Spener, Philipp Jakob - Ist die evangelische Kirche Babel und der Austritt aus ihr daher unerlässliche Pflicht? - Kapitel I. Von der Zulässigkeit und dem Nutzen der Klagen über das Verderbnis der Kirche.

Spener, Philipp Jakob - Ist die evangelische Kirche Babel und der Austritt aus ihr daher unerlässliche Pflicht? - Kapitel I. Von der Zulässigkeit und dem Nutzen der Klagen über das Verderbnis der Kirche.

§ 1.

Es ist keine Sache von gestern und heute, dass einige, um den Schaden Josephs herzlich bekümmerte Männer, wenn sie das große Verderben, welches in der ganzen Christenheit, besonders aber leider auch in unserer evangelischen Kirche Überhand genommen, wahrnehmen, nicht allein in ihrer Seele sich darüber bekümmert fühlen, und vor Gott ihre Seufzer ausschütten, sondern sich auch nicht entbrechen können, ihre Wehmut und Klagen öffentlich vor den Gemeinden in Predigten oder wohl gar der gesamten Kirche durch den Druck vorzulegen. Die Personen und solche Schriften namhaft zu machen, ist nicht notwendig; es sind derselben Namen und Inhalt den Meisten bekannt, die nur etlichermaßen darauf bedacht sind, zu wissen, was in der Kirche vorgeht. Ich leugne auch nicht, dass ich, obwohl andern christlichen Vorgängern an Gaben und Weisheit nicht gleich, dennoch in aufrichtiger Absicht mich denselben beigesellet und ihnen nachgeschrieben habe, wie hin und wieder in andern öffentlichen Schriften, so auch in den bekannten Pia Desidera.

§ 2.

Zunächst dürfte über solcherlei Klagen wohl die Frage aufgeworfen werden: ob es auch billig sei, dieselben, zumal öffentlich, zu führen, oder ob es nicht der Kirche nachteilig und gefährlich sein möchte, wenn wir die Fehler derselben zu ihrer Schande öffentlich aufdeckten, und dadurch die Schwachen ärgerten, die Feinde der Wahrheit erfreuten und zu größerer Lästerung ihnen Ursache gäben, ohne überhaupt etwas zu fruchten? Denn es ist nicht zu leugnen, dass nicht nur Leute, welche sich in ihrem eigenen Gewissen bei solchen Klagen getroffen fühlen und eben daher mit ihnen nicht zufrieden sind, solche Klagen als etwas Schädliches oder doch Unnützliches verdammen wollen, und sich darüber beschweren: sondern auch, dass gute Gemüter zuweilen von solchen eingenommen und ängstlich gemacht werden. Wenn wir aber die Sache in der Furcht des Herrn überlegen, werden wir finden, wie einmal keine genugsame Ursache sei, die uns nötige, dass man solchen Klagen verschweigen und verdecken müsste, oder sie ohne Nutzen, ja gar schädlich achten sollte: vielmehr, dass wichtige Ursachen sind, welche für deren Publikation sprechen und diese von der andern Beschuldigung befreien; wie ich auch bereits anderweitig (in Piis Desideriis) hievon Etwas gehandelt habe.

§ 3.

