Schrader, Johann Heinrich Ludolph - Predigt über 2. Petr. 3, 9
Johann Heinrich Ludolph Schrader,
Pfarrer bei der deutschen reform. Gemeinde in Frankfurt a. M.
Gott, du wohnst in einem Lichte,
Das kein Mensch durchdringen kann;
Deine Wege und Gerichte
Staunet selbst der Engel an.
Kein Erschaffner flehet ganz
Deiner Hoheit vollen Glanz;
Stets wird neue Tiefen finden,
Wer's versucht, dich zu ergründen.
Ja, meine Freunde, unerforscht und unergründet wohnt der erhabene und unendliche Gott „in einem Lichte, da Niemand zukommen kann.“ Kein sterbliches Auge vermag ihn zu schauen, und kein endlicher Verstand seine Größe zu fassen; und mehr, als von irgend einem andern Gegenstande unserer Erkenntniß, gilt es von ihm: „Unser Wissen ist Stückwerk und unser Weissagen ist Stückwerk. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort.“
Aber doch nicht ganz unerkennbar bleibt für uns der verborgene Gott. Ausgebreitet liegen vor uns seine unermeßlichen, zahllosen Werke, in denen hernieder von des Himmels Höhen und heraus aus der Erde Gründen Millionen Stimmen uns von ihm predigen und seines Namens Ehre verkündigen. Und in die Tafeln unsers Herzens ist sein Gesetz geschrieben mit unauslöschbaren Zügen, durch welche er fort und fort zu uns redet. Und sein Wort hat er uns gegeben, dessen Zeugnisse lichtvoll und eindringlich Zugang suchen zum gläubigen Gemüthe. Und seinen Eingebornen, „der in des Vaters Schooße war,“ hat er uns gesandt, damit in dessen lebenvoller Erscheinung der Unsichtbare uns offenbar würde, so weit es für uns hienieden nothwendig ist; damit wir unsers Verhältnisses zu ihm uns bewußt werden und unsers Daseins Bestimmung in der Gemeinschaft mit dem Vater erreichen möchten. Denn „das ist das ewige Leben, daß wir Ihn, der allein wahrer Gott ist, und den er gesandt hat, Jesum Christum, erkennen.“
Wenn nun aber, im Lichte der göttlichen Offenbarung, unsere Seele in Andacht sich zu dem Unendlichen erhebt, und wir dabei, - wie es bei der Beschränktheit unserer menschlichen Fassungskraft nicht anders möglich ist, - bald diese, bald jene Seite seines einigen und untheilbaren Wesens vorzugsweise ins Auge fassen; so haben wir uns wohl zu hüten, daß wir nicht, indem wir dieser oder jener einzelnen göttlichen Vollkommenheit gedenken, darüber die andern gänzlich außer Acht lassen. Wir würden hiermit einer Verirrung anheim fallen, die nicht zu den ungewöhnlichen gehört, die aber in mehr als einer Hinsicht sowohl der richtigen Erkenntniß Gottes und seiner würdigen Verehrung, als auch unserm sittlichen und gottseligen Leben überaus hinderlich werden muß. Richten sich unsere Gedanken auf die Allmacht des Höchsten, in welcher er „es macht, wie er will, beides, mit den Kräften, die im Himmel, und mit denen, so auf Erden sind;“ so dürfen wir es nicht vergessen, daß der allmächtige Gott auch die Liebe und Güte selber ist gegen alle seine Werke: damit nicht das Gefühl seiner Größe und unsers Nichts uns zu Boden drücke und zur knechtischen Furcht werde. Gedenken wir seiner Liebe und Güte, die im Wohlthun nimmer ermüdet; so dürfen wir daneben auch die unendliche Weisheit nicht übersehen, in welcher nur Er allein das wahrhaft Gute und Heilsame mit Sicherheit erkennt, damit nicht unser Vertrauen wanke und sinke, wenn er uns theure Wünsche unerfüllt läßt, oder uns nimmt, was uns lieb war. Hören wir sein Wort: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig!“ und vernehmen die ernste Erinnerung, daß vor ihm, dem Allgerechten, „Niemand bleibet, wer böse ist;“ so müssen wir zugleich auch seiner Gnade und Barmherzigkeit uns getrösten, die er den Bußfertigen zugesagt hat: damit nicht die Schrecken seines Gerichtes uns zermalmen. Und wenn unsere Blicke auf die vergebende Huld und Gnade, auf die Geduld und Langmuth des himmlischen Vaters gerichtet sind; so müssen wir alle Mal zugleich uns auch seine unwandelbare Heiligkeit und Gerechtigkeit vor Augen stellen: damit nicht die Lust am Bösen und die Trägheit des sinnlichen Herzens einen Vorschub zu erhalten meinen. Diese Bemerkungen sollen denn auch bei derjenigen Betrachtung uns leiten, die wir in der Erwartung des göttlichen Beistandes heute zu unserer gemeinsamen Erbauung anzustellen gedenken.
