Seckendorff-Gutend, Henriette Freiin von - Hausandachten - 14. Andacht.
Psalm 119, 121-136.
„Ich halte über dem Recht und Gerechtigkeit; übergib mich nicht denen, die mir wollen Gewalt tun.“
Wer sich felsenfest auf den Herrn und Sein Wort verlässt, meine Lieben, nach Seinem Willen und in Seinem Gehorsam zu leben trachtet, der darf sich auch der Hilfe und des Schutzes des Herrn allezeit getrösten. Wir müssen uns nur stets bewusst sein, dass wir aus eigener Kraft gar nichts können, nicht einmal den Versuchungen des Fleisches und der Welt Widerstand leisten, deshalb einen kräftigen Beistand nötig haben, der uns aber jederzeit mit Freuden zu Teil wird, wenn wir seiner nur begehren. Der Psalmist sagt Vers 123: „Meine Augen sehnen sich nach Deinem Heil und nach dem Wort Deiner Gerechtigkeit.“ Spricht so ein Mann des alten Bundes, was sollen wir sagen, wir, die wir im Vollgenuss des Heils stehen könnten, wenn wir nur wollten. Die Erlösung ist geschehen, die vollgültige Gerechtigkeit uns erworben, der Herr hat am Kreuz Sein: „Es ist vollbracht!“ ausgerufen. Der Satan ist ein Gerichteter, hat also keinerlei Macht mehr an uns, wenn wir sie ihm nicht selbst einräumen. Wir dürfen also nur zugreifen und essen das Gute, das uns bereitet ist. Der Herr hat uns Sein Wort, Sein teuer wertes Wort gegeben, das ewig fest steht, und das uns lieber sein soll als Honig und Honigseim, lieber als Gold und viel feines Gold, wie der Psalmist sagt. Er klagt über seine Zeit, wo das Gesetz des Herrn zerrissen daliege. Er hält es so gut wie zerrissen, weil es durch Menschenwort und Satzungen verunreinigt und dadurch seine Kraft geschwächt worden, setzt aber hinzu: „Ich halte dennoch stracks Deine Befehle, ich hasse allen falschen Weg,“ V. 128. Wir, meine Lieben, haben das Wort Gottes rein und unverfälscht, und doch, wie Wenigen ist's lieber als Gold und viel feines Gold; wie Wenigen ist's ihres Fußes Leuchte und ein Licht auf ihrem Wege. Ist das nicht furchtbar beschämend für uns, die wir nur zugreifen und Gnade um Gnade nehmen dürfen. Der Herr hat ja Alles erworben, was wir brauchen, Seine vollgültige Gerechtigkeit, in die wir uns kleiden, die heimlichen Schätze und verborgenen Kleinodien, die alle auf dem Gnadentisch liegen, und die wir umsonst haben können.
So lange es noch so bei uns steht, meine Lieben, so lange wir noch seufzen und klagen: „Ach, ich kann eben nicht und mir gilt das nicht rc!“ so lange wir nicht fest auf das Wort bauen: „Haltet euch dafür, dass ihr der Sünde abgestorben seid und der Gerechtigkeit lebt,“ Röm. 6, 11. und mit dem Minister von Pfeil sagen könnet:
„Ich lebe, doch nun nicht mehr ich,
Er lebt in meiner Seele,
Nun hab' ich ihn, nun hat Er mich
Und alle meine Fehle;
Nun ist, (Er steht mir selbst dafür,)
Gar nichts Verdammlich's mehr an mir!“
so lange sind wir noch nicht demütig, noch nicht froh an der Gnade, so lange können uns die Stolzen noch nach V. 121 Gewalt antun, weil wir selbst noch stolz und hochfahrend, trotzend auf eigene Kraft und Macht sind, und diese lässt uns jeden Augenblick im Stich, und reicht gegenüber der Macht der Finsternis vollends gar nicht aus. Im Herrn nur haben wir Macht und Stärke. Wenn wir Ihn haben, dann stehen wir auf einem unerschütterlichen Felsen, denn der Fels ist Jesus Christus, der nicht weicht noch wankt, und wer Jesus hat, der hat auch Sein Wort, denn Jesus ist das Wort, und der ist geborgen für Zeit und Ewigkeit. Wie sind wir doch so ungeschickte Leute, dass wir nicht stracks darauf los gehen, allerlei Umwege vorher machen, eigene Wege, die eitel Unfall und Herzeleid sind, wo wir einen Tag fröhlich, den andern wieder traurig sind, weil wir uns oft unnötig abhärmen und abquälen, und so nie zur Ruhe und zum Frieden kommen können. Bei dem Herrn aber ist Gnade und viel Vergebung, in Seiner Kraft wird uns Alles leicht, und der glückseligste Zustand ist der, wenn wir uns als völliges Nichts fühlen. Ich kann euch versichern, je ohnmächtiger, vernichteter ich mich fühle, desto kräftiger kann der Geist Gottes in mir wirken, desto mehr Ströme des lebendigen Wassers können auf mich fließen, und desto reicher und glücklicher fühle ich mich.