Gleichwohl will ich nicht alle Klagen, die von Jemand geschehen möchten oder geschehen wären, ohne Weiteres billigen, weil sowohl in diesen als auch in andern an sich sehr guten Sachen gefehlt werden kann. Es können Klagen die Wahrheit überschreiten, und weiter gehen als sie sollten, womit freilich mehr Böses als Gutes ausgerichtet wird. Sie können auch von Einigen in solcher Absicht und auf die Weise geführt werden, um das gesamte äußerliche Kirchenwesen vielmehr über den Haufen zu werfen und zu zerstören, als um dasselbe zu bessern und aufzurichten, wovon in dem folgenden Kapitel, als von einem gefährlichen Missbrauch, gehandelt werden soll. Es kann auch, obwohl die Klagen an sich alle wahrhaftig und gerecht sein mögen, an der Person mangelt, welche dieselben führt, dass sie wenigstens von ihrer Seite kündlich würden: nämlich weil ihr solche Klagen nicht zukommen, oder sie dieselben nicht aus solchem Herzen tut, wie es sein sollte. Hiermit will ich nicht eben die Meinung aussprechen, als sei das Recht, solche Klagen zu führen, auf gewisse Personen einzuschränken, etwa wenn nicht gerade auf die vornehmsten Theologen, welchen Gott einen großen Teil seiner Kirche, und also gleichsam eine Mitinspektion auf die Übrigen in gewisser Weise anvertrauet hat, doch allein auf den Prediger, die Andern aber alle von solchem Rechte auszuschließen und ihre Klagen für ungeziemenden Vorwitz zu achten seien; ich bekenne im Gegenteil, dass nicht nur die vornehmsten in den geistlichen Kirchenbedienungen, sondern jeglicher Prediger neben seinem besondern Amt an der einzelnen Kirche auch der ganzen Kirche insofern verbunden sei, dass er, mit Gebet und wo er aus Gottes Gnade Solches vermag, mit Rat und auf jede mögliche Weise derselben Bestes befördern dürfe, ja nach Umständen solle. Dahin gehört auch, dass, wo er durch bewegliche und gegründete Klagen Nutzen zu schaffen hoffet, er sich dieses Mittels bediene und keine Sünde hiervon befürchte. Aber ich glaube auch, dass es nicht immer für Vorwitz zu achten sei, wenn andre christliche Gemüter, die nicht eben in einem Kirchenamt stehen, dennoch solche Schäden mit geistlichen und erleuchteten Augen ansehen, und ihre Besserungsgedanken zur Nachricht und Beurteilung der Kirche vor Augen legen. Ich weiß vielmehr, dass solcher Leute Schriften und gute Vorschläge zuweilen bei Einem und dem Andern mehr Eingang gefunden, als die der Theologen, weil man diese öfters verdächtigt, als wären sie allein über den gegenwärtigen kirchlichen Zustand so missvergnügt, und könnte es ihnen Niemand recht machen, ja als vermöchten sie aus Handwerksgewohnheit nichts anders als klagen. Dergleichen Verdacht trifft nicht allemal Diejenigen, welche von Gott nicht in das geistliche Amt gesetzt wurden. Deswegen will ich keinem, der in sogenanntem weltlichem Stand lebt, verargen, noch vielweniger verbieten, wenn er eine ziemlich gründliche Erkenntnis des Verderbens erlangt hat, dass er auch seine Wehmut und Begierde nach Besserung öffentlich bezeuge, ob nicht durch die von allen Seiten und von vielen Personen einmütig ertönenden Klagen andre Sichre noch aufgeweckt werden möchten. Es bleiben also mit Fug allein Diejenigen ausgeschlossen, welche nichts von dem nötigen Licht empfingen, noch diejenigen Augen haben, womit das ganze Kirchenwesen anzusehen ist. Ihre Klagen sind nicht, wie sie sollten, begründet und können nicht wohl etwas anderes als Ärgernis statt Besserung bringen.

§ 4.

Es kommt aber auch darauf an, aus welchem Herzen solche Klagen ausgeschüttet werden. Geschehen sie aus einem Herzen, das aus Verdruss zu einer Trennung und deren Begründung dadurch Gelegenheit sucht, und sie damit beschönigen will, (wobei ich gern bekenne, dass wenn ein Cham oder Chanaan die Blöße seines Vaters Noah, oder wir die Blöße unsrer Mutter der Kirche mit Belustigung anschauen und Andern zum Spott aufdecken wollten, dies des Fluches würdig wäre) oder geschehen sie aus Rache, weil Jemand, der von einigen Lehrern und Personen ungütig behandelt wurde, dieselben beschimpfen, und da sie ihm zuwider gewesen sind, ihnen recht wehe tun will, oder um seine Erfahrungen von der Kirche, damit er für einen tiefblickenden und vorausschauenden Mann gelte, ehrsüchtig an den Tag zu legen, oder aus einer gleichmäßigen fleischlichen Ursache: so sind solche Klagen unrecht und sündlich. Das Gift der fleischlichen Affekten verderbet die an sich unleugbare Wahrheit und Gott wird wenig Segen zu dergleichen geben, ja wohl eher sein Gericht über solche falschen Ankläger (wozu sie durch unziemende Beschwerden vor Gott werden) ausgießen. Sollen hingegen die Klagen göttlich sein, so müssen wir in unsrer Seele die Versicherung haben, dass wir es tun aus der herzlichsten Liebe zu Jesu, die uns eifrig macht, seine Lehre, Ehre und Exempel zu retten und aus innigem Mitleiden gegen die armen Leute, welche in dem Verderben stecken, um ihnen die Augen zu öffnen, die Gefahr, in der sie leben, sie erkennen zu lassen und sie vielmehr davor zu verwahren, dass sie nicht hinein verflochten werden oder um sie wieder daraus zu erretten; ja sie müssen auch aus dem brünstigen Verlangen hervorgehen, dass geholfen und die Kirche möge gebessert werden, besonders aber dass alle Christen zu desto herzlicherem Gebete für dieselbe angeregt und Diejenigen, in deren Hand größere Macht steht, zu desto treuerer Sorge, all ihr Vermögen zum rechten heilsamen Zweck anzuwenden, aufgemuntert werden. Diese Zwecke, wann sie redlich sind und unser Gewissen nach eifriger Prüfung uns Zeugnis gibt, dass sie aus Gott sind, bezeugen uns, steht sonst nichts Anderes dem entgegen, der Trieb, aus dem wir solche Dinge übernehmen, sei nicht vom Fleische, sondern vom Geiste und wir hätten hierbei Segen von dem Herrn zu erwarten.