Text: 2, Petr. 3. 9. Der Herr verziehet nicht die Verheißung, wenn es Etliche für einen Verzug achten; sondern er hat Geduld mit uns, und will nicht, daß Jemand verloren werde, sondern daß sich Jedermann zur Buße kehre.
Die „Verheißung“, von welcher der Apostel in den eben vorgelesenen Worten redet, ist, wie aus den vorhergehenden Versen deutlich zu ersehen, keine andere, als die Verheißung oder Ankündigung der Zukunft Christi zum Weltgericht. Die Worte: „Der Herr verziehet nicht die Verheißung, wie es Etliche für einen Verzug achten,“ - haben daher den Sinn: Gott kommt nicht später zum Gerichte, als wie es sein Rath von Ewigkeit her beschlossen hat; kommen aber wird er gewiß, wenn gleich der Leichtsinn mancher Menschen sich einbilden mag, es werde vielleicht die Erfüllung seiner Ankündigung niemals eintreten. Der Apostel erinnert zugleich an den Grund, warum Gott scheinbar verziehe mit seinem Gerichte: „Er hat Geduld mit uns, und will nicht, daß Jemand verloren werde, sondern daß sich Jedermann zur Buße kehre.“ - Wir empfangen damit eine ernste und wichtige Belehrung, geliebte Freunde, die es wohl verdient, daß unsere andächtige Betrachtung heute bei derselben verweile.
„Gott hat Geduld mit uns.“
Was das heiße? und was es in uns wirken solle? - das lasset uns mit einander erwägen und zu Herzen nehmen.
l.
„Gott hat Geduld mit uns.“ Wie sollen wir uns das denken?
Etwa so, wie wenn mancher irdische Vater oder Herr aus Gleichgültigkeit oder aus unzeitiger Nachsicht es nicht eben genau nimmt mit dem Gehorsam oder der Pflichtverletzung derer, die ihm untergeben sind, oder die er zum Guten und Rechten erziehen soll? Etwa so, als ob Gott hin und wieder stillschweigend das verkehrte Wesen, das lasterhafte Treiben der Menschen dulde, es gleichsam unter gewissen Umständen erlaube oder gut heiße oder für straflos erkläre? Etwa so, als ob er der Schwachheit seiner sinnlich begehrlichen, an die Welt dahingegebenen Erdenkinder manche ihrer Thorheiten und Fehltritte zu gute halte, und sie trotz derselben doch mit gleichem väterlichen Wohlgefallen betrachte und mit allen Segnungen seiner ewig reichen Vatergüte überschütte, gleich den Frommen? - Nein, meine Freunde, solche schwache Zärtlichkeit, solche zweideutige Duldsamkeit dürfen wir Dem nicht beimessen, der sich selber einen „eifrigen Gott“ nennt, „der da heimsuchet der Väter Missethat an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied,“ und der dem Gottlosen das ernste Wort entgegenhält: „Was verkündigest du meine Rechte und nimmst meinen Bund in deinen Mund, so du doch Zucht hassest und wirfst meine Worte hinter dich? Das thust du, und ich schweige. Da meinest du, ich werde sein, gleich wie du. Aber ich will dich strafen und will dir es unter die Augen stellen!“ Wie könnte Er jemals die Sünde anders, als mit Abscheu betrachten? Wie könnte jemals der unendliche Gegensatz ausgeglichen erscheinen, der zwischen dem Heiligen und dem Unheiligen Statt findet? -
