Schmitz, Richard - Der Richterstuhl Christi

Schmitz, Richard - Der Richterstuhl Christi

Eine Verständigung zur Lehre von den Letzten Dingen

Jeder aufmerksame Leser der Schrift wird gefunden haben, daß in ihr dem Hoffnungsgedanken eine Stelle zugewiesen ist, die im Glaubensleben vielfach vermißt wird. Noch weniger ist der Gedanke der Vergeltung in die christliche Vorstellung so aufgenommen und in ihr verankert, daß er dem Leben diejenige bestimmende Richtung gibt, die es aufweisen sollte. Diese Vergeltung ist hier in dem Sinne gedacht, wie sie auch in der Schrift überall durchschimmert, aber auch klar in ihr ausgesprochen ist, nämlich daß dies Zeitleben seine bestimmte Abfolge finden wird in der Ewigkeit, weil es nicht nur ein Ausschnitt derselben, sondern für den einzelnen auch deren begründeter Anfang ist. Damit gewinnt aber dies Leibesleben eine Bedeutung, an der wir nicht vorbeigehen können, ohne uns für dessen Bestimmung, wie für die Aufgabe, die uns in ihm gestellt ist, zurechtzufinden.

Allzusehr hat man sich in christlichen Kreisen daran gewöhnt, mit der Sündenvergebung die Erwartung der Seligkeit so zu verbinden, daß diese ohne den Vorbehalt eine Ausgestaltung der christlichen Persönlichkeit vorgestellt wird. Man läßt Aufgabe und Ziel christlichen Lebens mit dessen Anfang so zusammenfallen, daß die Entfaltung dieses Lebens verkümmern muß. Gewiß kann diese nur auf dem Grunde der Rechtfertigung vor Gott allein durch den Glauben statthaben, wie auch in ihr alle Wurzeln dieser Lebensneuheit liegen. Aber nur durch eine Erfassung und Verkündigung des ganzen Gottesrates können die Kräfte neuen Lebens geweckt und auf den Plan gerufen werden, die anders mehr oder weniger brach liegen bleiben. Christus ist uns von Gott gemacht sowohl zur Gerechtigkeit, wie zur Heiligung und Erlösung alle Schätze der Weisheit liegen verborgen in Ihm, damit in der praktischen Erweisung des Glaubens wachstümlich uns ihre Fülle erschlossen werde.

Wie man durch eine allzu enge Verkündigung des Heilsrates Gottes dessen Linien unzulässig verkürzt hat, so ist es infolgedessen auch in der Darlegung der Letzten Dinge geschehen. Man hat die Vollendung mit dem Leibessterben zusammengedacht in eins, wie auch das allgemeine Endgericht mit der Wiederkunft Christi. So wird es gelehrt, und so ist es in Kommentaren zu lesen. Das christliche Denken ist aber davon wenig befriedigt. Es werden hier Glieder übersprungen, die zusammengehören. Die Schrift trägt hieran keine Schuld; denn sie ist hier klar und bestimmt. Neuerdings besinnt man sich auch wieder zu ihr zurück und findet Zusammenhänge, die geeignet sind, das christliche Leben zu befruchten. Christi Auferstehung, Seine Erhöhung und Seine Wiederkunft bleiben nicht mehr bloße dogmatische Begriffe, sondern werden Wirklichkeiten, die lebendige Bedeutung haben.

Wie nun der endliche Abschluß aller Dinge nur durch ein vorangehendes endliches Gericht hindurchgehen kann, in dem Gott selber das Wort haben wird, so kann auch die Gemeinde erst zur Vollendung gelangen, nachdem sie insgesamt vor den Richterstuhl ihres Hauptes, Jesus Christus, gestellt worden ist. Was dies auf sich hat, soll an Hand der hierfür bedeutsamen Stelle 2. Korinther 5,10 in nachfolgenden Blättern nach einigen Seiten hin dargelegt werden. Wir setzen die Stelle hierher:

Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf daß ein jeglicher empfange, nach dem er gehandelt hat bei Leibesleben, es sei gut oder böse.

1.

Schon das für „Richterstuhl“ in der Grundsprache gebrauchte Wort „bäma“ weist darauf hin, daß es sich in 2. Korinther 5,10 um einen anderen Vorgang handelt, als bei das Wort „thronos“ = Thron verwendet ist. Das Wort dem allgemeinen Weltgericht in Offenbarung 20,11, wo „bäma“ bezeichnet einen erhöhten Sitz, den in alter Zeit bei öffentlichen Kampfspielen der Preisrichter einnahm, um nach deren Beendigung die Sieger auszurufen und die Preise auszuteilen.

Wie wir sehen werden, ist in der Tat derjenige Vorgang, von dem 2. Korinther 5,10 redet, ein anderer, als der am Ende der Tage. Während an jenem Tage es sich handelt um eine innere Familienangelegenheit, die Christus mit denen erledigen wird, die Seinem Gnadenruf gefolgt sind, werden am letzten Gerichtstage alle übrigen und die später geborenen Menschen vor dem Weltenthrone stehen, um ihren Spruch zu empfangen. Vor dem Richterstuhl des Christus erscheint die entrückte Gemeinde - jeder gewaschen mit den Lammes Blut, und jeder schon hier vom Tode zum Leben hindurchgedrungen. Nicht steht zur Tagesordnung die Frage, ob gerettet oder verloren, weil diese ihre Lösung gefunden hat. Es sind andere Dinge, die eine Klärung erheischen, nachdem die Sammlung der Gemeinde zum Abschluß gekommen ist und diese ihre Vollzahl gefunden hat. Es muß festgestellt werden, was aus jedem geworden ist und was er getan hat in den besonderen Verhältnissen, in denen er als Dulder und Kämpfer im Erdenland dem Christus gleichgestellt gewesen. Dieser Befund wird es sein, der für die künftige Stellung des einzelnen in den kommenden Äonen innerhalb der eigenen Reihen den Ausschlag geben wird. -

Sehen wir zunächst zu, in welchen textlichen Zusammenhang die vorliegende Stelle 2. Korinther 5,10 steht, da von dort aus schon ein Schlaglicht auf deren Verständnis fällt.

Diese Stellung beschließt eine längere Darlegung, die Kapitel 2, Vers 14 ihren Anfang genommen hat. Es ist der dem Apostel überkommene „Dienst des neuen Testamentes“, den er mit den Worten preist, die eine tiefe Empfindung seiner Seele erkennen lassen. Er ist ihm der Dienst an einem Wort, das alle bisherigen Gottesoffenbarungen überstrahlt, indem es zu einer Gerechtigkeit verhilft, die das Gesetz nur fordern, aber nicht geben konnte. Noch mehr: ein Dienst, der die Bezeichnung „Dienst des Geistes“ mit Recht verdient, weil er von geistlichen Wirkungen begleitet ist und den Geist Gottes selber darreicht.

Aber dabei weiß er auch zu sagen, was ihn angesichts der Herrlichkeit dieses Dienstes demütigt. Es ist der Umstand, daß dieser Dienst in ihm ein schwaches Gefäß gefunden, das der Zerbrechung anheimfallen wird. indes ist ihm dies nur die äußere Naturseite. Denn mit der Aufreibung des äußeren Menschen sieht er dennoch Hand in Hand gehen eine Erneuerung des inneren Menschen, die von Tag zu Tag fortgeht. Darum bleibt sein Auge nicht befangen im Sichtbaren, das den Stempel der Vergänglichkeit an sich trägt, sondern es ist berührt vom Glanz der Ewigkeit, der ihm in himmlischer Schönheit entgegenleuchtet. Aber noch mehr. Er trägt in sich das Angeld für etwas, das ihn selbst angeht. Er weiß, daß ihm nach der Zerbrechung dieser Leibeshütte eine neue Behausung seiner erlösten Seele vom göttlichen Baumeister aus unzerstörbarem Material bereitet sein wird - und nach ihr schaut er aus. Dieser Hoffnungsgedanke schwellt sein Herz. Er ist es, der ihn wohlgemut durch alle Mühsale hindurchträgt, die dermalen in dieser zerbrechlichen Leibeshütte ihn noch beschweren. Und dabei redet er immer in einem „Wir“, womit er sich in allen diesen Erwartungen mit den Lesern seines Briefes zusammenschließt.

Aber was ist es, was mit einem Male die Seele des Apostels beklemmend durchzieht? Von einem Abbruch dieser Leibeshütte hat er geredet. Ist es denn der Durchgang des Todes, an den er seine Hoffnung knüpft? In einer Gottesoffenbarung war ihm ein Geheimnis enthüllt worden, wonach der Naturvorgang des Sterbens für die, die in Christus sind, nicht das Letzte sein werde. Hiervon hatte er auch bei seiner Arbeit in Korinth geredet. Es war Gegenstand seiner Unterweisung gewesen, und noch im ersten Briefe hatte er im Kapitel 15 sich hierüber ausgesprochen. Und ihm selber war dies Geheimnis ein Kleinod, das ihn beglückte. Soll er nun in den Verdacht kommen, dies Juwel seiner Hoffnung preisgegeben zu haben und in der Entleiblichung, also in einem Todeszustand, seine Entartungen verwirklicht zu sehen?

Aber er hat jetzt in Vers 1 von einem gewaltsamen Abbruch der Leibeshütte geredet. Und Todesgedanken waren es, die er Kapitel 1,8 und 9 im Blick auf die inzwischen in Kleinasien erfahrenen Trübsale ausgesprochen hatte. Wie kommt das? Nun, er weiß es, daß der Zeitpunkt des Tages des HErrn, an dem für die alsdann lebenden Gläubigen die Naturordnung des Sterbens aufgehoben sein werde, im Rate Gottes verborgen liegt und daß er ihm nicht voreilen kann. Er will es auch nicht. Andrerseits gibt er auch seine Erwartungen nicht preis, am Ehrentage des HErrn bei der Verwandlung und Entrückung der lebenden Gläubigen womöglich mit dabei zu sein, worüber er sich am ausführlichsten fünf Jahre früher an die Thessalonicher (1. Thessalonicher 4,13-18) mit frohen Worten ausgesprochen hatte. Dieser Erwartung gibt er auch jetzt Ausdruck. Er tut es mit den stärksten Worten: „Deshalb seufzen wir auch mit sehnsüchtigem Verlangen, mit unserer himmlischen Behausung überkleidet zu werden, so doch, daß wir als Bekleidete nicht bloß erfunden werden“ (Kapitel 5,2.3 wörtlich).

Der Nachdruck liegt offenbar auf den letzten Worten. Er möchte nicht auf dem Wege der Entleiblichung im Tode „bloß“ (nackt) erfunden werden, d.h. nicht in einen Zustand gelangen, der eine Wirksamkeit unmöglich mache. Die „Entblößung“ von einer Leiblichkeit erscheint ihm als Einbuße, die aber im Falle des Sterbens eintreten muß solange, bis nach göttlicher Ordnung /1. Korinther 15,23) die Gemeinde in ihrer Vollzahl in neuer verklärter Leiblichkeit ihrem HErrn entgegeneilen kann. Wir können es daher verstehen, wenn der Apostel dem Wunsche Ausdruck gibt: „Wir möchten lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden, auf daß das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben“ (Vers 4).

Nach dieser kurzen Unterbrechung nimmt der Apostel den Faden seiner Rede wieder auf. Es ist erquickend, zu sehen, wie er sich mit dem Gedanken abfindet, die Erfüllung des von ihm ausgesprochenen Herzenswunsches sich etwa versagen zu müssen. Was er sechs Jahre später Philipper 1,21 angesichts des von ihm erwarteten Märtyrertodes ausspricht: „Sterben ist mein Gewinn“, kleidet er jetzt schon in den Gedanken, daß der Tod es sein werde, der ihn immerhin in die nahe Gegenwart des HErrn bringe und ihm „daheim“ eine bessere Christusgemeinschaft ermögliche, als diese hienieden statthabe, wo sie noch auf den „Glauben“, nicht auf „Schauen“ gestellt ist. Damit hat er den Gedanken, „bloß erfunden zu werden“, überwunden (Vers 6-8). Sofort geht er auf die Gegenwart zurück, um auch hier den Gedanken, „ferne zu sein vom HErrn“, gleichermaßen zu überwinden. Er tut dies, indem er entschlossen ist, sich ganz und restlos dafür einzusetzen, das Wohlgefallen des HErrn für sich zu haben: „Darum fleißigen wir uns auch, wir sind daheim oder wallen, daß wir Ihm wohlgefallen“ (Vers 9).

Diese Aussage ist von besonderer Wichtigkeit. Nicht nur, weil sie mit dem folgenden Vers 10, den wir zum Thema unserer Ausführungen gestellt haben, eng verknüpft ist, sondern auch deswegen, weil sie die Grundlage bildet, auf der sich Vers 10 aufbaut. Denn jene „Wohlgefälligkeit“ ist es, die am Tage des HErrn als vorhanden oder als nicht vorhanden festzustellen ist. Wenn dafür nachher in Vers 10 die Worte „gut oder böse“ gebraucht sind, so werde diese jetzt schon näher bestimmt, nämlich dahin: ob der Beifall des HErrn gefunden werde oder nicht. Bevor wir daher weitergehen, sei es gestattet, vorerst auf diese bedeutungsvolle Aussage in Vers 9 einen kurzen Blick zu werfen.