§ 5.

Hierzu setze ich billig, dass man bei solchen Klagen nicht stehen bleiben, sondern so viel als möglich darnach trachten solle, zugleich Mittel und Rat an die Hand zu geben, wie der ganzen Sache oder doch diesem und jenem Gebrechen abzuhelfen wäre. Denn weil es großen Teils um solche Hilfe zu tun ist, so sind die Klagen nichts anders als gleichsam eine Vorbereitung zu den Hilfsmitteln, und soll man nicht gern bei ihnen allein verbleiben, es wäre denn der Fall, dass Jemand das Übel ziemlich einsähe, aber nicht eben selbst Rat wüsste und also nur Andere, damit sie beilsamen Rat gäben, aufwecken wollte: wie einer, welcher selbst lahm ist und nicht löschen kann, wohl über Feuer rufen und Andre anregen kann zu löschen, selbst aber durch seine Schwachheit abgehalten wird. Wenn es aber zu rechtem Nutzen gereichen soll, so ist es billig, dass gottselige Herzen nicht nur die Wunden und den schädlichen Eiter entdecken, sondern auch genugsame Mittel und Arzneien anzeigen, wie die Krankheit zu heilen, damit die Leser nicht nur zur Traurigkeit über das Böse in diesen letzten Zeiten, sondern auch zur Hoffnung einer Besserung und zu einem wahren Lobe Gottes ermuntert werden! Es werde dabei nicht verschwiegen dasjenige Gute, was Gott noch in allem Verderben erhalten hat, auf dass wir ihn nicht um die Frucht des Lobens und Dankens, die ihm auch deswegen gebührt, mutwillig bringen. Wahre Christen pflegen ja schon im gewöhnlichen Leben, sobald sie sich selbst und das allgemeine Verderben des menschlichen Herzens erkennen, ihres Nebenmenschen Gebrechen zwar freundlich und liebreich zu seiner Besserung zu bestrafen, aber dabei auch voll tiefer Herzensdemut wegen ihrer erkannten eignen Gebrechlichkeit, mit Liebe der Sünden Menge bedecken, und Geduld mit den Schwachen und Tadelhaften zu tragen, auch das Gute, welches sie noch an solchen oder anderen ihrer Nebenmenschen reden, eben sowohl zu preisen, auf dass sie alle zu stetem Lobe Christi, der solches in ihnen wirket, ermuntern; das ist Gott gewiss der heiligste Dienst!

§ 6.