Nein, wenn es von Gott heißt: „Er hat Geduld mit uns,“ so ist damit zuvörderst das ausgesprochen, daß er, bei aller seiner unwandelbaren Heiligkeit und Gerechtigkeit, doch nicht für jede Uebertretung seines Willens sogleich auch äußere Strafen eintreten läßt, daß er nicht jede Verkehrtheit in der Sinnes- und Lebensrichtung der Menschen, nicht jede Mangelhaftigkeit in der Erfüllung seines heiligen Gesetzes auch im Irdischen also ahndet, wie sie es verdiente. O, meine Freunde, wie könnte noch bei irgend Einem unter Allen, die auf Erden wohnen, von Glück und Wohlergehen die Rede sein, wenn Gott nicht „Geduld mit uns hätte?“ „Sind wir ja doch allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den wir vor Gott haben sollten;“ ist ja doch „vor ihm kein Lebendiger gerecht.“ Müßte nicht Jeder, von dem Angesehensten bis zum Niedrigsten, von dem Gelehrtesten bis zum Unwissendsten , von dem gepriesensten Menschenfreunde an bis zu dem verworfensten Verbrecher, unter allerlei Elend und Ungemach seufzen, wenn allen, auch den nicht in die Augen fallenden Sünden und Uebertretungen sogleich auch die Strafe auf dem Fuße folgte, und nur Derjenige straflos bliebe, der „vollkommen wäre, gleich wie der Vater im Himmel vollkommen ist?“ Aber blicket doch nur in den Kreis sowohl eigener, als fremder Erfahrung, geliebte Freunde. Welch' väterliches Verschonen, welch' erbarmungsreicher Schutz zeigt sich uns da! Nicht Jeder, der leichtsinnig in wüster Weltliebe auf seine Gesundheit und seines Leibes Kräfte einstürmt, wird darum auch alsbald mit Siechthum und Schmerzen der Krankheit heimgesucht. Nicht Jeder geräth in Armuth und Noth, der durch Müßiggang, durch Ueppigkeit, durch unnützes, verderbliches Treiben den geradesten Weg dazu einzuschlagen scheint. Nicht Jeder büßt seine Ehre ein vor der Welt, oder verliert das Zutrauen seiner Brüder, der um seiner Unredlichkeit, seiner Niederträchtigkeit, seiner Heuchelei, seiner Härte und Lieblosigkeit willen Solches gar wohl verdient hätte. Nicht Jeder, der, zwar unbescholten vor den Augen der Welt, dennoch im Stillen viel Böses verübt, oder in den verborgenen Tiefen seines Herzens lasterhafte Gedanken und Gesinnungen nährt, wird darum, gleich dem offenkundigen Verbrecher, mit dem Verluste seiner Freiheit, oder seiner Habe, oder sonstigem zeitlichen Ungemach gestraft. Wir Alle, meine Freunde, mögen wir auch zu den besseren Menschen uns rechnen, oder wirklich dazu gehören, - wir Alle, wenn Gott mit uns ins Gericht gehen wollte, könnten nicht vor ihm bestehen; wir Alle dürften nicht über Ungerechtigkeit klagen, wenn er uns seinen heiligen Unwillen wollte fühlen lassen. Und wenn er nun dennoch „nicht mit uns handelt nach unsern Sünden und nicht uns vergilt nach unserer Missethat:“ was ist der Grund von diesem Allen? was wird in diesem Allen offenbar? - „Gott hat Geduld mit uns.“