V. 132 fleht der Psalmist: „Wende Dich zu mir und sei mir gnädig, wie Du pflegest zu tun denen, die Deinen Namen lieben.“ Ja, in allen Lagen des Lebens dürfen wir uns an Ihn wenden. Er hilft nach Seele und Leib; wie oft zeigte mir das der Herr schon. So kam unlängst ein sehr lieber Jüngling zu mir, den ich schon länger kenne; er hatte sich in seinem Beruf an der inneren Handfläche durch einen Splitter schwer verletzt; die Wunde eiterte stark, und die ganze Hand schwoll auch dermaßen an, dass ein gerade anwesender Arzt sagte, man müsse die Hand kataplasieren1), die Wunde aufschneiden und die ganze Hand schindeln2). Er habe derartige Verletzungen schon öfters behandelt, aber vor 4-6 Wochen sei an keine Heilung zu denken. Darauf sagte ich dem Jüngling, der in große Not geriet, in meinem Haus werde weder kataplasiert, noch geschnitten, noch geschindelt; er habe jetzt die Wahl und könne sich entweder einem Arzt anvertrauen oder sich in meinem Haus durch die Kraft des Blutes Jesu heilen lassen. Er wählte Letzteres, worauf ich ihm nach meinen Erfahrungen sagen konnte, dass er nicht 4-6 Wochen zur Heilung brauche, sondern, wenn er treu sei und pünktlich befolge, was ich ihm sage, so könne er schon in sechs Tagen wieder hergestellt sein. Der liebe Jüngling ging auf Alles, was man ihm sagte, sehr gewissenhaft ein, und was tat der Herr? Schon am fünften Tag konnte er auf meinem Harmonium spielen, und in acht Tagen war die Hand vollständig geheilt. Dieser liebe Jüngling fasste alles, was ich ihm sagte, so kindlich auf und hatte ein solches Verlangen innerlich weiter zu kommen, dass er, wie ich später erfuhr, den Herrn gebeten hatte, Er möge ihm ein kleines Unwohllein schicken, damit er, einige Zeit von seinem Geschäft befreit, Gelegenheit finde, in meinem Haus die Andachten und das Gebetsleben mitmachen zu können, weil er ohne Unwohlsein nicht hätte hierher kommen dürfen. Und wirklich ließ ihm der Herr wenige Tage nachher diese Verletzung an seiner Hand zustoßen. So gnädig ist der Herr, so schnell wendet Er sich zu uns und erhört unseres Herzens Sehnen nach geistlicher Speise! Der liebe junge Mann wurde in der kurzen Zeit, die er im Haus zubrachte, innerlich auch so gestärkt, dass er mit fröhlichem Mut wieder an seine Arbeit ging. Die Gnade Jesu ist unaussprechlich groß! Ach, wir sollten vielmehr um Gnade bitten, den Tag über viel seufzen: „Herr, sei mir gnädig, Herr, erbarme dich mein!“ usw.; denn,
„Ein nach ihm geschickter Blick
Bringt viel tausend Heil zurück.“
Wir können der Gnade nie zu viel bekommen und dürfen wohl auch schon im Voraus an unser Sterbestündlein denken, dass wir da nicht zu darben haben, denn es kann viel schneller kommen, als wir glauben, und dass es bei einem Jeden von uns einmal kommen wird, das ist uns Allen klar bewusst. Aber wie steht es mit deiner Seele, ist sie für die Ewigkeit zubereitet? Hast du Allem abgesagt, auch der geringsten Lust, hast du dich von allem Irdischen losmachen lassen, hängst du auch nicht mehr an deinem eigenen Fleisch, an deinem eigenen Ich? Ist der stolze Heilige in dir ganz vernichtet? Der Herr nimmt es mit Seinen Kindern sehr genau; wie auch jenes Lied von Zinzendorf sagt:
„Zerbrich, verbrenne und zermalme,
Was dir nicht völlig wohlgefällt;
Ob mich die Welt an einem Halme,
Ob sie mich an der Kette hält,
Ist Alles eins in deinen Augen,
Da nur ein ganz befreiter Geist,
Der alles Andre Schaden heißt,
Und nur die lautre Liebe taugen.“
Ist es so bei euch, ihr Lieben? Ich kannte eine liebe teure Frau, welche ich als mütterliche Freundin hochschätzte und sehr liebte; sie wurde durch viele Unterredungen, die wir miteinander über göttliche Dinge hatten, eng mit mir verbunden und war mir zum großen Segen. Sie liebte ihren Heiland und hatte ein klares, nüchternes Verständnis für das Wort Gottes. Meine innigste Freude bestand in dem Verkehr mit dieser Frau. Sie war ernstlich bestrebt, dem Herrn nachzufolgen und zu dienen, aber Etwas ließ sie bei ihrem so gesegneten Wirken mit unterlaufen, nämlich eine zu große Ängstlichkeit und Empfindlichkeit für ihren Körper. Diesen pflegte und hütete sie zu sorglich, ihr liebes Ich war noch nicht vernichtet. Das konnte aber das liebende Auge Jesu an seinem sonst so lieben Kind nicht ertragen: Er schickte ihr