Das für „wohlgefallen“ gebrauchte Wort „eu-aresteo“ bedeutet: an etwas oder an jemanden Gefallen finden, sich ergötzen. So heißt es Hebräer 11,6 von Henoch, daß er „Gott gefallen habe“. Von diesem alttestamentlichen Gerechten ist in 1. Mose 5 nur in vier kurzen Versen die Rede, die ihm aber dort ein dauerndes Denkmal setzen mit der Inschrift. „Er wandelte mit Gott!“ Zweimal wird ihm in wenigen Versen dies ehrende Zeugnis ausgestellt - wohl deswegen, damit hervortrete, daß er sich mit seinem göttlichen Wandel durchgesetzt hat zu einer Zeit beginnenden Verderbens, das schon bald, zur Zeit seines Urenkels Noah, zu einem allgemeinen Gottesgericht führen sollte. Was wir aber unterstreichen möchten, ist der Umstand, daß beides, nämlich „Gott gefallen“ und „Wandeln mit Gott“, auf eine und dieselbe Liebe gestellt ist und also das eine durch das andere seine Erläuterung findet. Der Wandel mit Gott, die rückhaltlose Auslieferung an Gott und die völlige Unterwerfung unter Gott - dies ist es, das Gottes Wohlgefallen findet. Von hier aus kann es auch nur verstanden werden, wenn - im ganzen siebenzehnmal - der Lebensertrag alttestamentlicher Männer, wie eines David, Josaphat, Hiskias u.a. je und je in die Worte gefaßt wird: „Er tat, was dem HErrn wohlgefiel.“ Darum legt auch der Psalmist (Psalm 143,10) das tiefste Begehren seines Herzens in die Bitte: „Lehre mich tun nach Deinem Wohlgefallen“, oder, wie Delitzsch übersetzt: „nach Deinem Willen“, weil beides ineinanderfällt.

Paulus hat es gewiß nicht anders verstanden; die bedingungslose Gebundenheit an den Willen Gottes allein war ihm der heilige Weg, Ihm zu gefallen. In einem alttestamentlichen Bilde bezeichnet er es Römer 12,1 dahin: als ein Brandopfer - dem Opfer zum süßen Geruch Gottes - auf dem Altar zu liegen, um dies weiter damit zu deuten, daß diese Opferhingabe an Gott ihren Ausdruck finde in einer Ausrichtung des guten, wohlgefälligen und vollkommenen Gotteswillens. Neben dem tiefsten Empfinden eigener Schwachheit und Unzulänglichkeit ging ihm nicht das Bewußtsein verloren, dazu da zu sein, Gottes Beifall in einem Leben zu gewinnen, das Ihm geweiht sei. Seine ganze Ethik bringt er daher einmal auf die kurze Formel: „Prüfet, was da sei wohlgefällig dem HErrn!“ (Epheser 5,10.)

Wie ernst es ihm selbst damit war, zeigt sich hier, wenn er sagt: „Darum fleißigen wir uns auch“, wörtlich: „darum setzen wir auch unsere Ehre darin“, nämlich, Ihm wohlzugefallen. Eine beabsichtigte Ausdrucksweise! Er spielt damit deutlich an auf jene judaistischen Eindringlinge, die sich zur Einführung in die Gemeinde der Empfehlungsbriefe bedienten. Diesen gegenüber will der Apostel sagen, daß ihm der Ruhm und die Ehre bei dem HErrn über alles gehe. Wie wohlfeil ist dagegen alles eitle Haschen nach menschlicher Anerkennung! Letztlich kommt es allein darauf an, des Beifalls Dessen sicher zu sein, dem allein wir verantwortlich sind. Je stärker dies Verantwortungsbewußtsein sich bei uns auswirkt, desto weniger werden wir uns vergaffen in die Gunst anderer Leute, die doch so bald umschlägt wie das veränderliche Wetter.

Aber auch die Anerkennung seines HErrn, so sehr sein Leben darauf eingestellt ist, nimmt der Apostel nicht als etwas Selbstverständliches hin, sondern sie wird von ihm als eine in einem Gerichtsakt erst festzustellende gedacht. Damit vertagt er das Urteil auf jenen Tag, an dem alles auf die heilige Waage Dessen gelegt wird, der kein Ansehen der Person kennt. -

Dieser Umstand ist es, der als Antrieb, dem HErrn zu gefallen, in Vers 10 seine Erörterung findet und sich mit starker Gewalt auf unsere Gewissen legt. Es wird eine Verbindung geschlagen des Diesseits mit dem Jenseits, die als eine dauernde Verantwortung hier mit uns geht. Nicht nur sind wir jetzt schon beobachtet von Ihm, dem wir offenbar sind, sondern eine Aufrollung unseres Lebens steht bevor, die für unsere dereinstige Stellung bestimmend sein wird. Was der Apostel in Vers 10 sagt, wird damit zu einer Mahnung zum vorsichtigen und geheiligte Wandel, wie sie stärker nicht sein kann. Diese ist auch beabsichtigt, weshalb ein „denn“ (gar) Vers 10 mit dem Vorausgesagten verknüpft. Treten wir nunmehr diesen Ausführungen näher.

2.

Es ist unbestreitbar, daß die Lehre von den Letzten Dingen allzusehr zurückgestellt worden ist und sie in der Verkündigung nicht den Platz eingenommen hat, der ihr zukommt. Starke Impulse für die geistliche Lebenshaltung sind damit verlorengegangen, und das Wort von der Gnade ward vielfach zu einem Freibrief, sich mehr oder weniger gehen lassen zu dürfen. Die Brücke zum Jenseits wurde weggezogen und das diesseitige Leben isoliert, d.h. in seinem Geschehen aus dem Zusammenhang mit der Fortsetzung, die es jenseits findet, herausgenommen.

Immer, wo dies geschieht, muß das Bewußtsein einstiger Rechenschaft zurücktreten und die tägliche Selbstprüfung an Strenge verlieren. Unerledigte Dinge werden mitgeschleppt, und das Gewissen büßt seine Zartheit ein, weil der Heilige Geist Gottes betrübt ist.

Es mag zugegeben werden, daß Gotteskinder durch den Betrug der Sünde vorübergehend in Satans Verstrickung geraten können und daß damit auch der Verantwortungsgedanke erblaßt. Aber die Geistesleitung läßt es nimmer dahin kommen, daß bewußte Sünden dauernd festgehalten werden. Von ihr und damit von einer Gotteskindschaft kann keine Rede sein, wenn es zur Lösung innerer Gebundenheiten nicht kommt. Die deutlichen Grenzlinien, die in der Schrift gezogen sind, werden auch am Gerichtstage des HErrn ihre Geltung haben. Viele werden wir dann vermissen, die hier ihre Zugehörigkeit zum HErrn bekannten und vielleicht gar eine eifrige religiöse Betriebsamkeit an den Tag legten. Diese war auch in der Gemeinde zu Sardes vorhanden, und doch lautet das Urteil Dessen, der die sieben Geister hat: „Du hast den Namen, daß du lebest, und bist tot!“ (Offenbarung 3,1). Ohre rechtschaffene Buße werden sie nicht mit dabei sein, wenn der HErr kommt und die von Ihm erkannten „Seinen“ vor Sich darstellt. (Vers 3.) als Irrsterne wandelten sie ihre eigenen Bahnen am Himmel des Christentums; sie werden erlöschen.

„Es ist Zeit, daß anfange das Gericht im Hause Gottes“ (1. Petrus 4,17). Gott nimmt es genau mit den Seinen. Noch stehen sie im Zusammenhang mit der anklebenden Sünde, aber in Gnade arbeitet Gott ihr richtend und sichtend durch läuternde Leiden entgegen. Es ist ihr Vorrecht, daß die jetzige Gnadenzeit auch ihre Gerichtszeit ist, und es ist ihr Heil, wenn sie auf die Zucht Gottes eingehen. Schon ist sie ein Anfang göttlichen Gerichts, und keiner der Seinen kommt an Ihm vorbei. Deshalb heißt es in jener Stelle weiter: „Was muß aber das Ende sein - nämlich, womit das Gericht abschließt und seine Spitze erreicht - bei denen, die dem Evangelium nicht gehorsam sind!“ Mögen hier nur Blitze zucken und Donner rollen, wenn, nachdem diese ihre Wirkung getan, die Wetterwolken vorüberziehen.

Sehen wir sie einmal an, die Gott hier schon in Sein strenges Gericht nimmt. Stille halten sie Ihm, und sie lassen zugleich das Feuer des Selbstgerichts hinabgehen in die Tiefen ihres Wesens. Beruhigt sind sie nur, wenn der Heilige Geist täglich Haussuchung hält und das Verborgene aufdeckt und an das Licht zieht. Die Sünde ist ihnen „eine zur Last gewordenen Lust“, die das aufschreiende Gewissen nicht tragen kann. Eine heilige Furcht, daß die betrügliche Sünde das Herz verhärte, begleitet den Kampf des Glaubens. Zittern arbeiten sie an einer Errettung, von der sie wissen, daß eigenes Tun umsonst ist und Gott allein Wollen und Vollbringen zu wirken vermag (Philipper 2,12.13). Auf sich selbst angewiesen, bleibt ihr Bemühen ein verlorenes Spiel; um es zu gewinnen, müssen sie Gott selber in die eigene Ohnmacht hineinstellen. Mit Ihm müssen sie um jeden Preis im reinen sein, und Mischmach wird ihnen zur Bitterkeit der Höllenqual. So hängen sie in kummervollen Nächten am Halse Dessen, der allein ihnen helfen und sie gürten kann zu einem Kampf, in dem sie obliegen, wenn auch die Hüfte verrenkt ward. So in einem für sie selbst aussichtslosen Kampf stehend, werden sie dennoch zu Ueberwindern; täglich unter Gottes Gericht gestellt, gehen sie frei aus.

Also auf der einen Seite Leute, die ohne die richtende Wirksamkeit des Geistes erhobenen Hauptes zuchtlos einhergehen, aber dem Gericht Gottes unentrinnbar entgegeneilen; auf der anderen Seite diejenigen, die zusammengebrochen sind und in rücksichtsloser Strenge wider sich selbst täglich der Geisteszucht Raum geben, aber Gottes Urteil für sich haben. Es ist möglich, daß erstere in die Gemeinde Gottes hier sich einschleichen als solche, die innerlich nicht zu ihr gehören und keinen Lebensanteil an Christus haben. Schon in der apostolischen Zeit ist dies der Fall gewesen. Kann aber der Heilige Geist in der Gemeinde zu Wort kommen, so werden jene von selbst wieder ausgeschieden. Menschen können getäuscht werden; aber es bleibt dabei: „Der feste Grund Gottes bestehet, denn er trägt das Siegel (die Inschrift): Der HErr kennet die Seinen!“ (2. Timotheus 2,19.) Nimmer kann eine Vermengung vor Ihm statthaben.

Damit ist Vorsorge getroffen, daß vor dem Richterstuhl Christi sich keine Unberufenen einschleichen können. Angesichts der sechs Hauptstellen, die sich über diesen Tag denkbar klar aussprechen, nämlich Römer 14,10; 1. Korinther 3,13-15; 4,5; 2. Korinther 5,10; 1. Johannes 2,28 und 4,17 bleibt es unverständlich, wie es möglich gewesen ist, diese Versammlung als eine gemischte, bestehend aus Gläubigen und Ungläubigen, zu erklären, um dann folgerichtig, ohne sich weiter um die Schriftaussagen zu kümmern, jene Tagung mit dem allgemeinen Weltgericht am Ende der Tage zusammenfallen zu lassen. Nur wenige Ausleger, darunter Th. Zahn und J. T. Beck, haben sich davon freigehalten. Aber wenn schon auf dem Lehrgebiet der göttlichen Heilsordnung eine bedenkliche Verwirrung herrscht und die Grenzlinien verwischt sind, muß sich dies notwendig auch in der Lehre von den Letzten Dingen auswirken.

Zur weiteren Klärung der Sachlage wird es beitragen, wenn wir den Zeitpunkt ins Auge fassen, an dem die Gerichtstagung stattfindet, die uns hier beschäftigt. Wir gehen dabei aus von der Stelle 1. Korinther 4,5: „Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der HErr kommt, welcher auch wird ans Licht bringen, was im Finstern verborgen ist, und den Rat der Herzen offenbaren; alsdann wird einem jeglichen von Gott das Lob widerfahren.“ Hier wird der Gerichtstag unmittelbar zusammengedacht mit der Wiederkunft des HErrn: „bis der HErr kommt“. Der Zusammenhang ist hier derselbe wie Römer 14,10: „Du aber, was richtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor dem Richterstuhl (auch hier ist bezeichnenderweise das Wort bäma = Preisrichterstuhl, nicht gleichbedeutend mit Weltrichterthron, gebraucht) Christi dargestellt werden.“ Der Apostel will beide Male sagen, daß der Richtgeist unter Brüder eingreift in ein Amt, das der HErr selber Sich vorbehalten hat, nämlich, die Seinen zu untersuchen, und der zugleich andere Maßstäbe anlegen wird, als Menschen sie besitzen, die nur sehen, was vor Augen ist. Das jetzt mögliche Verfahren, zur zutreffenden Urteilsbildung zu gelangen, wird in der ersteren Stelle Vers 3 und 4 für untauglich erklärt: „Mir ist es ein Geringes (es hat geringe Bedeutung), ob ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Tage, auch richte ich mich selbst nicht; ich bin mir selbst nichts bewußt, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der HErr ist es aber, der mich richtet.“

Gegenüber diesem dermaligen Unvermögen, zu einer richtigen Urteilsfindung zu gelangen, muß es gerechtermaßen einmal zu einer Klarstellung kommen, die durch nichts getrübt ist. Naturgemäß muß diese nach der ganzen Sachlage in unmittelbarem Anschluß an das Kommen des HErrn für die Seinen statthaben. Daß letztere allein gemeint sind, ergibt sich auch aus der Anrede „Brüder“, mit der der Apostel Vers 6 fortfährt. - Es ist ein Generalappell, zu dem die vom HErrn anerkannten Gläubigen allein anzutreten haben, eine Visitation, die der Erzhirte selber bei ihnen vornimmt, eine Rechnungslegung, deren Ergebnis den Lohn bestimmt, den Er austeilen wird: „Alsdann wird einem jeglichen sein Lob - d.h. die dem einzelnen gebührende und verschieden ausfallende Anerkennung - zuteil werden.“ Es ist dies die Einordnung, die jedem den Platz zuweist, den er in den kommenden Aeonen einnehmen soll, die Investur (Belehnung) Seiner Getreuen zu der Würde- und Dienststellung, die ihnen alsdann zukommt. -

Es ist weiter klar, daß Christus als das Haupt der Gemeinde hier mit den Seinen allein sein wird, gleichsam bei verschlossenen Türen, unter Ausschluß der Oeffentlichkeit. Intime Dinge stehen zur Erörterung. Eben sind sie durch Sein Kommandowort (1. Thessalonicher 4,16) - dem allmächtigen Machtwort und Zuruf Seines Mundes - auferweckt und verwandelt und so in neuer verklärter Leiblichkeit Ihm entgegengeführt worden in der Luft.