Sehen wir ja doch sogar, daß die Sünder und die Frommen vielfältig in gleicher Weise an allgemeinen Wohlthaten und Segnungen der göttlichen Güte Antheil haben, ja daß Manchem, der nach dem Zeugnisse der Welt und seines eigenen Gewissens harte Strafe verdient hätte, noch neue Freuden, neue Güter und Wohlthaten zufließen. - Mit ausdrücklichen Worten lesen wir in der heiligen Schrift: „Gott lässet seine Sonne aufgehen über Böse und Gute, und regnen über Gerechte und Ungerechte,“ und „er ist gütig auch über die Undankbaren und Boshaftigen.“ Empfangen nicht auch die Sünder, was sie zum leiblichen Leben bedürfen, aus des Allversorgers milder Hand? Trägt nicht auch für sie der Baum seine Frucht und das Land sein Gewächs? Werden nicht auch sie mit geschirmt und bewahrt, wenn Gottes allmächtiger Arm verheerende Landplagen abwendet und allgemeinen Uebeln Einhalt thut? Genießen nicht auch sie die Wohlthaten mit, die durch fromme und gerechte Regenten, durch Frieden und ungestörte Ordnung im bürgerlichen Gemeinwesen sich über ganze Gegenden und Länder ausbreiten? Befinden sich nicht Manche, die an innerer Würdigkeit Vielen ihrer Brüder nachstehen, in den günstigsten äußeren Verhältnissen? Ist es nicht gar manchmal der Fall, daß gerade ihre Wünsche am ersten erfüllt werden, ihre Unternehmungen den besten Fortgang gewinnen, und ein Freudenquell nach dem andern sich für sie aufthut? Und - abgesehen hievon, - sind nicht überhaupt alle Güter irgend einer Art, die ein Jeder von uns aus Gottes Händen empfangen hat, lauter unverdiente Gaben, die er uns zu entziehen ein Recht hätte, wenn er statt seiner Gnade seine Gerechtigkeit wollte walten lassen? - Ja, „Gott hat Geduld mit uns!“
Und ist nicht auch das ein Zeugniß seiner Langmuth und Geduld, daß er so manchen Tag, so manches Jahr zu unserer irdischen Lebensdauer hinzusetzt, und uns damit immer neue Frist gönnt, aufzuheben die Gemeinschaft mit der Sünde, und ein heiliges Leben zu beginnen im Glauben an ihn und in der Liebe zu ihm?
„Gott will nicht, daß Jemand verloren werde, sondern daß sich Jedermann zur Buße kehre.“ Aber welchen bedeutenden Theil seiner Lebenszeit läßt nicht Mancher verstreichen, ehe es ihm einfällt, daß er noch zu etwas Anderem in der Welt ist, als sich zu ergötzen in allerlei sinnlichen Genüssen, oder reich zu werden an zeitlichen Gütern, oder in irdischen Geschäften sich umzutreiben! Wie kommt Mancher, anstatt zuzunehmen in der Erkenntniß der Wahrheit, und näher zu dringen dem Ziele der himmlischen Berufung, und mehr Schätze zu gewinnen für die Ewigkeit, von Jahr zu Jahr immer weiter rückwärts! Wie bleiben so viele Andere verstockten und unbußfertigen Herzens, unbekümmert um das Heil ihrer Seele, ob auch schon eine bedeutende Zahl von Lebensjahren hinter ihnen liege, und die Flüchtigkeit des menschlichen Lebens, die Hinfälligkeit aller Erdendinge sich ihnen auf hundertfältige Weise bemerkbar mache! Müssen wir es da nicht als ein Zeugniß der Geduld unsers Herrn erkennen, daß er so Manches Gewächs, welches von Anfang an so wenig zu versprechen scheint, dennoch nicht alsbald von seinem Erdboden vertilgt; daß er so manchen Baum, der viele Jahre ohne Frucht geblieben, dennoch immer noch ein Jahr weiter verschont, gleichsam hoffend und harrend, daß doch endlich die darein gelegten besseren Keime zur Entwickelung kommen, daß doch endlich die darauf verwandte Sorgfalt und Mühe von erwünschtem Erfolge begleitet sein werde?