ein schweres Herzleiden (Herzbeutelwassersucht) zu und wollte sie dadurch von allen Schlacken vollends reinigen, da sie schon in höherem Alter stand. Sie verstand aber leider diese liebende ernste Sprache des Herrn nicht; ja ihre Zärtlichkeit und Weichlichkeit gegen sich selbst nahm überhand; sie konnte die Wege des Herrn nicht verstehen, und leider brachte ihr dieses Leiden weder inneren noch äußeren Segen. Sie wurde im Gegenteil immer friede- und ruheloser; ihr Körper, welcher mit außerordentlicher Liebe und Sorgfalt gepflegt wurde, nahm ihre ganze Zeit in Anspruch. Eine gelegene Zeit jedoch, um über göttliche Dinge zu reden, fand sie nicht mehr. Die Sorgen für ihr Herzleiden nahmen ihre Gedanken ganz in Anspruch, und ein großes Anliegen, ja ihr sehnlichster Wunsch, war: wenn sie nur in ihr Herz sehen könnte, was darinnen sei! Dies sagte sie, so oft sie Jemand besuchte, und wiederholte es auch, so oft ich zu ihr kam, was des Tages mehrmals geschah, da ich unter einem Dach mit ihr wohnte. Sie starb, und wir drückten ihr die Augen zu; es war ihr Wunsch gewesen, nach ihrem Tode geöffnet zu werden, damit man sehe, was in ihrem Herzen sei. Dies geschah; ich war selbst dabei zugegen und ging ab und zu; der Arzt durchschnitt die äußere Haut vom Hals bis zum Magen und legte sie zurück; auch die Brustknochen wurden zerlegt und abgetrennt; da lag das kranke Herz offen da. Der Arzt griff nun danach, aber welch ein Schrecken überfiel uns Alle! Als er es nahm, öffneten sich die schon seit anderthalb Tagen geschlossen gewesenen beiden Augen der Toten. Was war das? Sind die Herznerven mit den Augenlidern in Verbindung? Scheintot konnte sie nicht sein, da sie ja unbeweglich geblieben war, als ihr die Brustknochen herausgenommen wurden. Aber eine andere bedenkliche Frage drängte sich mir auf: war der Geist und die Seele frei und los und in keiner Verbindung mehr mit der irdischen Hülle? Das gab mir vielen Stoff, über mich selbst nachzudenken und machte auf mich einen tiefen Eindruck, da ich das Alles selbst mit erlebt hatte. Man brachte die geöffneten Augen nicht mehr zu. Dieses Ereignis erschütterte uns Alle aufs Tiefste und wurde mir sehr zum Segen. Ja, meine Lieben, ihr seht hieraus, dass der Herr es sehr genau mit uns nimmt; bittet Ihn, dass Er euch von Allem, besonders von euch selbst, losmache, und fleht ernstlich:
„Herr, habe Acht auf mich,
Und reiß mich kräftiglich
von allen Dingen;
Denn ein gefesselt Herz
Kann sich ja himmelwärts,
Durchaus nicht schwingen.
Herr, habe Acht auf mich,
Schaff dass mein Herze sich
Im Grund bekehre!
Trifft vom verborgnen Bann
Dein Auge noch was an,
Herr, das zerstöre!“
O lasst es nicht auf spätere Zeiten ankommen, heute, heute so ihr Seine Stimme hört, so verstockt eure Herzen nicht.
V. 133 bittet der Psalmist: „Lass meinen Gang gewiss sein in Deinem Wort, und lass kein Unrecht über mich herrschen!“ Unter dem Unrecht versteht der Psalmist nicht sowohl grobe und mutwillige Sünden, sondern hauptsächlich Schwachheitssünden, zu denen unsere sündliche Natur geneigt bleibt, so lange wir auf Erden leben, die wir aber auch mit allem Fleiß bekämpfen sollen. Je mehr wir Lichtskräfte auf uns einwirken lassen, je mehr der heilige Geist selbst in uns wohnend ist, und wir uns heiligen und reinigen lassen durch ihn, desto leichter wird es uns, die Sünde zu überwinden; deshalb: Ganz in dem Grad, wie wir uns der Heiligung befleißigen und dem göttlichen Lichts- und Segens-Einfluss uns aussetzen, werden wir erleuchtet, durchleuchtet und gesegnet; ebenso, ganz in dem Grad, wie wir die Finsternis lieben und den Einflüsterungen des Satans unser Ohr leihen, werden unsere Seelen davon erfüllt und verfinstert. Darum gilt es, sich völlige Klarheit und Einsicht in die göttlichen Geheimnisse zu verschaffen, und dem Herzen die richtige Stellung anzuweisen, unablässig zu wachen und zu beten, dass wir keinen Zündstoff der Hölle im Herzen mehr beherbergen, sondern in der Kraft des Namens und Blutes unseres hochgelobten Heilandes einhergehen und eifrig den Schild des Glaubens handhaben, damit an ihm alle feurigen Pfeile des Bösewichts abprallen und das Antlitz des Herrn stets freundlich über uns leuchten könne. Dazu möge der gnädige und barmherzige Heiland uns in Gnaden verhelfen. Amen.