Vorausgesetzt nun, dass dergleichen Klagen von christlichen und in der Sache nicht unerfahrenen Männern aus solchen Herzen geführt werden, wie derselben viele vor Augen liegen, so haben wir nun fug zu sagen, dass dergleichen Klagen zu führen nicht unbillig und wider unser Christentum, sondern der christlichen Pflicht ganz gemäß sei. Denn 1. finden wir dergleichen Klagen in der Schrift, besonders bei den Propheten, wo die teuren Gottesmänner so gar kein Blatt vor den Mund nehmen, sondern die Gräuel, die in der israelitischen Kirche vorgingen, dermaßen mit lebendigen aber schrecklichen Farben beschreiben, dass man, wenn es nicht Worte des heiligen Geistes wären, oft zweifeln sollte, ob zuweilen nicht zu viel geschehen und ob es möglich gewesen, dass alles in ein solches Verderben habe verfallen können. Aber wir wissen, dass dieselben aus dem Geist desjenigen geredet haben, welcher Alles nicht nach dem äußerlichen Ansehen, sondern der innerlichen ihm allein bekannten Beschaffenheit der Herzen beurteilet und Niemand unrecht tut. Diese Klagen hat der Herr lassen in diejenigen Bücher verfassen, welche so lange die Welt stehet, seinen Kindern zum Unterricht dienen sollen, und also noch jetzt gelesen werden, wo die Klagen denjenigen Zweck nicht mehr haben können, wozu wir sie für sonst nützlich erkennen, nachdem längst jene Kirche im Gericht untergegangen und man demnach hätte denken mögen, dass es nicht eben notwendig gewesen. Er hat es darum getan, dass solche Klagen gleichsam mit einem eisernen Griffel auf Blei und zum ewigen Gedächtnis in einen Felsen gehauen würden, d. i. dass sie dem ewigen Gedächtnisbuch der Kirche einverleibet würden. Aber gleichwie die Gerichte, welche den Alten begegnet sind, uns eine stete Erinnerung geben, auf welche das Ende der Welt gekommen ist, dass wir nicht einen gleichen Zorn reizen: also sind uns solche Klagen noch allemal eine Anzeige der Ursachen, warum der Herr dergleichen Gerichte habe ergeben lassen. Nicht minder sind sie ein Zeichen, was seines Geistes Art sei; dass er nämlich in dem Herzen seiner treuen Diener durch Anschauen des allgemeinen Elendes sehnliche Wehmut und Schmerzen erwecke, welche abermals durch seinen Trieb bei jeder Gelegenheit in bittere Klagen ausbrechen, die wir deshalb nicht für Ausflüsse fleischlichen Widerwillens und Ungeduld, sondern für Wirkungen göttlichen Eifers und Liebe zu achten haben. Mindestens haben wir nicht, was damals unbezweifelte und unmittelbare Eingebungen des heiligen Geistes bei jenen, seinen auserwählten Werkzeugen waren, als etwas an sich Unziemendes, Unnützes oder Schädliches anzusehen: zumal alle diejenigen Bedenken, welche man bei den heutigen Klagen hat oder sich selbst machen kann, nicht weniger jenen Alten hätten mögen entgegen gehalten werden, die nichts desto weniger göttlich geblieben sind und noch dafür von uns erkannt werden müssen. Ferner, was die alten Propheten weitläufiger getan, finden wir auch in einigen Episteln St. Pauli, wo nicht wenige Klagen mit untermischt sind. Diesem Exempel nach haben die alten Kirchenväter auch keine Scheu getragen, zu den Seiten, da das Christentum anfing sehr zu verfallen, dergleichen Klagen, die auch jetzt gehört werden, oft anzustimmen, wie man noch in ihren Schriften liest. Sonderlich beschreibt Salvianus Presbyter Massiliensis in seinen Schriften, als ein anderer Jeremias seiner Zeit, mit solcher Freimütigkeit den damaligen Zustand der sonst wahren Kirche, und klagt wie die Rechtgläubigen von den Fälschgläubigen und Barbaren in einigem Guten übertroffen würden, dass man namentlich seine Bücher de gubernatione dei et de justo praesentique ejus judicio ad Salonium episcopum nicht ohne Entsetzen und Mitleid lesen kann, da ohnehin schwerlich zu dieser Zeit es jemand an freimütiger Rede ihm zuvortut.

§ 7.

Dazu kommt ferner, dass diese Klagen über den großen Verfall der Kirche nur allzu wahr sind; nun ist aber, die Wahrheit in allen Stücken zu bekennen, vielmehr für recht als für sträflich zu halten; und müssen hingegen wichtige Ursachen sein, wenn zuweilen die Wahrheit verhehlt werden sollte; ich wenigstens kann keine solche erkennen und habe sie auch nicht anderwärts angeführt gesehen. Dazu setze ich billig noch, dass die meisten Stücke solchen Verderbens ohnedies so offenbar sind und vor Augen liegen, dass unser Verschweigen sie doch nicht bedecken oder verbergen kann, sondern nur einen neuen Vorwurf verursacht, als trüge man keinen gehörigen Hass gegen dasjenige, was anstatt einer ernsten und eifrigen Bestrafung nur zu verhehlen und zu vertuschen gesucht würde. Daher haben wir von der Unterlassung der Klagen keinen Vorteil, vielmehr gar leicht Schaden: hingegen mögen die Klagen selbst, recht geführt und beobachtet, nicht geringen Nutzen bringen, davon wir nachmals in dem 3. Kapitel zu handeln haben werden.