Ja, und eben in dieser nie ermüdenden Fürsorge Gottes für die Erweckung der im Sündenschlaf Befangenen, für die Bekehrung der Verirrten, für die Errettung der Verlornen müssen wir zuletzt noch ebenfalls das Wort unsers Textes bestätigt finden: „Gott hat Geduld mit uns!“ - Wenn Gott der Herr zu seinem Volke Israel schon in jener Zeit, als es eben erst das Land Kanaan in Besitz nahm, spricht: „Du erkennest in deinem Herzen, daß ich dich gezogen habe, wie ein Mann seinen Sohn ziehet;“ und wenn er fast tausend Jahre später zu den in der babylonischen Gefangenschaft übrig Gebliebenen durch den Mund des Propheten Jeremias wieder spricht: „Ich habe dich je und je geliebet, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.“ so müssen wir es anerkennen, daß die ganze Geschichte des Volkes Israel, so weit sie zu unserer Kunde gekommen ist, eine fortlaufende Bestätigung jenes göttlichen Ausspruchs bildet. Wie oft auch jenes Volk die ihm zu Theil gewordenen großen Begünstigungen und Wohlthaten Gottes undankbar vergaß, wie manchmal es auch in seinen Häuptern, wie in seinen Gliedern, sich von der Anbetung des Einigen und Ewigen zu schmählichem Götzendienst hinüberwandte; wie sehr auch zu Zeiten Verachtung des göttlichen Gesetzes und Lasterhaftigkeit unter demselben überhand nahm: dennoch wandte ihm Gott auch nach empfindlichen Züchtigungen sein Gnadenantlitz wieder zu in neuen Wohlthaten und Segnungen; dennoch erweckte er unter demselben immer wieder bald gottesfürchtige Regenten, bald fromme und weise Propheten, welche aufs Neue die Stimme der Wahrheit erhoben, und das umgestoßene Gesetz wieder aufrichteten, und die verwüstete oder verwaisete Stätte der Anbetung Jehova's mit neuem Glanze schmückten. - Und sehet, meine Freunde, die Geschichte des Volkes Israel - sie ist auf der einen Seite die Geschichte des ganzen Menschengeschlechtes, - sie ist auf der andern die eines jeden einzelnen Erdenbürgers. Gott läßt nicht ab, zu lehren, zu strafen, zu warnen, zu ermuntern, - wie ein Vater sein Kind, - bald mit ernster, bald mit freundlicher Stimme, bald durch Freuden, die er bereitet, bald durch Schmerzen, die er sendet. Er hat sein Wort ausgehen lassen über die Erde, - und siehe, es ist nicht verklungen bis diesen Augenblick. Er hat seinen Sohn gesandt, „welchen er gesetzt hat zum Erben über Alles,“ - und siehe, seines Sohnes Geist waltet noch immer, und bildet die Geister der Menschen zu seinem Eigenthum. Er hat sein Reich aufgerichtet, - und siehe, seines Reiches Säulen stehen noch fest, damit immerdar in demselben Seelen gewonnen werden für den Himmel. Mögen auch Viele hingehen „in ihrem verkehrten Sinn und thun, was nicht taugt:“ immer wieder dringen Einladungen und Aufforderungen von oben an sie heran. Jeder freundliche Morgen, der dich weckt; jeder ruhige Schlaf, der dich erquickt; jeder Wunsch, der dir gewährt wird; jeder Genuß, der dich labt; jedes Hinderniß, das dir in den Weg tritt; jedes Mißgeschick, das dich erschüttert; jeder Glockenruf, der dein Ohr berührt; jedes Schriftwort, das dir ans Herz dringt: - siehe, es sind lauter Winke und Mahnungen, mit welchen Gott unermüdet auch den Verhärteten und Verstockten nachgeht, ob er sie nicht erweichen, rühren, umlenken, erretten möge. Ja, alle Führungen des Ewigen von der Sünde des ersten Menschen an bis zu dem jetzt lebenden Geschlechte, - alle seine Führungen auch mit dir, mein Bruder, meine Schwester, von deinem ersten Athemzuge an durch die Jahre der Kindheit und der Jugend und des reiferen Alters bis auf den heutigen Tag, - sie sind eine stets fortgehende Erläuterung und Bestätigung des großen Wortes: „Gott hat Geduld mit uns!“ -
II.
