Scriver, Christian - Gottholds zufällige Andachten. - 30. Der gerade und ästige Baum.

Scriver, Christian - Gottholds zufällige Andachten. - 30. Der gerade und ästige Baum.

Ein guter Freund klagte Gotthold, als sie in einem Walde spazieren gingen, daß er so gar einen einfältigen Sohn hätte, der sich in keine wohlanständige Sitten schicken, von dem, was ihm aufgegeben, wenig fassen und mit jemand Fremden nicht gerne reden wollte, sonst aber fromm und gottesfürchtig wäre, gern betete, so gut er konnte, und von den Eltern mit einem Wort sich regieren ließe. Gotthold zeigte ihm hierauf zwei Bäume; der eine war schön, gerade, ohne Aeste bis an den Wipfel, welchen er hoch erhaben und in die Runde gar zierlich ausgebreitet hatte, der andere aber war voller Aeste, knorrig und ungeschickt; er fragte dabei, wenn er die Wahl haben sollte, welchen er von diesen Bäumen sich erkiesen wollte? Dieser ohne langes Bedenken zeigte sofort den geraden und sprach: Dieser könnte zum Bauen und allerlei Nutz sehr wohl dienen, aus jenem aber stände nichts zu machen, er ist wipfelsträußig, windschaffen, widerborstig und steingallig wollte man etwas daraus bereiten, würde man nur die Eisen daran verderben, und kaum sollte er sich spalten und zerschlagen lassen, damit er zur Küche und zum Feuer bequem würde. Wohl, sprach Gotthold; dieser gerade Baum ist ein Bild eines einfältigen, schlechten.und rechten Menschen, der in aufrichtiger Gottseligkeit aufwächst und mit himmlischen Gedanken sein Gemüth unterhält, was himmlisch ist, sucht und gegen Gott und den Himmel seine Hände und Herz ausbreitet. Solche nimmt oft der Höchste und macht sie zu Pfeilern in seinem Tempel. Offenb. 3, 12. Jener aber ist ein eigentlicher Abriß eines spitzigen, überklugen und in sich selbst verworrenen Menschen, der voller Tücke und List, voller Knoten und Aeste steckt; was ist ein solcher nütze in der Welt, als daß er sich selbst und andern viel zu schaffen macht? Trauet mir! „unter allen Fährlichkeiten auf Erden ist kein fährlicher Ding, als eine hochsinnreiche Vernunft, sonderlich so sie fällt in geistliche Dinge, welche die Seele und Gott betreffen.“ (Luther.) Und wo ein armsinniger Mensch eines Meisters bedarf, der seine Einfalt unterrichte, da bedarf ein reichsinniger zehn Meister, die seine Vernunft im Zaum halten, damit sie nicht als ein hochmüthiges Pferd ihn stürze. Besser ist es, einen einfältigen, frommen und gottseligen, als einen auf alle Büberei abgespitzten, eigenwilligen und stechen Sohn haben.

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