Dieser Tag ist der Ehrentag Jesu. Zum ersten Male hat Er sie um Sich, alle, die der Vater Ihm gegeben. Alle im glänzenden Gewand, das Er ihnen geschenkt. Viele mit Narben, die der Kampf ihnen gebracht: Malzeichen des HErrn. Sonst alles gleich; denn Kranz und Ehrenzeichen sollen erste verliehen werden. Alle erkauft mit gleichem Preis, den Er selber gezahlt. Darum ist Er auch ihr „HErr“, vom Vater selbst dazu gesetzt; darauf gründet sich Sein Hoheitsrecht, Rechenschaft zu fordern, was die von Ihm verliehene Gnade zuwege gebracht. Jeder fühlt es, niemand braucht es zu sagen, daß ein Majestätsrecht Ihm zur Seite steht, indem Er sie hierher bestellte, ähnlich wie einst vor Seinem Abschied die fünfhundert Brüder auf einen Berg. Alle sind nun da, und unübersehbar ist die Reihe der erlauchten Schar. Denn es ist heute des HErrn Tag, das, was getan, zu vergelten. Wo dieser Tag statt hat, ist nirgends gesagt; wir brauchen es noch nicht zu wissen.

Wohl die erste Begegnung und Begrüßung wird schon überleiten zu dem feierlichen Akt, bei dem in lautloser Stille jeder huldigend und anbetend der Eröffnungen harrt, die aus Seinem Munde kommen werden. Er setzt Sich - Er, der Erstgeborne, ein Bruder unter Brüder, wie einst der erhöhte Joseph - zu einem Verhör. Tränen des Glückes der ersten Begegnung glänzen noch in aller Augen.

Aber, was ist das? Er, der auf dem Stuhle sitzt - Sein Antlitz strahlt nun in göttlicher Herrlichkeit, und Seine Stimme ist wie Meeresrauschen. wie einst Johannes auf Patmos Ihn geschaut, als Er in einer Vorprobe als der, „der Herz und Nieren prüft“ (Offenbarung 2,23), die gewaltigen Worte gesprochen: „Ich weiß deine Werke!“ Der Tag einer endgültigen Klärung ist gekommen.

Jeden, der vor Ihm steht, kennt Er, und alle kennen Ihn. Ein jeder hat Ihn angerufen und eine entscheidende Begegnung mit Ihm gehabt; darum ist er hier. Und Er kennt jeden mit Namen, nach seiner Wesensart, nach dem Kern seiner Persönlichkeit, wie diese geworden ist. Aller Name ist längst eingetragen in Seinem geheimen Archiv. Einen neuen Namen werden die Seinen nun empfangen. Von diesem hat Er schon Offenbarung 2,17 geredet als einem Namen, „den niemand versteht, als der ihn empfängt, geschrieben auf einem weißen Stein“. Damit ist hingewiesen auf einen derzeitigen Brauch, wonach solcher Stein als Zeichen und Symbol der Freisprechung dem schuldlos befundenen Angeklagten vom Richter überreicht wurde. Auch dem neuen Namen liegt die gnadenvolle Zuerkennung der Gerechtigkeit Christi zugrunde. Und dieser neue Name ist nichts anderes, als die schon hier in Gotteskindern verborgen ruhende innere Wesenheit, die nun in mannigfaltiger Individualität und Eigentümlichkeit an den Tag kommt und in dem neuen Namen jedem einzelnen vor aller Augen zuerkannt und beigegeben wird.

Auch hiervon hat es schon Vorproben gegeben, die die Sache klarstellen. Einen Jakob sehen wir zu Pniel mit dem HErrn kämpfen, weinend und flehend: „Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn!“ (1. Mose 32,27; Hosea 12,4.) Bei allen seinen Unvollkommenheiten offenbart sich in dieser Nacht bei Jakob ein Kern neuer Wesenheit, die ihn als Verlobter Gottes längst mit Gott verbunden hatte. Nun tritt dieser verborgene Wesenskern in einem gewaltigen Ringen seiner Seele nach Ablegung alles Wustes, den er bei sich getragen, entscheidend und sieghaft hervor. Und welche Antwort wird ihm? „Du sollst nicht mehr Jakob (Ueberlister) heißen, sondern Israel (Gotteskämpfer); denn du hast mit Gott und Menschen gekämpft und bist obgelegen.“ Dieser neue Name ist es, der ihm in den heiligen Urkunden Gottes verblieben ist und am Tage des HErrn seine Bestätigung finden wird. -

Einem andern Fall begegnen wir im Jüngerkreise. Ein Brüderpaar wird von Jesus in Seine Nachfolge berufen. Einer davon ist Simon, Jonas Sohn. Seine Naturanlage zeichnete kecker Mut und wagemute Willensstärke aus. Aber was bedeutet diese im Gnadenleben? Dies Eigenwesen wurde erst verklärt, als er Christus, den Felsengrund, umklammerte in dem Bekenntnis: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Matthäus 16,18). Dies Bekenntnis, in dem Jesus eine Offenbarung Seines Vaters in der Seele des Simon erblickte, trug ihm den neuen Namen „Petrus“ = Fels ein; damit war gleichzeitig prophetisch vorausschauend angezeigt, daß der Meister in Seiner Erziehungsschule aus Petrus das machen werde, was dieser neue Name bedeutete und was später in seinen Briefen Zeile um Zeile so lieblich hervorleuchtet. Dieser neue Name ist ihm verblieben; er hat ihn auch nicht verloren, als er in schwacher Stunde den HErrn verleugnete, Ihn, den er so heiß liebte und an dem er mit ganzem Wesen hing, weshalb er nach seinem Fall auch ohne Verzug in heiligem Bußschmerz mit bitteren Tränen sich wieder zurechtfand. Sein neuer Name wird auch dereinst anerkannt werden.

Bei allen Heiligen wird mit dem neuen Namen, der ihnen beigelegt wird, alles Vergangene ausgetilgt sein, um in ihm fortan eine persönlichkeitseigene Wesensart auszusprechen, die göttlich anerkannt ist. Nach Himmelsbrauch wird es nur noch dieser neue Name sein, der seine Geltung besitzt und in aller Munde sein wird. Der ewige Grund der Seligkeit bleibt die Erlösung auf Golgatha; aber der Grad der Herrlichkeit bestimmt sich danach, welcher innere Wesenskern der Persönlichkeit kraft der Gnade in Christus sich in dem diesseitigen Leben herausgebildet hat. In dem neuen Namen findet diese gewordene personhafte Wesenheit des einzelnen ihren gebührenden Ausdruck, er ist das Lob, das ihm zuteil wird, die Würde und Dienststellung, die er damit erlangt.

3.

„Wir müssen alle offenbar werden.“ Von denen, die der Apostel mit „Wir“ umschließt, sagt er in Vers 17, daß sie in Christus „eine neue Kreatur“ geworden sind. Nicht so, als ob sie in sich schon fertig und vollendet seien. Aber diese Neuschöpfung ist auf Vollendung angelegt. Es ist zu einer neuen Lebensrichtung gekommen, zu der Gott den Anfang gesetzt hat, damit nun Werke erwachsen, die göttliches Leben in sich tragen. Diese Werke weisen wiederum zurück auf eine Urbestimmung des Menschen, die Gott in Christus neu aufgenommen hat und bei allen, die aus Ihm her sind, ihre Verwirklichung finden soll. Durch diese Neuschöpfung sind die von Gott Berufenen und Erwählten in Christus in einen Lebensverband eingetreten mit einer Aufgabe, die als eine heilige Verantwortung fortan mit ihnen geht. Ohne diese Neuschöpfung wäre das Offenbarwerden an des HErrn Tage eine Posse, und Gott würde leere Hände finden. Nun aber ist es unerläßlich, und der Apostel schließt sich mit dem „Wir“ in dies Unabänderliche mit ein.

Ein weiteres ist damit gegeben. Diese Neuschöpfung hat zum Gegenstand menschliche Persönlichkeiten, deren jede einzeln für sich selbst besteht. Jede ist eine selbständige und bestimmte Größe für sich. Die Mitteilung einer neuen Naturbestimmtheit auf dem Wege menschlich-natürlicher Fortpflanzung ist bei Gott nicht in Erwägung gekommen. Wenn sie möglich gewesen wäre, würde Gott sicher dazu geschritten sein. Aber dieser Weg war ungangbar. „Es sei denn, daß jemand (d.h. jeder für sich) von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen“ (Johannes 3,3). Gott hat Sich die Arbeit gestellt, mit einzelnen Menschen neu anzufangen; es handelt sich also jedesmal um eine neue Gottestag, um eine Neuschöpfung für sich. - Darin ist es denn auch begründet, daß an dem Gerichtstage Christi ein summarisches Verfahren nicht statthaben kann: „Ein jeglicher wird für sich selbst Rechenschaft geben“ (Römer 14,12). Jeder einzelne muß vortreten, Christus gegenüber Auge in Auge. Jedwedes zurückliegendes Leben bildet einen Einzelfall für sich - nicht als bloße Nummer, sondern als eine Persönlichkeit, deren Belange eine angelegentliche Erörterung finden müssen, wie es die Stunde erfordert. Um ein Letztes handelt es sich, um einen Abschluß des Vergangenen, und um ein Bleibendes, mit dem ein jeder in kommende Aeonen hineinschreitet.

In dieser neuschöpferischen Tätigkeit Gottes, die in Christus als dem „neuen Menschen“ (Epheser 2,15) eingesetzt hat und in Ihm ihre Durchführung findet, ist es auch begründet, daß diese Menschheit als Ganzes ihre gesonderte Darstellung vor dem Richterstuhl Christi finden muß. Diejenigen, welche aus dem alten Weltverband herausgenommen sind, können nicht mehr beim allgemeinen Weltgericht mit der übrigen Menschheit zusammen erscheinen und mit ihr vermengt werden. Diese Ueberwinder, die im Gegensatz zu Welt und Teufel obgelegen habe, müssen vielmehr als Beisitzer mit dabei sein, wenn jenes allgemeine Gericht gehalten wird: „Wisset ihr nicht, daß die Heiligen die Welt richten werden?“ (1. Korinther 6,2.3.) Jede Neugeburt ist eine Gottestag, die als eine Neuschöpfung aus der alten Schöpfung herausragt; deshalb müssen auch neue Maßstäbe angelegt werden, wenn Gott Sein eigenes Werk nicht verleugnen soll. Darum sagt der Heiland: „Wahrlich, wahrlich, Ich sage euch: Wer Mein Wort höret und glaubet Dem, der Mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht (wörtlich: gar nicht, keineswegs) in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen“ (Johannes 5,24). -

Dies ergibt sich auch aus einer anderen Erwägung. Die Versöhnungstat auf Golgatha, die im zweiten Teil von 2. Korinther 5 mit der Neuschöpfung Gottes in Christus enge verknüpft ist, würde ins Wanken geraten und vernichtet werden, wenn Gläubige, die bereits gerecht gesprochen sind (Vers 21), in ein Gerichtsverfahren gestellt würden, das dazu da ist, über Verdammnis oder Seligkeit erst zu entscheiden. Das Wort katá - krima = Verdammungsgericht gestanden hat und daher Römer 8,3 dies gewaltige Wort in bezug auf den Opfergang Christi gebraucht ist.

Wir verstehen es daher, daß der Apostel im Blick auf die Gläubigen das Wort „Gericht“ überhaupt vermeidet, dagegen vielmehr an unserer Stelle sagt: „Wir müssen alle offenbar werden“; ferner 1. Korinther 3,13: „Eines jeglichen Werk wird offenbar werden; der Tag wird es klar machen“; weiter Kapitel 4,5: „Er wird ans Licht bringen, was im Finstern verborgen ist und den Rat der Herzen offenbaren“; ebenso Römer 14,10: „Wir müssen alle vor dem Richterstuhl (bäma) Christi dargestellt werden (erscheinen)“. Nur einmal (1. Johannes 4,17) ist in bezug auf Gläubige das Wort „Gericht“ gebraucht: „auf daß wir eine Freudigkeit haben am Tage des Gerichts“. Denn auch das Preisrichteramt hat es mit einem Spruch zu tun, der „ohne Ansehen der Person“ zu fällen und zu begründen ist. Dies ist das Majestätsrecht, das Christus als dem HErrn Seiner Gemeinde zusteht. Wenn wir in diesen Blättern die Bezeichnung „Gericht“ und „Gerichtstag“ beibehalten, so geschieht dies nur im Sinne dieser Rechtsverwaltung, die Christus gegenüber Seiner Gemeinde zusteht. Wir werden weiter sehen, worin diese ihre Begründung hat.

Das Wort „offenbar werden“ steht im Gegensatz zum Dunkel der Vergangenheit. Hienieden sind Gesinnung und Taten des Menschen nach ihrer wahren Beschaffenheit wie in einer Dämmerung undeutlich; sie täuschen oft und sie versinken in Vergessenheit. Vieles bleibt verhüllt, und anderes steht in falschem, täuschendem Licht durch äußeren Schein. Wir schauen die Schale, nicht den Kern. Das eigentliche Ich steht in einer Verschleierung hinter dem, was wir sehen. Während die Handlung nach außen vor sich geht, bleibt der „Regisseur“ in seinem Versteck. Es ist unsere kreatürliche Armut, daß wir nur sehen, was vor Augen ist, wie wir ja auch nicht ins Innere der Natur zu schauen vermögen, wo nie rastende Kräfte ihr geheimnisvolles Spiel treiben. - Soll das verantwortliche Ich nimmer ans Licht gezogen werden? Ist anders ein zutreffendes Werturteil möglich? Kann ein Gotteskind beanspruchen, daß ihm jegliches Untersuchungsverfahren erspart bleibt?