Was soll nun aber diese Erinnerung in uns wirken? - Das lasset uns nun noch zu ernster Beherzigung uns vorhalten.
Sie soll nicht uns zur Sicherheit verleiten, - dieß bemerken wir zuerst. Dieß kann sie aber auch nicht, wenn wir die Geduld Gottes richtig erkannt haben, und allezeit eingedenk bleiben, daß der Zweck derselben nicht Duldung des Bösen, sondern Bekehrung vom Bösen ist, und daß die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes unwandelbar dieselbe bleibt. Und dann, - ob die göttliche Geduld sich bereits lange oder erst eine kürzere Zeit an jedem Einzelnen von uns erwiesen habe: Niemand hat doch eine Bürgschaft dafür, daß ihm noch eine weitere Frist werde vergönnt werden. „Der Herr verziehet nicht die Verheißung,“ - heißt es in unserm Texte, - und so schiebt er auch die Stunde, da er jeden einzelnen Erdenwanderer vor sein Gericht zu rufen beschlossen hat, nicht weiter hinaus, als es von Ewigkeit her „auf sein Buch geschrieben war.“ Nicht auf deine Jugend darfst du bauen und nicht auf deines Körpers rüstige Kraft. Wir erfahren es ja oft genug, wie auch die Jungen und Kräftigen oft wider alles menschliche Wünschen und Erwarten schon plötzlich sich an dem Ziele befinden, welches Niemand nach eigener Willkür weiter hinausrücken kann. „Der Mensch ist in seinem Leben wie Gras; er blühet wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber gehet, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennt man nicht mehr.“ O, darum sei nicht sicher, und baue nicht trügliche Hoffnungen auf die Geduld des Herrn, deren Dauer über dir du nimmer zu berechnen vermagst. Sorge, daß du die Gnadenfrist nicht versäumest, ehe du von hinnen gerufen wirst, und es auch über dir heißt: „Thue Rechnung von deinem Haushalten!“
Ja, darum laß vielmehr die Geduld, die dein himmlischer Vater mit dir getragen hat bis auf den heutigen Tag, dich aufmerksam machen auf deinen Seelenzustand! Richte die prüfenden Blicke in dein Inneres! Frage dich allen Ernstes: Wie habe ich bisher die Lebenszeit benutzt, die mein Schöpfer und Erhalter mir verliehen hat zur Vorbereitung für den Himmel? Habe ich nicht manchen Tag, manches Jahr meines Lebens mit nichtigen Bestrebungen hingebracht? Habe ich nicht so manche Mahnung zur Sinnesänderung, so manche Warnung, in welcher mir das Verderben der Sünde unter die Augen gestellt wurde, so manches rührende Zeugniß der unermüdlichen Liebe und Fürsorge meines himmlischen Vaters außer Acht gelassen? Hätte ich nicht viel treuer, viel gewissenhafter, viel ernster, viel unverdrossener sein sollen in der Erfüllung meiner Berufs- und Lebenspflichten? Hätte ich nicht mit weit größerem Fleiß „trachten sollen nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit“, und nach „den Schätzen, die da bleiben in das ewige Leben?“
Du besonders, der du die Geduld deines himmlischen Vaters mit dir vornehmlich in den reichen Wohltaten und Segnungen erkennest, die er dir fort und fort in vielfältiger Weise hat zufließen lassen, in der Rettung aus drohenden Gefahren, in der Bewahrung vor schmerzhaften Drangsalen und Trauerfällen; du, der du, indem du in dein vergangenes Leben blickst, einmal über das andere ausrufen mußt: „Ich bin viel zu geringe aller der Barmherzigkeit und Treue, die du an mir gethan hast!“ – „o verachte nicht den Reichthum der göttlichen Güte, Geduld und Langmüthigkeit!“ Die tiefe Beschämung, die deine Seele ergreift, die gerührte Dankbarkeit, die du empfindest, - sie müsse dich erwecken, daß du nicht länger beharrest in der Entfremdung von Gott und in dem schnöden Dienste dieser Welt, sondern daß du „durch Gottes Güte dich zur Buße leiten lassest.“