§ 8.

Die scheinbarsten Einwürfe gegen dieselben mögen hergenommen werden von dem daraus zu besorgenden Ärgernis der offenbaren Widersacher und Feinde der Kirche wie der in derselben lebenden Schwachen, wodurch diese zu allerhand Zweifeln und wenn nicht geraten wird, zu andern gefährlichen Entschließungen und Trennungen gebracht, unsere Kirche und ihre Wahrheit zu lästern und ihrer Kirche und deren Lehre ein Ansehen zu geben veranlasst werden möchten. Und es ist nicht zu leugnen, dass es nicht mangle an Exempeln von beiden Seiten, vornehmlich der Widersacher, meistens der Papisten, die sich dieser Bekenntnisse zu ihrem Vorteil, namentlich bei Unbegründeten und Schwachen, meisterlich zu bedienen wissen. Aber wenn die Sache an sich, wie oben bezeugt, gut und göttlich ist, so darf sie wegen zufälligen und genommenen Ärgernisses nicht unterlassen, sondern nur darauf Sorge verwandt werden, dass man sich um so vorsichtiger benehme und derartigem Ärgernisse, so viel möglich begegne. Will sich nachmals Jemand ferner mutwillig daran ärgern, der tue es auf seine Gefahr und seinen Schaden; er wird aber selbst deswegen die Verantwortung tragen müssen, und sie nicht auf diejenigen schieben können, welche aus christlichem Eifer ihre Klagen zum Zweck der Besserung geführt haben. Wie denn die Pharisäer sich auch an der Lehre und Rede Christi ärgerten, er aber ihnen zu Gefallen nicht das Mindeste davon änderte oder ausließ Math. 15,12 u. 13.

§ 9.

Was nun insonderheit die Sorge wegen der Widersacher anlangt, welche die Bekenntnisse gegen uns missbrauchen möchten, so mag auch diese Furcht solche freimütige Klage nicht mit Recht zurückhalten. Wir zeigen ihnen keine andern Schäden als solche, die sie vor unserer Anzeige längst, und wohl tiefer als wir glauben, eingesehen haben, und worüber sie sich trefflich belustigen. Daher werden sie, wir mögen die Klagen bekennen oder nicht bekennen, uns dieselben vorrücken; wir aber, dass sie uns mit Nachdruck und zu dem bezweckten Ende nicht weiter vorgerückt werden, mit Nichts kräftiger abwehren können, als wenn wir selbst unser Missfallen daran bezeugen und Besserung verlangen. So ist denn die Kirche insofern außer Schuld, wegen der Dinge, welche sie an ihren Kindern schilt und zu deren Besserung sie allen Fleiß anwendet; da sie sich hingegen in Gemeinschaft der Schuld ziehen würde, wenn sie durch die Finger sehen und mit Stillschweigen sie gleichsam billigen wollte. Wir mögen also unsern Widrigen diese Art Klagen als das Zeugnis der evangelischen Kirche durch den Mund oder Feder vieler ihrer besten Glieder und Lehrer also vorhalten, dass uns nicht als unser mag beigemessen und Schuld gegeben werden, was uns selbst zuwider. Übrigens haben die meisten Widersacher, namentlich die römisch-papistischen, welche gern solcherlei Bekenntnisse missbrauchen möchten, vor ihrer Türe zu kehren, und wenn sie die Augen recht öffnen wollen, so werden sie sehen, dass alle an uns beklagten Fehler bei ihnen nicht nur gleichermaßen, sondern gewöhnlich auf noch gröbere Art sich finden. Daher müssen sie erinnert werden, den Balken erst aus ihren Augen zu ziehen, ehe sie den Nächsten wegen seines geringeren Splitters gar blind zu machen sich erkühnen. Und das um so vielmehr, da wir ziemlich deutlich zeigen können, dass der Ursprung alles dessen, was in unserer Kirche gefehlt wird, von ihnen herkomme, bei welchen die Quelle des Verderbens im Christentum ausgebrochen ist und von welchen aus in andre Gemeinden einige Ausflüsse desselben gedrungen sind: was unsere Fehler freilich nicht genug entschuldigt, aber sie um soviel heftiger beschuldigt. Wollen sie jedoch zu hart mit solchen Bekenntnissen auf uns dringen, so mangelt es uns nicht an Klagen redlicher Leute, die in der Gemeinschaft ihrer Kirche gelebt, welche gewiss nicht von weniger Wichtigkeit sind als die, von den Unsern geführten. Es finden sich nämlich nicht nur unter den Alten, die vor unserm seligen Luther gelebt, Viele, von denen wir nur Nicolaus de Clemnangis und das zu Anfang der Reformation ausgegangene Buch, onus ecclesiae, anführen, sondern es sind auch neuerliche Exempel vorhanden von hohen und andern Standespersonen, welchen ihre Aufrichtigkeit und Redlichkeit dergleichen Bekenntnisse abgenötigt hat, die, wenn aus dergleichen Klagen über die Religion selbst geurteilt werden sollte, uns nicht weniger Vorteil gegen ihre Kirche als unsere ihnen gegen uns geben würde. Ja noch vielmehr, weil bei ihnen der monarchische Staat des Kirchenregimentes den Namen haben will, eben dahin gerichtet zu sein, dass den Fehlern der Kirche unter einer solchen Verwaltung, wo Alles unter einem sichtbaren Haupte ist, desto besser gesteuert und gewehrt werden sollte, dass sie nicht überhand nehmen; Anstalten haben und sie dennoch nicht gebrauchen, ladet eine desto größere Schuld ihnen auf.