Letzteres dürfte auf den ersten Blick hin angenommen werden. Die vergebene Schuld ist versenkt in der Tiefe des Meeres, ausgelöscht durch Christi Blut, hinweggetan. Sie darf nicht wieder erscheinen, jedenfalls nicht als Schuld. Auch bei dem Begnadigten selbst ist kraft der Vergebung das Gewissen mit seiner Anklage zu Ende gekommen. Aber in der Erinnerung lebt sie ewig fort als Preis der Gnade, auch als Grund zur Beugung, wie wir bei Paulus sehen (1. Timotheus 1,12 f.). Petrus hat es nie vergessen, daß er seinen Meister verleugnete. Und nachdem jene Uebereilung längst vergeben, sehen wir, daß der Auferstandene an diese zart und schonend in dreimaliger Frage erinnert: „Simon Johanna, hast du Mich lieb?“ (Johannes 21,15-17). Der tiefgeknickte Petrus läßt es sich gefallen, mit seinem alten Namen angeredet zu werden; er besteht das Examen und wird wieder in sein Amt eingesetzt, ihm wird der Hirtenstab über Christi Herde in die Hand gelegt.

Ein Gleichnis: Ein Vater hat seine Söhne um sich versammelt; er will ihnen seine Güter übertragen. Jeden hat er lieb. Ihre Fähigkeiten hat er erprobt und kennengelernt. Vieles haben sie im Unverstand verkehrt gemacht. Keiner ist dem andern gleich; verschieden ist ihre Art und ihr Können. Er läßt vor ihren Ohren alles vorüberziehen, was aus ihnen geworden, was sie versäumt und recht getan, und welche Leistungen er ihnen zumuten durfte. Alsdann setzt er sie in ihre zukünftigen Rechte ein, genau so, wie es jedem zukommt, und alle küssen seine Hand in dem Bewußtsein, daß die Einsicht des Vaters alles recht gemacht und seine Güte ihnen mehr beschert, als sie es verdient.

Der Apostel kennt den, der auf dem Stuhl sitzen wird, als den „gerechten Richter“ (2. Timotheus 4,8). Dies ist ihm Mahnung und Trost zugleich - beides aus gleichem Grunde: weil Christus die innersten Beweggründe kennt, und weil diese für Seine Urteilsbildung durchschlagend sind. Darum ist auch jedwedes Fehlurteil ausgeschlossen. nicht in täuschendem äußeren Werk, sondern in ihren untrüglichen inneren Antrieben wird der Tatbestand gefunden. Mag ein Werk unvollkommen sein - der ihm anhaftende Mangel wird durch die Gesinnung, in der es vollbracht wird, durch die Lauterkeit innersten Wesens geheilt. Genau so lobte der Heiland die Maria und nahm sie in Schutz gegenüber der von den Jüngern getadelten Verschwendung, weil Er in dem Ausguß der teuren Narde ihre Liebe und einen Glauben sah, zu dem die Jünger selber nicht hinangekommen waren.

An jenem Tage wird es allein auf diese inneren Belange und Vorgänge ankommen. Deutlich ausgesprochen ist dies mit dem Worte „offenbar machen“ und noch deutlicher im ersten Korintherbriefe Kapitel 4,5: „Er wird ans Licht ziehen, was im Dunkel verborgen liegt, und den Tag des Herzens offenbaren.“ Die Korinther legten großen Wort auf guten Ton und äußere Aufmachung, und daher muß ihnen der Apostel einmal erklären: „Das Reich Gottes besteht nicht in Worten, sondern in Kraft“ (1. Korinther 4,20). Einst - so will der Apostel ihnen sagen - wird aller Schein wie ein blasser Nebelschleier zerrinnen und das wahre Wesen hervortreten wie in hellem Mittagsglanz. Schon in der heiligen Geschichte ist immer alles auf die den Menschen verborgenen, aber Gott offenbaren inneren leitenden Gedanken und Ueberlegungen zurückgeführt, so daß die Geschehnisse zu einem Spiegel werden, der unser eigenes Bild widergibt; es ist der Heilige Geist, der hier Geschichte schreibt. Alle menschlichen Lebensbeschreibungen lassen dagegen die Färbung der persönlichen Anschauung des Schreibers oft allzu deutlich hervortreten. Wie töricht ist es doch, von dem Urteil anderer Menschen, ihrer Anerkennung oder ihrem Mißfallen, sich bestimmen zu lassen, anstatt allein darauf bedacht zu sein, dem HErrn wohlzugefallen und in unbekümmerter Einfalt und in der Festigkeit eines gebundenen Gewissens Seinen Willen zu tun! Die Einbuße in den Augen der Menschen ist leicht zu verschmerzen; aber das Mißfallen bei Gott bringt einen Verlust, der droben gebucht wird. Der Zwiespalt zwischen Schein und Wesen muß einmal aufhören, und dazu ist die einstige Gerichtstagung gesetzt.

Der irdische Richter kümmert sich nicht um die Motive (Beweggründe), die er nicht sehen und daher auch nicht richten kann. Es geht ihm allein um die Handlung, die zu erfassen ihm nur möglich ist. Kein menschliches Gesetz geht darüber hinaus. Umgekehrt ist es bei Gott. Am Tage des HErrn wird die göttliche Weltordnung in ihre Rechte eintreten. Es ist rätlich, sich auf diese beizeiten einzustellen, um keine Ueberraschungen zu erleben! Das Aeußerliche eines Werkes gehört dieser Zeit an und wird mit ihr vergehen. Einmal wird die innere Gesinnung, die sich hinter ihm versteckt, hervorgeholt und ans Licht gestellt werden.

Der Sauerteig judaistischen Schein- und Heuchelwesens, dem äußeren religiösen Werk das Mäntelchen der Verdienstlichkeit umzuhängen, geht auch heute noch in der Masse um. Die Werkgerechtigkeit, die äußere und gedankenlose Verrichtung religiöser Uebungen und Bräuche hat die Menge verzaubert. Heilige Handlungen sind zum Blendwerk geworden. Heidentum! Aber auch Gläubige können von dieser verseuchten Atmosphäre mehr oder weniger berührt werden. Bei dem besten Tun kann die Unmittelbarkeit zu Gott, die ihm erst Weihe und Wert gibt, vermißt werden. Auch die irdische Berufsarbeit kann aufhören, Gottesdienst zu sein. Und wie es ist mit der Verwaltung anvertrauten irdischen Gutes? Kann hier die Aussaat aufs Ewige oder der Gewinn nicht dadurch verloren gehen, daß man ein falsches Konto anlegt? Und wie ist es mit dem anvertrauten höchsten Gut, dem Evangelium? Lassen wir uns zu jedem Dienst, wie er auch geartet ist, den drängenden Zug der Liebe Christi schenken? Oder ist es verhallender Klang einer törichten Schelle? Oft wird der Berechtigungsnachweis und die Sendung für den Dienst in menschlicher Redegewandtheit gefunden, anstatt in der Beweisung des Geistes und der Kraft und in einer geheiligten Lebenshaltung vor Gott. Diener Christi können es sich oft leicht machen mit dem Zuspruch der Gnade, wo göttliche Buße noch fehlt; ein Evangelisationsbetrieb kann mit Zahlen rechnen, wo nur Nullen stehen, weil es nicht in heiligem Zusammenbruch zur Reinigung der vorigen Sünden kommt. Doch genug. Alles wird der Tag des HErrn ins Licht setzen. „Es wird eines jeglichen Werk offenbar werden; der Tag wird es klar machen; denn es wird durchs Feuer offenbar werden, und welcherlei eines jeglichen Werk sei, wird das Feuer bewähren“ (1. Korinther 3,13).

Noch eins drängt sich uns hier auf. Es steht 1. Korinther 11,31 geschrieben: „So wir uns selber richten, so werden wir nicht gerichtet.“ Es ist hier das Wort dia-krinein = durchrichten gebraucht. Gemeint ist also ein Sichten und Scheiden, das die inneren Zustände bestimmt und auseinanderhält. Diese aber sind die Beweggründe, auf die es allein ankommt. Gott verlangt nie Unmögliches. Ein Kind Gottes muß daher befähigt und ausgerüstet sein, eine Selbstprüfung vorzunehmen, die alle Gedanken und Ueberlegungen erfaßt. Daß Gott ihm durch die Mitteilung Seines Geistes dies Vermögen verliehen hat, erkennen wir darin, daß in der Schrift immer wieder zu dieser Prüfung aufgefordert wird. Noch unmittelbar vorher ist in Vers 28 die Aufforderung ausgesprochen: „Der Mensch aber prüfe sich selbst“ (vergl. Galater 6,4; 2. Korinther 13,5). Ebenso Epheser 5,10: „Prüfet, was da sei wohlgefällig dem HErrn“, und Philipper 1,10: „auf daß ihr prüfen möget, was das Beste sei“ (vergleiche 1. Thessalonicher 5,21).

Diese Selbstprüfung und Durchrichtung ist etwa zu vergleichen mit dem, was jede reinliche Hausfrau täglich tut, wenn sie mit Besen und Putztuch in die Ecken ihrer Wohnung geht. Kein Schmutz darf sich ansammeln, kein Spinngewebe hängenbleiben. Selbst im Naturleben ist durch Wind und Wetter dafür gesorgt, daß Dünste verwehen und Schädlinge vernichtet werden. Sollen im Innenleben eines Gotteskindes alte Ansammlungen bestehen bleiben, Dinge, die sich einfressen, ein Unrat, der alles verpestet? Unmöglich! Gott ist ein Feuer, in dem unser Eigenleben verzehrt wird. Der Geist Gottes, diese Himmelstaube, läßt sich nicht auf unreine Plätze nieder.

Die tägliche Durchrichtung ist es auch, die zur rechten Wachsamkeit führt. Schon das flüchtige Wort, unbedachtsam ausgesprochen, holt eine Ewigkeit nicht zurück; aber oft hat es ein Aergernis angerichtet oder die Ehre eines Bruder verletzt. Auffallend genau nimmt es im besonderen die Schrift mit der Unversöhnlichkeit. Bei zwei besonderen Gelegenheiten hat Jesus es ausgesprochen: „Wo ihr den Menschen nicht ihre Fehler vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch nicht eure Fehler vergeben“ (Matthäus 6,15; Markus 11,26). Dies hat einen doppelten Grund. Einmal ist es ein Widerspruch, dem Bruder das zu versagen, was ich selber von Gott beanspruche; es wird damit der Boden weggerissen, auf dem ich selber stehen will. Sodann aber frißt nichts sich tiefer ein in das Seelenleben, als Unversöhnlichkeit; die innerste Festung des Herzens wird dem Argen preisgegeben und von ihm besetzt. Die Wache hat versagt, und eine Stellung ist verlorengegangen, die allein durch eine heilige Durchrichtung wiedererlangt werden kann.

Alle Vergebungsgnade wird auf dem Wege der täglichen Durchrichtung dargereicht. In 1. Johannes 1,8 heißt es. „So wir unsere Sünden bekennen, so ist Gott treu und gerecht, daß Er unsere Sünden vergibt und uns reinigt von aller Untugend.“ Sündenbekenntnis ist aber nichts anderes als Selbstgericht. Das Bekenntnis holt die Verfehlung hervor und streckt sie Gott entgegen. Die Sünde wird damit objektiviert, d.h. als etwas gegenständlich gemacht, das nicht in uns gehört; sie wird damit als Fremdes zur Ausscheidung gebracht. Diesem Aufschrei kommt Gott entgegen, indem Er die Sünde vergibt und ihre Ausscheidung selber in die Hand nimmt. Unvergebene Sünde ist nicht nur ein unwürdiger Zustand des Kindes Gottes, sondern auch eine Einbuße der ihm verbrieften Gnadenrechte, eine Störung des Gleichgewichts, die seinen Segensstand ins Wanken bringt, bis es wieder hergestellt ist.

Die tägliche Durchrichtung ist uns als eine Hilfe gegeben, durch uns selbst eine richterliche Handlung vorwegzunehmen, die an des HErrn Tage anerkannt wird. Sie ist in unsere Hand gelegt, damit über die durch sie gerichteten Verfehlungen die Akten geschlossen werden und ein weiteres Untersuchungsverfahren nicht stattzuhaben braucht. Das Gotteskind wagt damit das Gewaltigste, was es gibt: sich selbst zu richten. Dabei fürchtet es nicht, sich dabei zu vernichten. Es schreitet vor die Schranken, vor denen es einmal stehen wird. Es will sein Urteil hinnehmen, sein Todesurteil, um ihm zu entrinnen. Es schließt sich mit Gottes Urteil zusammen, um ledig auszugehen. Denn es kommt in der Deckung seines Stellvertreters, der volle Genugtuung geleistet hat. In Jesu Namen hat das Gotteskind Vollmacht empfangen, göttliche Lösungen vorzunehmen. Was irgend in unserem Leben durch uns selbst vor Gott gerichtet ist, kann als Anklage einem zweiten Gericht nicht unterworfen werden. Oh, ein treuer Gott, der es so gut mit den Seinen meint!

4.

