, Hasses und Zornes, und wie sie weiter heißen mögen, denn ihrer ist viel und ihr Name ist Legion? Sie weichen nicht vor leiblicher Züchtigung, sie lassen sich nicht mit Sprüchen menschlicher Weisheit bannen und durch die gemalten Bilder des Lasters und seiner Folgen schrecken. Frage einen von der Gewalt des Bösen Erlöseten: „Was hat dir die Augen geöffnet, daß du zu besseren Einsichten gekommen bist? Was hat dir die Ohren aufgethan, daß du auf Gottes Stimme hörest? Was hat dir Geschmack gegeben an dem, was wahrhaftig, was gerecht, was keusch, was lieblich, was wohl lautet? Was hat das Band deiner Zunge gelöset zum Lobe und Preise Gottes, zum Gebet und erbaulichen Reden? Was hat so einen starken Einfluß auf Herz, Sinn und Wandel gehabt, daß du ein anderer Mensch geworden bist?“ - Er wird keine andere Antwort haben als: „Der Herr Jesus hat's gethan! Der Stärkere ist über den Starken gekommen. Ja Herr, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen; du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen!“