§ 10.

Das Ärgernis der Schwachen und derselben Gefahr sollte von größerer Wichtigkeit zu sein scheinen; wenn wir aber bedenken, dass für dieselben eben so gefährlich ist, wenn solche Klagen unterbleiben, während sie gegen solches Ärgernis kräftig genug verwahrt werden können, so werden wir abermals leicht finden, dass auch die Rücksichtnahme auf sie diese Bekenntnisse und Klagen nicht aufheben solle. Es kann endlich das Ärgernis, welches sie sonst nehmen würden, schriftlich klug abgewandt werden, wenn man sie unterrichtet, wie sie diese Klagen anzusehen und sich dabei zu benehmen haben; und die Nichtigkeit der gefährlichen Folgen, welche man daraus, um sie zu verwirren, abnimmt, ihnen deutlich vor Augen stellet, wie jetzt Cap. 2 geschehen soll. Dann ist nicht mehr zu besorgen, dass sie Schaden davon nehmen werden. Wo dagegen solche Klagen unterlassen und verschwiegen werden, geraten auch gute Seelen eher in eine Sicherheit, indem sie denken, es stehe mit der Kirche gar wohl; was sie also öffentlich und an den Meisten wahrnehmen, sei allerdings recht und nicht nötig, sich um Mehreres zu bemühen, dadurch werden sie in das Verderben desto tiefer hineinversenket, je weniger sie wissen, dass Etwas verdorben sei. Ja, wenn sie ein Anderes in der Schrift finden, als sie in dem gemeinen Leben sehen, so kommen sie, indem sie aus der Annahme, unsere sei die wahre Kirche, schließen, es stehe darin auch wie es solle, wohl leicht auf die Gedanken, es sei die Schrift nicht eben also zu verstehen, noch könne dasjenige von uns gefordert werden, was dem Buchstaben nach zwar darin steht, wovon sie aber täglich Nichts sondern das Gegenteil vor Augen sehen. Allem Diesen wird gewehrt, wenn sie hören, dass Alles selbst in der wahren Kirche in großem Verfall stehe, und deswegen Niemand seine Regel in dem Exempel anderer Leute oder dem dermaligen Zustande der Kirche, sondern in der Schrift und ihrer Beschreibung der lebendigen Glieder der wahren Kirche suchen solle. Ohne diese Verwahrung kann nicht leicht verhindert werden, dass sie sich nicht von dem gemeinen Strom mit hinreißen lassen.

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