Klar und bündig spricht der Apostel sich über eine Bedeutung des Gerichtstages aus, die von einem verflachten Christenthum gerne zurückgedrängt und beiseitegesetzt wird: „auf daß ein jeglicher empfange, nach dem er gehandelt hat bei Leibesleben.“

Das Wort „empfangen“ bedeutet hier in der Grundsprache: etwas entgegennehmen, worauf ein Rechtsanspruch besteht. In diesem Sinne wird es auch gebraucht Epheser 6,8: „Wisset, was ein jeglicher Gutes tun wird, das wird er von dem HErrn empfangen, er sei ein Sklave oder ein Freier“; ebenso Kolosser 3,25: „Wer aber unrecht tut, der wird auch empfangen, was er unrecht getan hat, und es gilt kein Ansehen der Person.“ Es ist damit der Grundsatz gerechter Vergeltung ausgesprochen. Nicht darf uns dies überraschen oder befremden, als ob damit die Gnade umgeworfen werde. Auch innerhalb der Gnadenhaushaltung waltet das Recht - ein Recht, das sogar sehr genau ist. Es ist in der göttlichen Wesenheit begründet, daß es auch denen gegenüber, die in der Gnade stehen, nicht aufgehoben werden kann. Gnade und Recht gehen nebeneinander her und haben die gleiche Wurzel. Die Gnade nimmt den Menschen auf in einen Verband, in dem unumstößliche Ordnungen ihre Geltung haben. Gott selber ist an sie gebunden, weil Er sie gesetzt hat und weil Er mit Sich selber nicht in Widerspruch treten kann. Diese Grundsätze aufgeben, würde die Sache Gottes zugrunde richten und ihren Bestand auflösen.

Die Gnade selber steht mit dem Recht im Bunde. Kraft der vollgültigen Rechtsleistung und der stellvertretenden Genugtuung in Christus ist die Gnade zu einem Anspruch geworden, den der Glaube in Empfang nimmt. Durch diese Gnade tritt der Mensch ein in die Gottesgemeinschaft. Das ist auch die Bedeutung des Wortes „Religion“: re = wieder, ligio - verbundensein. Dies neue Verhältnis zu Gott macht es nun erst möglich, in ein Werk einzutreten, in dem wir „Gott wohlgefallen“ (Vers 9). Das ist es gerade, was der Apostel in unserem Abschnitt dartun will, daß wir „die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangen“ haben (Kapitel 6,1). Gottes Recht und Seine Ehre verlangen es, daß in diesem neuen Verhältnis der Anspruch Gottes sogar gesteigert und Sein Recht verfeinert ist. Der Maßstab ist ein anderer geworden, gerade so, wie ein Vater gegenüber seinem Sohne genauer verfährt als gegenüber dem Knecht in seinem Hause.

Schon hienieden schaut das erleuchtete Auge das gerechte Walten Gottes. Nicht planlos ist der Geschichtsverlauf. Sind die Fäden auch dünn, die das Geschehen halten, so sind sie doch stark genug, dies dem Tage entgegenzuführen, an dem Er reden wird. „Gott ist ja noch Richter auf Erden“ (Psalm 58,12). Gerade in dem Leben Seiner Heiligen sehen wir bei allen Wechselfällen die deutliche Linie hervortreten, die nichts durchgehen läßt; jeder wird das Werk Seiner Hände finden. Zugleich aber ist - wie schon bei den Frommen des Alten Bundes - die Gerechtigkeit Gottes ihr Trost, nämlich, daß Er ihnen Recht schaffe und daß Er ihre Sache führe. Jesus selber ist diesen Weg gegangen: „Er schalt nicht, da Er gescholten ward, Er dräuete nicht, da Er litt; er stellte es aber Dem anheim, der da recht richtet“ (1. Petrus 3,23). Und Gott hat Ihm Recht verschafft und Seine Sache geführt, so augenscheinlich, daß Er Ihn setzte zu Seiner Rechten.

Es liegt nicht in Gottes Plan, und es ist auch nicht möglich, daß der Ausgleich göttlicher Gerechtigkeit schon hier, wo alles im Fluß ist, völlig vor sich gehe - auch nicht bei Seinen Heiligen. Die große Auseinandersetzung ist vertagt, die Vergeltung nach Gebühr und Anspruch aufgeschoben. Sie ist auf lange Sicht gestellt. Dieser Aufschub ist es, der die Forderung des Glaubens überhaupt begründet. Schon den Vätern des Alten Bundes war diese Aufgabe überkommen. Gott ist davon nicht abgegangen. Auch den Heiligen des Neuen Bundes bleibt es nicht erspart, „durch Geduld und Glauben die Verheißungen zu erwerben“ (Hebräer 6,12). In dem „Dennoch“ des Glaubens gegenüber der einstweiligen Suspension (Aufschiebung) göttlichen Eintretens erweist Er Seine weltüberwindende Kraft. Der Glaube ist es gerade, der die kommende Vergeltung zum stärksten Motiv (Beweggrund) macht, aus seiner Linie nicht herauszutreten. Warum? Weil er in sich die Verheißung trägt, daß eine gerechte Vergeltung kommen wird, oder wie es Hebräer 11,6 heißt: „Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott zu gefallen; denn wer zu Gott kommen will, muß glauben, daß Er sei und denen, die Ihn suchen, ein Vergelter werde.“

Nichts anderes ist es, was Paulus vorliegend sagen will, nämlich, daß ein Tag kommt, an dem ein jeglicher seinen gerechten Anspruch „empfangen“ wird. Dieser Gedanke ist der starke Unterton dieses ganzen einzigartigen Briefes, und dieser Gedanke allein gab dem Dienst und Leben des Apostels die lebendige Spannkraft, die wir bei ihm sehen. Alles Leiden und Mühen, aller Kampf und alle Mühsal ist ihm nur Durchgang und Uebergang zur Herrlichkeit, die ihm winkte. Eingespannt in seines HErrn Joch, gab es für ihn keine eigene Wahl, kein Austreten zur Rechten oder zur Linken. keine freiwillige Ausspannung ist ihm gewährt; keinen Urlaub darf er sich gönnen, solange sein Arbeitstag währt.

Diese Gewißheit gab dem Apostel auch die bei ihm bestimmt hervortretende Selbständigkeit und Unabhängigkeit vom Urteil der Menschen, das er immer ablehnte. In dieser Hinsicht gewinnt schon der folgende Vers 11 Bedeutung: „Dieweil wir wissen, daß der HErr zu fürchten ist, überreden wir die Menschen; aber Gott sind wir offenbar.“ Diese Worte muten uns an wie eine Auslegung, die er selber gibt in Anwendung auf die Lage, in der er sich befindet. Zweierlei spricht er hier aus. Einmal das Bewußtsein der Verantwortung, das überall mit ihm geht und nimmer ihn verläßt, die heilige Scheu, die ihm die eine Sorge auflegt: etwa des „Wohlgefallens des HErrn“ (Vers 9) verlustig zu gehen. Sodann getröstet er sich dessen, daß von dem HErrn, dem er offenbar ist, seine Arbeit nach dem wahren Wert und Wesen anerkannt werde. Und welcher Art war diese Arbeit? Er sagt: „Wir überreden die Menschen“ (Luther: wir fahren schön mit den Menschen). Er ist sich dessen bewußt, daß ihm eine größere Macht nicht beigelegt ist, und daß sein „Zureden“ alle Zeichen der Beschränkung und Unzulänglichkeit an sich trägt. Man warf ihm vor, daß Form und Inhalt seiner Rede nichts an sich habe von dem Pathos und Schwung griechischer Kunstredner, die sich in Korinth breit machten, und man verdächtigte ihn, daß man nicht wisse, was hinter seiner Rede sich verberge. Wessen getröstet er sich? Er nimmt für sich und seine Mitarbeiter in Anspruch: „Gott sind wir offenbar!“ Er weiß sich mit seinem Wesen und Wirken Gott gegenüber in die Sichtbarkeit getreten, Dem gegenüber, der alles sieht und kennt, und dessen urteil untrügerisch und entscheidend ist, und er hält dafür, daß Er dies dem künftigen Gerichtsspruch zugrunde legen wird. Wie hebt sich diese Einstellung so stark ab von allem eitlen Haschen nach Beifall der Menschen, und wie vermag dies zu trösten alle treuen Zeugen, denen blendender Redeschmuck versagt ist oder die mit Paulus jede Schönrederei für den heiligen Dienst am Evangelium für unpassend erachten, damit „nicht das Kreuz Christi zunichte werde“ (1. Korinther 1,17). Aber auch eine vernichtende Absage an jene kindische Unmündigkeit, die ihre Urteilsbildung nur in äußerem Schein findet und der Gotteskraft fremd gegenübersteht! Der rechte Abstand ist dabei verloren, der Blick verengt und das Urteil getrübt. Welch eine gründliche Berichtigung aller dieser törichten Dinge und jämmerlichen Vorstellungen wird am einstigen Gerichtstage vor sich gehen!

Der Vergeltungsgedanke, wie wir ihn bereits gefunden haben, erhält seine nähere Bestimmung in den Worten: „nachdem er gehandelt hat bei Leibesleben“. Das Wort pros = nach, nach dem Maß, bezeichnet die Norm der Vergeltung, nach der diese geschieht, den Maßstab, den diese anlegen wird. Dessen können wir sicher sein, daß Christus diesen Maßstab besitzt. Eine Vorprobe hiervon haben wir in den sieben Sendschreiben Offenbarung 2 und 3. Wie das Gerichtsverfahren an Seinem Tage sein wird, tritt hier vor unsere Augen. Wenn es darum zu tun ist, keine Ueberraschungen zu erleben, tut gut, an Hand dieser Spiegelbilder von Seelenzuständen bei sich recht oft eine schonungslose Selbstprüfung anzustellen. Der erhöhte HErr, unser einstiger Richter, redet hier selber. Es sind Seine Gemeinden, zu denen Er spricht, und es ist wenig verständlich, daß diese Sendschreiben in dem christlichen Schriftentum so sehr vernachlässigt wurden. Von hundert Schriften tritt kaum eine an diese heran. Vielleicht liegt dies daran, daß der Begriff „Erbauung“ sich verschoben hat und daß man nicht daran gewöhnt ist, die heilige Sonde göttlicher Kritik in die Tiefen christlichen Lebens hinabzusenken und ein peinliches Selbstgericht bis ins Herz und Nieren vorzunehmen.

In diesen Sendschreiben ist alles ungeschminkt, ohne jede Retusche (Verschönerung), die geübte Photographen gerne anwenden. Nicht auf das äußere Werk kommt es hier an, sondern immer und allein auf den inneren Wesensgrund, dem Quell, aus dem das Werk hervorgegangen ist. Das Innerste des Herzens, die Stätte aller Pläne und Ueberlegungen, wird hier offengelegt. Die Vorgänge des Seelenlebens, verborgen nach außen, oft dem Menschen selber unbewußt, werden ans Licht gezogen. Es ist der Maßstab nach Himmelsbrauch, der angelegt wird und der uns verlorengegangen. „Der Mensch sieht, was vor Augen ist; Gott sieht das Herz an“ (1. Samuel 16,7). Aber unsere derzeitige geschöpfliche Beschränktheit auch dem Schöpfer anzudichten, ist eine Vermessenheit, die nur töricht wäre, wenn es sich nicht zugleich um unsere eigensten und höchsten Belange handelte. Jedes Versteckenspielen sollte uns nach dem ersten Versuch in Eden gründlich vergangen sein.

Allerdings hat es der kleine Mensch im Verstecken vor Gott herrlich weit gebracht, seit ihm die Sichtbarkeit das Maß aller Dinge geworden ist. Gleich einem Maulwurf, der aus seiner dunklen Kammer nicht herauskommt, hat er sich eine Weltordnung geschaffen, die da zu Ende ist, wo sein blödes Auge nichts sehen und seine verschrumpfte Hand nichts greifen kann. Schon der Naturverlauf mit seinen tausend Wundern ist dem Menschen verhängt und wird es bleiben, bis der Schleier der Leiblichkeit fallen und er hineingestellt wird in eine Ordnung der Dinge, in der die Sinnlichkeit zerrissen ist, wie der trübe Dunst vor der Sonne. Es ist gut, daß auch gelehrte Köpfe je und je ratlos dastehen. Der christliche Glaube geht freilich an dem Verstand vorbei und greift tiefer, bis dahin, wo alle Entscheidungen vor sich gehen. Von ihrem Freund Bileam könnten die gottentfremdeten Alleswisser etwas lernen. Gottes Licht leuchtete in dessen Inneres hinein, und er ward ein „Hörer göttlicher Rede“. Aber die Tücke des Herzens gab er nicht preis, und seine Gebundenheiten ward er nicht los. Auch der denkbegabte Mensch muß schon das ihm verliehene Vermögen vergewaltigen und niederringen, um seinem Willen zum Bösen zum Erfolg zu verhelfen, und er muß mit Keulenschlägen sein Gewissen zum Schweigen bringen, um diesem das ewige Brandmal aufzudrücken. Schwer wird dies dem Menschen gemacht, und daß er im Grunde dies Verfahren Gott gegenüber anwendet, ist der Uebel größtes. Er leugnet Gott, weil er glaubt, ihm dadurch entrinnen zu können.

Aller Rettung Anfang ist da, wo der Mensch seine sorgsam gehüteten eigenen Vorstellungen und Neigungen von dem göttlichen Licht der Wahrheit zerstören und damit seinen Widerstand gegen die rechte Erkenntnis Gottes brechen läßt. Und wo der Rettung Anfang ist, da bleibt auch ihr Fortgang. Alles Böse hat seine Entfaltung im Finstern, dem es entstammt. Keine Mikroben und Krankheitskeime halten sich im hellen Strahl der Sonne. Alles neue Leben ist Lichtsleben und darum lichthungrig. Indem wir uns täglich von dem Licht durchrichten lassen, wird die bannende Macht der Sünde aufgehoben.

