Schopf, Otto - Freikirchlich oder kirchlich

Schopf, Otto - Freikirchlich oder kirchlich

In einer andern unserer Gemeinden, die der Kleinigkeitskrämer auch besuchte, fand er es nach obiger Seite hin bedeutend besser. Im Gegensatz - hier kamen die Mehrzahl der Versammlungsbesucher schon zehn Minuten vor der festgesetzten Zeit, und bei den ersten Zeilen des Eingangsliedes hatten sich auch die Letzten eingefunden. Sicherlich waren sie, das war sein bestimmter Eindruck, das schienen auch die entschuldigenden und fast um Vergebung bittenden Gesichter zu sagen, durch zwingende Gründe abgehalten worden, zur rechten Zeit hier zu sein. Aber etwas anderes fiel ihm hier nicht minder auf. Der Harmoniumspieler war auch schon rechtzeitig zur Stelle, was ja bei allen Harmoniumspielern nicht selbstverständlich ist. Er schlug sein Buch und Instrument auf und präludierte ein wenig in unsern bekannten Melodien. Vielleicht sollte dies zur Erhöhung der Andacht dienen. Dies tat es aber durchaus nicht. In dem Maße, als stark und schwach gespielt wurde, begannen einzelne und bald mehrere, schließlich sogar viele, sich laut oder leise zu unterhalten. Der Kleinigkeitskrämer hörte reden von dem neuen Liede des Männerchores, vernahm, daß das Bild des Jungfrauenvereins gut getroffen sei; man sprach von dem schönen Ausflug der Sonntagsschule am letzten Sonntag und dem prächtigen Wetter, das der Herr dazu gegeben, er beobachtete, wie zwei Helferinnen der Sonntagsschule sich bei Br. H. schon nach dem Lektionstext für heute Nachmittag erkundigten; Br. Y. und Z. aus dem Vorstand schienen ihm die Tagesordnung für die Brüderversammlung am Abend festzustellen. Aber es wäre unrecht, wenn er bloß erzählen wollte, daß er solch minder wichtige und weniger fromme Dinge hätte reden hören. Ganz deutlich vernahm er auch, wie eine Schwester der andern mit wirklicher Teilnahme kondolierte des Heimgangs ihres Söhnleins wegen und wie dankbar jene Schwester dies empfand. Weil es nun doch mit des Kleinigkeitskrämers Sammlung vorbei war, so reckte er sich ein wenig, sah scharf durch seine Brille und so hin und her Umschau haltend, bemerkte er, daß die Kinder, die man vereinzelt mitgebracht, auch zusammen plauderten, ja, daß sich hinten zwei Knaben ganz feindselig zu stoßen schienen. Hier dachte er an ein Sprichwort vom Singen der Alten usw. Jetzt wußte er auch, warum der Harmoniumspieler immer stärkere Register zog: es geschah offenbar, um den Neuhinzukommenden Gelegenheit zu geben, nach dem Maß ihrer Gabe auch ein wenig die Gefühle ihres Herzens auszudrücken. Entschieden zuviel wäre es aber gesagt, wenn der Kleinigkeitskrämer die Sache nun so darstellen wollte, als hätten es alle Geschwister so gehalten. Nein, so hielt es ungefähr nur die Hälfte, wenn er genauer zusah; das muß er zur Steuer der Wahrheit auch anfügen. Er sah auch, wie einige Besucherinnen - dies schienen aber kirchliche Leute zu sein - sich hinsetzten und still für sich beteten, wohl um den Segen des Herrn für Prediger und Zuhörer. Dieselben unterhielten sich nicht miteinander. Jetzt erschien der Prediger und sagte das Lied an.

Nach der Versammlung kamen dem Kleinigkeitskrämer dann auch hier Erwägungen, was er denn dieser Gemeinde am besten erbitten solle - die Sitte des Zuspätkommens oder etwas mehr „Kirchlichkeit“, wie er sie bei den obigen kirchlichen Geschwistern gesehen. Er konnte schließlich nicht anders, trotz seines überzeugten freikirchlichen Standpunktes und bat den Herrn für diese Gemeinde um etwas von Letzterem.

Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1908

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