Ja, ein heiliger Besserungsernst müsse in dir lebendig werden, mein Bruder, meine Schwester! O siehe, auch zu dir ist Gott der Herr, wie es Christus im lieblichen Gleichniß vom Weingärtner und Feigenbaum sinnvoll andeutet, schon manches Jahr gekommen und hat Frucht gesucht, und sie nicht gefunden, wenigstens nicht so reichlich gefunden, wie er es wohl hätte erwarten dürfen nach Allem, was er für dich gethan. Wohlan, laß nicht länger vergeblich bleiben die Arbeit, welche der himmlische Weingärtner noch immer auf dich verwendet, und werde reich an Früchten für Erde und Himmel! Wohl hat Gott oft lange Geduld mit uns; aber nur dann kann dir wirklich geholfen, nur dann kann des Himmels unvergänglicher Frieden dir wirklich zu Theil werden, wenn du dich „zur Buße kehrest,“ und dir es ernstlich angelegen sein lässest, mit allen Kräften, die Gott dir darreicht, „ihm zu dienen in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit.“ - „Sünder selig zu machen“, ist allerdings der ewige Rathschluß der göttlichen Liebe, zu dessen umfangreicher Erfüllung Christus in die Welt kam und in den Kreuzestod sich dahingab; aber nicht diejenigen Sünder können an jener Seligkeit Theil nehmen, die verstockten und unbußfertigen Herzens gleichsam auf Gottes Geduld und Gnade trotzen möchten; sondern nur „die da verleugnen das ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste,“ und immerdar „Fleiß thun, daß sie vor Gott unsträflich und im Frieden erfunden werden.“?
„Gott hat Geduld mit dir!“ Nun so zeige denn aber auch du Geduld und freundliche Nachsicht mit deinen Brüdern! Wärest du der Gnade werth, die dir widerfahren ist, wenn du um geringer Schuld willen deinen Mitknecht würgtest, der dich anfleht: „Habe Geduld mit mir!“ Wie vertrüge sich Härte und Lieblosigkeit mit einem demüthigen und dankbaren Christensinn? „Seid geduldig gegen Jedermann!“ „Vergebet, so wird euch vergeben!“
Und welche Anwendung endlich von unserer heutigen Betrachtung ihr insbesondere zu machen habt, die ihr heute dem Abendmahlstische eures Herrn und Heilandes nahen wollt,- das darf ich euch nicht erst noch ausdrücklich vorhalten. Ihr werdet es von Anfang an gefühlt haben, wie gerade an euch in einem ganz besonderen Sinne das Wort unsers Textes zur Wahrheit wird: „Gott hat Geduld mit uns!“ Sehet, auch heute wieder vernimmt er euer Flehen um Vergebung eurer Sündenschuld; auch heute wieder tritt er mit dem Troste des Evangeliums euch nahe und versiegelt euch denselben durch die heiligen Unterpfänder des Leibes und Blutes Jesu Christi. Nun so „achtet denn die Geduld des Herrn für eure Seligkeit,“ und lasset es in Demuth und Dankeswonne heute euren ernsten Vorsatz werden, „hinfort nicht mehr euch selber zu leben, sondern dem, der für euch gestorben und auferstanden ist,“ und in allem eurem Wandel es zu offenbaren, daß ihr nun versöhnt seid mit Gott, und Gottes Kinder und gewisse Erben des Himmelreichs!
O, das verleihe uns Allen, du Gott der Gnade und der Geduld! Rühre du selber unsere Herzen, und vollende dein Gnadenwerk an uns durch deinen heiligen Geist, der uns erneuere und uns emporziehe zu dir und uns verkläre nach deinem Bilde, auf daß „kund werde der Reichthum deiner Herrlichkeit an den Gefäßen der Barmherzigkeit, die du bereitet hast zum ewigen Leben!“ Amen.