Diese Durchrichtung ist eine Vorwegnahme des kommenden Gerichtes. Während wir aber hier vor den Richterstuhl treten, wird er uns zum Gnadenstuhl. Das Blut Jesu gibt Deckung und Reinigung zugleich. Gericht ist Scheidung, und jede Scheidung öffnet den Zufluß neuer Gnade. Die Bloßlegung verborgener Verderbenstiefen mag uns erschrecken und Angstrufe auspressen; aber es gibt keinen anderen Weg zur Genesung. Er, der hier führt in die Hölle, führt auch wieder heraus. Ueber Sinai mit seinen Blitzen geht allewege der Weg nach Golgatha mit seiner Gnade.

Es liegt in der Natur des Selbstgerichts, daß es in zermalmendem Schmerz fühlen läßt, was Sünde ist. Das kann uns nicht erspart bleiben, damit wir von ihr gelöst werden. Der göttliche Gegensatz gegen Sünde und Fleisch wirkt sich in diesem größten Leid alles Leids aus. Dieses Herzeleid kommt nicht vom Satan, sondern von Gott selber, weshalb es 2. Korinther 7,10 „göttliche Reue“, näher: eine „von Gott“ (kata theón) herbeigeführte Reue genannt wird. Gott selber ist es, der in dem Selbstgericht handelnd auftritt, weshalb es besser „Gottesgericht“ genannt würde, doch wäre das wieder mißverständlich, weil es zudem nicht ganz besagt, was gemeint ist, nämlich ein Gericht, das wohl von Gott selber, aber nicht ohne unsere Mitwirkung vollzogen wird. Es ist ein Gericht zu dem Zweck, „eine Sinnesänderung zum Heil“ (wörtlich) herbeizuführen, und zwar zu einem Heil, „das niemand gereuet“, d.h. sowohl unwiderruflich ist, als auch zur Freude auswächst. So oft wir dem Selbstgericht Raum geben, öffnen sich neue Quellen von Kraft und Gnade.

Nichts anderes ist auch der Zweck der Sendschreiben Offenbarung 2 und 3. Darum hier die wiederkehrende Aufforderung: „Tue Buße!“ Alle göttliche Bloßlegung unserer Verderbenstiefen hat zu ihrem Endzweck die Aufrechterhaltung ungetrübter Gottesgemeinschaft, und zwar auf dem Wege, daß die Sünde finde, was sie verdient: das Gericht, das sie auf Golgatha entscheidend getroffen.

Man hat sich daran gewöhnt, von dem Gericht, in das die Gläubigen kommen werden, als von einem „Dienstgericht“ zu reden. man will damit sagen, daß es sich um Entscheidungen handle, welche die ihnen überkommene Dienstpflicht zum Gegenstand haben, nachdem bei ihnen die Frage, ob sie „selig werden“, bejahend erledigt sei und nicht mehr zur Erörterung stehe.

Diese Auffassung ist richtig. Vorwiegend wird es freilich darauf ankommen, was aus dem Menschen selbst geworden ist und wie er gehandelt hat. Aber auch der geleistete Dienst wird zur Tagesordnungen stehen, in ihr sogar eine hervorragende Stelle einnehmen. Er tritt jedenfalls nicht so zurück, wie dies mancher wünschen würde. Die dem Gläubigen überkommene Gnade ist nicht nur ein Verheißungsgut, das etwas gibt, sondern auch ein Arbeitsgut, das verpflichtet. Deswegen nimmt auch die Dienstpflicht der Gläubigen in der neutestamentlichen Schrift einen so breiten Raum ein.

Es war am Ende der öffentlichen Lehrtätigkeit Jesu, als er die Aufgabe Seiner Jünger dahin näher bestimmte, daß sie während Seiner Abwesenheit bis zu Seinem Wiederkommen als Verwalter Seiner Geschäft zu besorgen haben. In der Gleichnisrede von den anvertrauten Pfunden ist dies geschehen, die uns in zwei Evangelien aufbewahrt ist (Matthäus 25,14-30 und Lukas 19,11-28). Was in diesem Gleichnis besonders hervortritt, ist die Rechenschaft, die von den Knechten gefordert wird. Auch der Maßstab, der hierbei angelegt wird, ist deutlich genannt: die aufgewendete Treue. Einzeln wird jeder hervortreten und seinen Spruch empfangen. Lob und Tadel wird der HErr aussprechen, Würden verleihen oder zurücknehmen. Der Arbeitsertrag der aufgewendeten Treue wird seine öffentliche Anerkennung und angemessene Belohnung finden. Tiefer Ernst spricht aus diesen Gleichnisworten, die an des HErrn Tage ihre Erfüllung finden werden. Kein geistgewirktes Zeugnis wird verloren sein: die Arbeitstreue empfängt ihren Preis. Wer sein Leben um Christi willen gering achtete und sein alles einsetzte, wird als treuer Knecht seine Belobigung finden und ernten, was er gesät hat.

Auch im Johannesevangelium sind es wieder die letzten Reden, in denen Jesus die Jünger mit ihrer Aufgabe betraut, nämlich Seine Zeugen zu sein. Ohne Bild redet Er jetzt. Es ist ausschließlich die Ausrüstung für diesen Dienst, über die Er Sich diesmal ausspricht. Diese Ausrüstung werde der Größe der Aufgabe angemessen sein. in nichts Geringerem werde sie bestehen, als in der Sendung des Heiligen Geistes, dem Er eine neue vielsagende Bezeichnung gibt: Paraklet = Beistand, Sachwalter. Alle Belange des Dienstes werde Er in Seine Hand nehmen, an nichts werde Er es fehlen lassen, ganz könne man sich auf Ihn verlassen. Ja dieser selbst habe ein Bedürfnis, das sich ganz mit dem der Seinen decke: „Er selbst wird zeugen von Mir, und ihr werdet auch zeugen“ (Johannes 15,26.27).

In den apostolischen Briefen sind nun beide Gedanken miteinander verknüpft: sowohl der allgemeinen Dienstpflicht, wie der bestehenden Verantwortung an des HErrn Tage. Namentlich ist dies in dem Schriftteil 1. Korinther 2-4 geschehen, sowie in dem des zweiten Briefes Kapitel 3,5, dem die vorliegende Stelle Kapitel 5,10 entnommen ist. Damit ist die Aussage dieser letzteren Stelle, die wir unseren Erörterungen zugrunde gelegt haben, in unmittelbare Beziehung hierzu gestellt, ein Beweis dafür, daß auf diesen Dienst der kommende Gerichtstag ein besonderes Absehen haben wird. - Schon in dem ersten Korintherbrief wird das Schwergewicht ganz auf die Art gelegt, wie dieser Dienst geschieht. Dazu wird ein neues Bild gewählt. Der Dienst wird als Bauarbeit dargestellt. Wie bei einem Bauwerk einmal der Baugrund, auf dem gebaut wird, und sodann der Baustoff, der Verwendung findet, das Entscheidende ist, so werde es bei dem Gemeindebau auch sein. Christus der alleinige Grund; das feuerbeständige Material ist das volle Evangelium von dem in Ihm dargebotenen gegenwärtigen und vollkommenen Heil, auf dem der Bau der Gemeinde ruht, und neben diesem Evangelium gibt es nichts, was zu diesem Bau eine Verwendung finden kann. Gerade dies ist es, das mit aller Klarheit herausgestellt wird, und zwar mit der alles andere ausschließenden Bestimmtheit, daß das Evangelium allein den Maßstab dafür abgibt, welche Beurteilung die Arbeit am Gerichtstag finden wird. Am stärksten betont ist dabei der Tatbestand, daß dies Evangelium als rettende Gotteskraft allem überlege ist, und diese ausschlaggebenden ewigen Wirkungen des Evangeliums sind es wieder, auf die der Apostel in dem obigen Schriftteil des zweiten Briefes zurückkommt, um wegen dieser Kraftwirkungen des Evangeliums die Herrlichkeit des Neuen Bundes zu preisen.

Aus Vorstehendem ergibt sich, wessen wir uns dereinst vor dem Richterstuhl Christi hinsichtlich des Dienstes zu versehen haben. Unsere Aufgabe bis zum Wiederkommen des HErrn ist klar gezeichnet, der Dienstplan scharf umrissen. Es ist gut, daß dies geschehen ist. Wir kennen den Willen des erhöhten HErrn. Es gibt kein Deuteln daran. Das Wort des Admirals Nelson: „England erwartet, daß jeder seine Pflicht tut!“ gilt uns in höherem Sinne. Wer sein Saatkorn selbst verzehrt, erwarte keine Ernte. Auch mancher Arbeitsbetrieb, so augenfällig er gewesen und so sehr er gepriesen, wird aufgehen in Rauch und Asche. Wahre Diener Christi sind immer einseitige Leute; sie kennen mit Zinzendorf nur eine Parole: Seelen dem Lamm zu werben! Kunst und Wissenschaft, Kultur und Politik und andere Dinge lassen sie da, wohin sie gehören. An ihrer Seite tragen sie nur die einfache Schleuder des Evangeliums. An das Panier des Kreuzes heften sie ihre Siege.

Wie wenig der augenfällige äußere Arbeitserfolg als solcher am Gerichtstage etwas gelten wird, ist dem Gesagten bereits zu entnehmen. Mit dem oft und gern beliebten Zusammenzählen, was bei einem Dienst zahlenmäßig herausgekommen ist, wird dann wenig anzufangen sein. Schon heute entzieht sich dieser äußere Erfolg unserer Beurteilung, da er oft nur ein Augenblickserfolg ist, der mehr oder weniger Abzüge gestattet. Erweist sich dieser Erfolg als echt, so fällt er zurück auf Den, „der allein das Gedeihen gibt“ (1. Korinther 3,7). So hat Paulus es gehalten, und wir dürfen uns auch damit bescheiden. Wenn jemand auf einen sichtbaren Erfolg seiner Arbeit blicken konnte, so war es der Apostel. Aber nicht einen Augenblick ist er bei ihm stehengeblieben.

Was aber bereitete dem Apostel Sorge? Ist’s mangelnder Einsatz seiner Kraft im Dienst des Evangeliums? Keineswegs; er darf sagen: „Ich habe mehr gearbeitet denn sie alle“ (1. Korinther 15,10; 2. Korinther 11,23). Es war etwas anderes, das im Blick auf den Tag des HErrn sich auf ihn legte und allezeit mit ihm ging. Er spricht es aus 1. Korinther 9,27: „Ich betäube meinen Leib und zähme ihn, auf daß ich nicht anderen predige uns selbst verwerflich werde.“ Der Apostel kennt den Zwiespalt, der sich zwischen dem Wort und dem leben auftun kann, und den Verlust, der hieraus für den Träger des Wortes erwächst. Er bedient sich des Bildes eines Faustkämpfers, der seinem Gegner bis zu dessen Niederlage wuchtige Schläge versetzt. Er will nicht andere in die Schranken rufen und selber um den Kampfpreis kommen! Dies erscheint ihm möglich, und eben das bereitet ihm Sorge. Wie sehr diese Sorge bei ihm nachzittert, sehen wir in dem folgenden Kapitel: „Wer sich läßt dünken, er stehe, mag wohl zusehen, daß er nicht falle“ (Vers 12.) Der Kampfpreis ist ihm der Gewinn, den die Arbeit selber ihm einträgt, die Förderung seines eigenen Lebensstandes, die Erwartung des „Wohlgefallens des HErrn“.

Man sage nicht, daß der Apostel hoch über solcher Sorge erhaben ist. Wenn etwas geeignet ist, ihn uns näher zu bringen, so ist es das vorliegende Bekenntnis. Auch der große, kaum wieder erreichte Paulus ist ein mensch wie wir. Daß er das ist, das will er aussprechen. Wer von dieser zermalmenden Sorge nichts kennt - er trage einen Namen, wie er wolle -, mag ein Mietling sein; er ist aber kein Knecht Jesu Christi.

Erst wenn wir durch den Dienst, den wir anderen leisten, selber weiter kommen, dürfen wir erwarten, dereinst anerkannt zu werden.

Wer andere will und soll erbauen,
der bringe in sein Herz zuvor
das, was er andern bringt ins Ohr.

(Tersteegen.)

Wehe, wenn die heilige Furcht verloren geht, die allem Dienst untrennbar zur Seite gehen muß, soll er die Weihe göttlicher Sendung an sich tragen! Die Klage der Sulamith, die ihren Freund verloren, spricht den Grund ihrer inneren Not allzu deutlich aus: „Man hat mich zur Hüterin der Weinberge gesetzt, aber meinen eigenen Weinberg habe ich nicht behütet“ (Hohelied 1,6).

Keineswegs geht die Sorge des Apostels dahin, seiner Kindschaft verlustig zu gehen. Diese war ihm bezeugt und versiegelt durch den Geist Gottes. Aber als Apostel und Diener Christi verworfen und beiseite gesetzt werden zu können, legte sich als große Sorge auf seine Seele und versetzte sie in jene Spannungen. Dieser hohe Beruf ließ ihn das Aeußerste einsetzen, seiner würdig zu bleiben. Und die Geschichte wird an Personen oder Gemeinden immer vorbeigehen, bei denen das Salz seine Kraft verloren hat. Nichts Genaueres und Gerechteres gibt es, als die Gerichte Gottes. Mancher Leuchter ist schon von seiner Stelle gestoßen und mancher Engel (Bote) von dem Munde des HErrn der Gemeinde ausgespien worden. Allein die heilige Sorge, die Paulus beseelte, die tägliche Buße, vermag davor zu bewahren.

Immer wird freilich ein Abstand bleiben zwischen unserer Erkenntnis und dem persönlichen Erleben göttlicher Wahrheit. Nie wird dieser ganz ausgeglichen sein. Diese Kluft soll uns indes nicht abhalten, die ganze Wahrheit zu bezeugen. Anders ist es freilich, wenn diese Spaltung uns nicht auf die Knie treibt in aufrichtiger Beugung vor Gott.

Wenn wir das in diesem Abschnitt Gesagte zusammenfassen, so legt sich uns ein Schriftwort nahe, das wie kein anderes den vorliegenden Gegenstand beleuchtet und den vorgetragenen Gedanken vertieft: „Irret euch nicht, Gott läßt Sich nicht spotten! Denn was der Mensch säet, das wird er ernten“ (Galater 6,7). Es waren Freiheitsschwärmer in die galatischen Gemeinden eingedrungen und hatten diese in die Gefahr gebracht, „im Fleisch zu vollenden, was sie im Geist angefangen“ (Kapitel 3,2). Ein Joch hatten sie aufgelegt - aber das Kreuz Christi zunichte gemacht. Judaistische Satzungen drohten sich wie Mehltau auf die junge Saat zu legen und das Fleisch wieder zum Aufleben zu bringen.

Ernst redet der Apostel, und warnend hebt er seinen Finger auf: „Irret euch nicht!“, wörtlich noch schärfer: Rümpft nicht die Nase! - ein Ausdruck der Leichtfertigkeit, die da glaubt, sich über heilige Dinge hinwegsetzen zu dürfen. „Gott läßt Sich nicht spotten!“ fügt der Apostel hinzu. Gott wird den zu finden wissen, der da wähnt, Seinen Ordnungen sich ungestraft entziehen zu dürfen. Frivol nennt er dies Verhalten, und er begründet das mit den Worten: „Denn was der Mensch säet, das wird er ernten.“ Um ganz deutlich zu sein, fährt er in demselben Bilde fort: „Wer auf sein Fleisch säet, wird vom Fleisch Verderben ernten; wer aber auf den Geist säet, wird vom Geist ewiges Leben ernten“ (Vers 8). Von Fleischeswerken und Geistesfrüchten hatte er soeben (Kapitel 5) geredet, so daß er verstanden wurde. Der Gedanke der Vergeltung findet hier seinen bestimmten Ausdruck und zugleich seine weitere Beleuchtung.

So muß ein bekanntes Naturgesetz dem Apostel zur Klarstellung des Gedankens dienen. An diesem wird der Zusammenhang von Ursache und Wirkung als eine unumstößliche Gottesordnung aufgezeigt. Gott ist derselbe, ob Er die Gesetze der Physik oder der Ethik gibt, und Er selber ist es auch, der hinter diesen Gesetzen steht. Das Schöpferwort „Art von Art“ hat seine Geltung in der Natur wie in der Geisteswelt. Wie die Saat, so die Ernte, und nimmer kann es geschehen, eine Ernte anderer Art zu erzwingen, als die Saat sie schon in sich trägt.

Damit sagt der Apostel, daß auch die Vergeltung nicht etwas Aeußerliches und Zufälliges ist, sondern das naturgesetzliche Ergebnis unseres Tuns. Sie ist mit unserer Wesenheit verwachsen, und unentrinnbar geht sie wie der Schatten mit uns. Unentwegt arbeiten wir an ihr, und die Züge dessen, was wir einmal sein werden, tragen wir bereits an uns. Denjenigen Grundsätzen, die wir bewußt oder unbewußt im Erdenleben verwirklichen, werden wir anheimfallen. Jede Selbsttäuschung hat dann ein Ende, wenn der Mensch in einer anderen Ordnung der Dinge die ineinander greifende Reihe seiner Handlungen als ein Ganzes überblicken wird, in dem seine Wesenheit ihren lebendigen Ausdruck gefunden hat. Als von ihm selber gebaut, sieht er ein Geschick vor sich stehen, das nach dem logischen Verhältnis von Grund und Folge unabwendbar ist. Nichts Neues wird die Vergeltung bringen; nicht als ein blindes Verhängnis kommt sie über ihn - sie wird nur darlegen, was schon da war. Niemand kann daher auch überrascht werden und ihr die Zustimmung versagen, sondern jeder wird ihr vollen Beifall geben müssen.

„Wer auf das Fleisch säet, wird vom Fleisch verderben ernten; wer auf den Geist säet, wird vom Geist ewiges Leben ernten.“ Beachten wir, daß der Artikel fehlt, weil der Apostel zu „Brüdern“ redet: es ist nicht „das“ Verderben, dem sie anheimfallen werden; aber so wenig das Fleisch „ewiges Leben“ in sich hat, so wenig kann es solches verschaffen, wir mögen uns bemühen, wie wir wollen. Aus dem Quell des Fleisches kann nur „Verderben“ hervorgehen, und schon hier bleibt der Weg der Sünde ein „Weg der Schmerzen“ (Psalm 139,24). Nimmer kann Gott seine Ordnungen umkehren und verhüten, daß aus der Fleischessaat etwas anderes als Verderben sprießt. Eine Vernichtung geschehener Handlungen an sich ist unmöglich; ungeschehen sind sie nimmer zu machen.

Worin die Geistessaat besteht und was sie bringt, ist ebenfalls klar. Sie ist alles, was durch den Geist zustandekommt. Verborgen mag das Werk geschehen oder im verschlossenen Kämmerlein getan werden - öffentlich wird es einmal an den Tag kommen. Ein geistgewirktes Werkt mag nach außen die Zeichen der Schwachheit an sich tragen - in ihm offenbart sich Gotteskraft. Die Linke mag nicht wissen, was die Rechte tut - Gott aber sieht und bucht es. „Zu Seiner Zeit werden wir ernten ohne Aufhören“ (V. 9).

Schon hier gibt es Vorernten, die uns zur Anschauung bringen, welcher Art die Vergeltung einst sein wird. „Der Gottlose hat viele Plage“, schwer hat er an seinen Ketten zu tragen, und bitter muß er büßen für ein wenig Rausch der Sinne - ein Vorspiel der Hölle! „Wer auf den HErrn hofft, den wir die Güte umfangen“; er trägt Jesu leichte Last, und all sein Leiden ist verklärt vom Glanz der kommenden Herrlichkeit.

5.

Zwei Worte sind es nur, die wir jetzt besonders zur Erörterung stellen, weil sie dem vorliegenden Schriftwort eine bedeutsame Grundlage geben. An sie heften sich Vorstellungen, die vielfach als unerwünscht empfunden worden sind, weil sie Anschauungen widersprechen, die allzugern festhalten werden. Es sind die beiden Worte: „bei Leibesleben“, wörtlich: „durch (dia) den Leib“. Es ist aber klar, daß damit die Handlungen nicht auf solche beschränkt werden sollen, die durch die Glieder des Leibes ins Werk gesetzt werden. Es ist vielmehr alles Geschehen gemeint, das im Zustande der Leiblichkeit oder, wie es Vers 6 heißt, im „Einheimischsein im Leibe“ seinen Vollzug findet, was Luther bei seiner Uebersetzung „bei Leibesleben“ sinngemäß richtig zum Ausdruck gebracht hat.

Nach der Schrift ist der Leib das Tätigkeitsorgan der Seele, mit dessen Ablegung die Wirksamkeit nach außen endet. Damit ist auch alledem ein Ende gemacht, was wir noch hätten tun oder werden können. Es ist Ruhezeit eingetreten: „Wer zur Ruhe gekommen ist, der ruhet auch von seinen Werken: (Hebräer 4,10). Die Uhr steht still; das Tagewerk ist getan; die Arbeit hat ihren Abschluß gefunden; es ist Feierabend geworden.

Auch Jesu Erdentag war kein anderer, und Er hat ihn also verstanden. Er spricht es einmal aus: „Ich muß wirken, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann“ (Johannes 9.4). Und etwas später kleidet er es in die Frage: „Sind nicht des Tages zwölf Stunden?“ (Kap. 11,9). Die Sachlage war inzwischen eine außergewöhnliche geworden. Der Zeiger ging auf zwölf. Lange schon war Jesu Mission in Galiläa erfüllt, seit ein paar Moden auch in Jerusalem. Er ist jetzt jenseits des Jordans in Peräa. Da kommt die Botschaft zu Ihm: „Lazarus, den Du lieb hast, ist krank!“ Für Jesus war das ein Wink vom Vater. Die Jünger wollen Seinen Entschluß kreuzen: „Jenes Mal wollten die Juden Dich steinigen, und Du willst wieder dahin ziehen?“ Jesus antwortet mit der obigen Frage. Er will sagen: Noch läuft Mein Arbeitstag; Ich muß tun, was in des Vaters Vornehmen für Mich zu tun bereitgestellt ist! Auch in Seiner Mission als gottgesendeter Prophet (5. Mose 18,15) will Jesus bis zur letzten Möglichkeit beharren. Erst als Jesus Seine Augen geschlossen, hat das Volk aus Seinem Munde kein Wort mehr vernommen und keine Taten mehr gesehen. Im Leibe leben heißt handlungsfähig sein.

Der Arbeitstag ist der Heilstag überhaupt. Er ist das „Heute“, das dem Menschen gehört. Die Frage, ob nach dem Tode noch Entscheidungen getroffen werden können, findet in der Schrift keine bejahende Antwort. Immer ist die Sinnesänderung, die Umstellung der inneren Grundrichtung, in dies Zeitleben verwiesen. Schon die Tatsache, daß eine Rückkehr in das zeitliche Leben nicht gestattet ist, sollte uns etwas sagen. Die Ablegung des Leibes ist der Abschluß einer Daseinsweise, die mit Vorrechten und Gelegenheiten ausgestattet war, welche nimmer wiederkehren.

Der enge Zusammenschluß von Diesseits und Jenseits, der Charakter des Diesseits als der Zeit der Entscheidungen und des Wirkens, tritt in den Worten „bei Leibesleben“ scharf hervor. Dünn ist der Schleier, der das Jenseits verhängt, und was wir Zeit nennen, ist nur ein Ausschnitt der Ewigkeit. Diese setzt die „Zeit“ fort, und die Zeit mit dem, was der Mensch in sie hineinverwebt, bereitet die Ewigkeit vor. Die Ewigkeit findet den Menschen gerade so vor, wie er hier geworden ist; unser Erdendasein ist gleichsam der Ankleideraum für die Ewigkeit.

Daher ist der Mensch in diesem Leibesleben immer ein Werdender. Nie ist er fertig, und nichts um ihn her ist feststehend. Alles ist im Fluß. Die jeweilige Gegenwart trägt das Kommende in ihrem Schoß. Immer wirken dieselben Kräfte; sie schaffen nur wechselnde neue Gestaltungen. Man nennt dies Geschichte. - Auch das Leben des einzelnen Menschen ist ein fortgehender Prozeß der Entfaltung in ihm schlummender Anlagen und Vermögen. Der Mensch von heute ist nicht mehr der von gestern, obwohl der gleiche. Aus der Tiefe seiner Wesenheit ringen sich neue Bildungen hervor, die aber wieder dieselbe Artung dessen, was er ist, erkennen lassen. Aus scheinbaren Verworrenheiten erwächst aus dem Innersten heraus eine Gestalt, welche die Züge in sich trägt, die der Mensch ihr gegeben. Gibt es einen Beweis für das Fortleben nach dem Tode, so ist es dies, daß der Mensch es hier nur zu Anfängen bringt, die notwendig hinausweisen auf eine Fortsetzung, die mit jenen gesetzt ist.

Nach außen hin bleiben hier noch mehr oder weniger die treibenden Kräfte verborgen, die dem Leben seine Prägung geben. Die inneren Ueberlegungen und Willensstrebungen verstecken sich hinter dem Geschehen, wie es nach außen zutage tritt. Selten gibt der Mensch sich selber hierüber volle Rechenschaft. Vergangenes sinkt in Vergessenheit, und rastlos arbeitet die Gegenwart daran, Zukünftiges aufzubauen - ein Kreislauf immer gleicher Wirkungskräfte, die im Menschen leben und seinen Personenwert münzen, so lange, bis der wirbelnde Tanz seiner Geschichte endet, der Lebensfaden abreißt und der Vorhang der offenen Bühne der Handlungen niederfällt. Dann tritt der Mensch ein in die Zeitlosigkeit, das Schaffen und Wirken in bleibende Zuständlichkeit. Dieser Abschluß ist zugleich Neubeginn, letzterer aber als Ergebnis eines Handelns nach Beweggründen, die das Lebensrad in Schwung gesetzt haben, also ein Gewordensein aus vorangegangenem Werden.

Es gibt keine Lehre, die mit der Schrift unverantwortlicher umgeht, als die der sogenannten Wiederbringung. Im allgemeinen arbeitet sie mit Gefühlsregungen und Vernunftschlüssen, denen dann passende Schriftstellen, aus ihrem Zusammenhang herausgenommen, Beweiskraft geben sollen. Grundlegende Anschauungen, wie jene Lehre sie vorträgt, müßten aber immer schon aus dem Schriftganzen sich ergeben, was hier aber nicht der Fall ist. Die Hölle erscheint in der Schrift nirgends als Ort der Selbstbesinnung und neuer Heilsentscheidungen, sondern als ein Zustand hoffnungsloser Qual und Verzweiflung. Eine andere Lehre von der endlichen Vernichtung und Aufhebung des Bösen macht es sich leicht; ist die Sünde nicht ein Wirkliches, so ist die Erlösung in Christus entwurzelt. - Nur in diesem Leibesleben befindet sich der Mensch noch in einer Ordnung der Dinge, wo Gott ihm in Gnade begegnet. Hier, wo Gott sich ebenso verhüllt wie offenbart und wo die Beweise Seiner Langmut und Gerechtigkeit gemischt sind, soll dem Menschen seine Abhängigkeit fühlbar und ihm die Sünde durch ihre Folgen verleidet werden, damit die Steigerung der menschlichen Sünde zur dämonischen gehemmt und der Mensch zum Glauben an das Heil in Christus geleitet werde. Zugleich zeigt sich schon im Leibesleben das furchtbare Gesetz, daß das Böse zunehmend ein unveränderliches Naturgepräge in dem annimmt, der sich diesem Bösen willig hingibt. Nun kann aber der Mensch durch einen Naturprozeß nicht selig werden, und es besteht für seine Bekehrung ein abschließender Zeitpunkt, eine äußerste Grenze, über die hinaus Buße und Bekehrung nicht mehr möglich ist. Wir kennen diesen Zeitpunkt nicht; die Langmut Gottes umschließt aber nur dieses Zeitleben.

Es liegt im göttlichen Weltgedanken, daß kein Uebergang in den ewigen Bestand der Dinge erfolgen kann ohne reinliche Erledigung und Verabschiedung des Bisherigen. Stoffliche Dinge mögen sich auflösen und nach einem Schöpferwort neu erstehen. Anders ist es bei Personenwesen, die ein göttlicher Hauch berührt hat, die mit Vernunft begabt und mit Gewissen ausgestattet sind. Gerichtsmäßig muß hier auf der Waage heiligen Rechtes der Befund des Gewordenen festgestellt, und was sich in die neue göttliche Ordnung der Dinge nicht einfügen läßt, zur Ausscheidung gebracht werden.

Merkwürdig ist hierbei das Verfahren Gottes, ganz anders, als es in der Hand des schnelleiligen Menschen sein würde. Gott nicht Sich Zeit. Er kann es, weil Er als Meister alles in der Hand hat und niemand Ihm entläuft. Alles geschieht nach festgesetztem ewigen Plan, wie Er mit großen, gewaltigen Strichen in der Schrift gezeichnet ist. Bedauerlich ist es, daß diese Letzten Dinge von Menschen miteinander vermengt worden und daß auch gläubige Ausleger hiervon nicht freigeblieben sind.

So unverständlich es ist, so ist auch das Offenbarwerden der Gläubigen vor dem Richterstuhl Christi von dem allgemeinen Weltgericht am Ende der Tage lange nicht unterschieden worden, und heute noch ist es nicht immer der Fall. Die Vermischung der Dinge miteinander läßt aber die Verschiedenheit der Linien, in denen sie verlaufen, nicht hervortreten, und die dadurch bedingte Trübung des Blickes trägt auch nicht zur Festigung des Glaubensstandes bei.

Allerdings haben beide Gerichtstagungen etwas Gemeinsames. Beide führen zum endlichen Abschluß von Bestehendem und zur Ueberleitung in dauernde Zuständlichkeit. Beide Male geht die Klärung und Auseinandersetzung in aller Oeffentlichkeit vor sich, jedoch wieder nur für die jeweils Beteiligten, und zwar nach einer für diese gesondert vorangehenden Auferstehung.

Verwirrend ist auch eine Vorstellung, die sich zuweilen in Schriften und Liedern findet, als ob schon alsobald mit dem Tode der Uebergang in den ewigen Bestand der Dinge vor sich gehe. Auch für den Gläubigen bedeutet das Sterben nicht schon den Eintritt in die Vollendung. Mit der Entleiblichung endet zunächst nur die Wirksamkeit nach außen. Eine vorläufige Einstufung findet auch statt; denn jede Seele trägt in sich die Bestimmung, die sie sich selbst in der Zeit gegeben hat. Was sie geworden ist, liegt schon vor ihr zutage; es ist ihr Besitz und ihr Stand, für den sie die Anwartschaft mitbringt, wenn auch der Spruch noch aussteht.

Daraus ergibt sich, daß für Gläubige auch schon der leiblose Zwischenzustand ein seliger ist - gerade so, wie schon hier ekstatische (verzückte) Zustände Versenkungen und Erhebungen der „Seele“ möglich machen. Paulus redet von einer solchen 2. Korinther 12,1-4: „Ich kenne einen Menschen, der ward entzückt bis in den dritten Himmel, und ich kenne denselbigen Menschen - ob er in dem Leibe oder außer dem Leibe gewesen ist, weiß ich nicht, Gott weiß es -, er ward entzückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, welche kein Mensch sagen kann“, d.h. für deren Wiedergabe derzeitige menschliche Sprachmittel unzureichend sind. Gewiß darf das als Beweis gelten dafür, daß die Seligen im leiblosen Zustande „hoher Offenbarungen“ zugänglich sind, wie auch aus Offenbarung 6,9 und 8,3 f. hervorgeht, daß sei eines unmittelbaren Verkehrs mit Gott gewürdigt sind, wie er in diesem Leibesleben nicht statt hat.

Leiblosigkeit ist aber nicht das Ende der Wege Gottes. Der Leib ist wesentlicher Bestandteil des vollen Menschentums, und er hat an der Erlösung neben der Seele und dem Geiste des Menschen gleichen Anteil: „Wir warten auf unseres Leibes Erlösung“ (Römer 8,23). Mit der Wiedererlangung einer Leiblichkeit muß auch unsere Handlungsfähigkeit nach außen wieder in Kraft treten, und diese wird eine vollkommene sein, weil der neue Leib ein angemessenes und willfähriges Werkzeug der erlösten Seele sein wird. Hieraus erklärt es sich auch, daß vor Beginn dieser neuen und höheren Handlungsfähigkeit der unerledigte Bestand des vorangegangenen Leibeslebens gerichtsmäßig seine Erledigung finden muß. Eine Neuordnung der Dinge tritt ein, für die sowohl Rang und Stellung wie die Aufgabe des einzelnen eine Regelung findet, die ihre Voraussetzung hat in einem Verhalten, das „im Leibesleben“ vormals unter erschwerenden Umständen an den Tag gelegt worden ist. Ebenso wie Rang und Stellung des Gottes- und Menschensohnes gründet in der von Ihm durchgeführten Mission auf Erden, also muß es auch für die sein, die in Mühen, Kampf und Leiden eingetreten sind in die Glaubensbahn, die Er selber durchschritten, zum Preise Seiner Herrlichkeit.

6.

Sehen wir noch zu, wodurch die Urteilsfindung am Tage des HErrn bestimmt wird. Es ist das „Wie?“ des Tuns im Leibesleben: „Es sei gut oder böse.“ Das Wort „gut“ bedeutet im allgemeinen, daß etwas den Ansprüchen entspricht, die man an dasselbe stellen kann, so daß es Befriedigung wirkt; wir können also sagen, daß in sittlicher Hinsicht etwas gut ist, wenn es „göttliche Art an sich trägt“ (Cremer). Für das Wort „böse“ ist hier nicht das gebräuchliche „ponarós“ gebraucht, sondern „kakós“, welches allgemeinere Bedeutung hat als jenes und in verschiedenem Sinne verwendet wird. Es kann sich auch dabei um Nichtsittliches oder Sittliches handeln; allemal wird eine Beschaffenheit verneint, die etwas nach seiner Natur oder Bestimmung haben soll. So steht das Wort einmal im Gegensatz zu agathós = gut, sodann zu kalós = lobenswert, endlich zu chrestós = brauchbar, tauglich. Ueber die Bedeutung entscheidet jeweils der Zusammenhang. Th. Zahn übersetzt hier „untauglich“ und sagt: „Nach dem Zusammenhang handelt es sich um die Darlegung darüber, wie sich in der Arbeitsleistung das Fleißtun bewährt, die darauf ausgeht, dem HErrn wohlzugefallen.“ Ad. Schlatter übersetzt „schlecht“ und bemerkt: „Wir erhalten durch das Urteil des Christus den Lohn oder die Strafe für das, was durch den Leib geschehen ist.“ Schlatter trägt aber damit in das Offenbarwerden der Gläubigen an des HErrn Tage Bestimmungen hinein, die dem allgemeinen Weltgericht zukommen, und verkennt, daß das „Strafmotiv“ im strengen Sinne bei denen wegfällt, die als Begnadigte vor dem Richterstuhl Christi stehen. Die meisten Ausleger behalten die Uebersetzung „böse“ bei und reden von der „Auferstehung des Gerichts nach Johannes 5,29“, eine Stelle, die überhaupt nicht hierher gehört. Sobald der Blick dogmatisch getrübt ist, kommt es selten zu einer richtigen Auslegung, während allein diese dafür da ist, erst die Lehrbegriffe zu bilden.

Es ist zutreffend, wenn G. Stosch einmal bemerkt, daß „die Hoffnungsstimmung des Apostels nicht sentimental, sondern sittlich geartet ist“. Dies sittliche Moment tritt sogar sehr stark hervor, und die vorliegenden Darlegungen würden ihren Zweck verfehlen, wenn sie jenen Gesichtspunkt verschieben würden. Es ist aber nichts damit getan, wenn man den Mund vollnimmt und über die Schrift hinausgeht. Die Linien, die sie uns an die Hand gibt, sind scharf genug, um Gotteskindern ihre Verantwortung angesichts des Tages des HErrn erkennen und empfinden zu lassen. Die Sehnsucht des Apostels, „bei Christus zu sein“, läßt sein Herz schwellen; aber dabei ist das Bewußtsein, einmal Rechenschaft ablegen zu müssen, so stark, daß dies ihn bestimmt, seinen Wandel „mit unbeflecktem Gewissen“ zu führen „in der Furcht Gottes“. Nichts ist dabei von leidvoller Stimmung des Weltschmerzes, nichts von matter Lebens- und Kampfesmüdigkeit oder weichmütigem Schwelgen in seligen Gefühlen. Sittlicher Schlendrian stellt sich bei den Gläubigen dann ein, wenn das hohe Bewußtsein der Gotteskindschaft auf den Nullpunkt sinkt und der Hoffnungsgedanke erlischt.

Wir haben oben ausgeführt, daß innerhalb der Gnadenhaushaltung der Grundsatz der Gerechtigkeit nicht aufgehoben ist, vielmehr zu recht genauer Anwendung kommt. Das Leben aller Heiligen ist ein Beweis davon, was der Psalmsänger sagt: „Ich will die Sünde mit der Rute heimsuchen und die Missetat mit Plagen, aber Meine Gnade will Ich nicht von ihm wenden und Meine Wahrheit nicht fehlen lassen.“ (Psalm 89,33.34). Derselbe Paulus, der für sich sein eigenes Urteil nicht in Anspruch nimmt, weil er damit nicht gerechtfertigt sei, sondern auf das Urteil wartet, das der HErr sprechen wird (1. Korinther 4,3-4), weiß es und spricht es 2. Timotheus 4,8 aus: „Mir ist beigelegt der Kranz der Gerechtigkeit, welchen mir der HErr an jenem Tage, der gerechte Richter, geben wird“, und er fügt hinzu: „nicht aber mir allein, sondern auch allen, die Seine Erscheinung liebhaben“. Deutlich spricht er damit aus, daß die Verleihung dieses Kranzes ihre letzte Voraussetzung hat in einer vorausgegangenen Lebensverbindung mit Christus, die immer nur durch den Glauben begründet werden kann, weshalb auch Jakobus 1,12 und Offenbarung 2,10 dieser Kranz allgemein „Kranz des Lebens“ genannt wird. Er ist zugleich indes der Ueberwinderpreis, der denen zufällt, die den Kampf des Glaubens mit Ehren bestanden haben (Offenbarung 2,10; 3,11). Daß es mit diesem „Kranz“ etwas besonderes auf sich hat, geht auch hervor aus den Worten: „die Seine Erscheinung liebhaben“, wörtlich: „lieb behalten haben“. Es ist damit eine Innigkeit der Hingabe an den wiederkommenden HErrn ausgedrückt, die in einem entsprechenden Handeln zur Darstellung kommt und die Anerkennung des HErrn finden wird. Begnadigung und Verantwortung gehen nebeneinander her; die Begnadigung begründet den Anspruch an die Seligkeit, und der Verantwortung liegt die Vorstellung zugrunde, daß sich das Maß der Herrlichkeit danach bestimmt, welche Auswirkung die Gnade in Christus im Leibesleben gefunden hat. Der Grundsatz der Gerechtigkeit ist nur auf eine größere Höhe gehoben.

In dieser Linie bewegt sich auch die oben bereits besprochene Stelle 1. Korinther 4,1-5. Wenn hier die Treue zum Maßstab der Vergeltung gemacht wird, so ist damit auch die Verschiedenheit des Lohnes ausgesagt: „Alsdann wird einem jeglichen sein Lob (épeinos = Zustimmung, Beifall) widerfahren.“ Gemeint ist diejenige Anerkennung, die dem einzelnen gemäß der von ihm aufgewendeten Treue gebührt; es ist „sein“ Lob als der ihm zukommende Anspruch.

Der gleiche Gedanke findet sich - nur mit anderen Vorstellungen verknüpft - Römer 14,4 f.: „Wer bist du, der du einen fremden Knecht richtest? Er steht oder fällt seinem HErrn…, denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber… Wir werden alle vor dem Richterstuhl Christi dargestellt werden. So wird nun ein jeglicher für sich selbst Gott Rechenschaft geben.“ Diese Stelle ist besonders wichtig. Keine andere stellt die Torheit und Verwerflichkeit des Splitterrichtes so ins Gesicht wie diese. Warum? Weil wir damit übergreifen in ein Majestätsrecht, das Christus allein zusteht und das über den Tod hinausreicht. Dieses Recht wird Christus geltend machen, wenn wir selber vor den Schranken stehen werden in einem Verhör, das sicherlich tief genug in unsere eigenen Wesenstiefen hineinleuchten wird, oder, wie der Apostel hier sagt: „Ein jeder von uns wird für sich selber Rechenschaft geben“.

Sehr einfach wird das Verfahren sein. Kniffeleien gibt es nicht. Alle unsere Handlungen teilen sich nur in zwei Gruppen. Vieles wird verzehrt werden; es ist verloren. Anderes wird anerkannt werden; es ist unser Besitz, der bestehen bleibt. Reinlich wird alles voneinander geschieden werden. Das eine ist Spreu und wird verfliegen; das andere ist Weizen mit göttlichem Gehalt und ewiger Bestimmtheit. Er, der uns kennt, wird ein gerechtes Gericht halten.

Die Verknüpfung von Begnadigung und Verantwortung geht durch die ganze neutestamentliche Schrift. Wo wir auch dem Hoffnungsgedanken begegnen, tritt der ethische Einschlag überall hervor, sogar recht stark. Es kann auch nicht anders sein, weil das Bewußtsein, daß dies Leben eine Fortsetzung findet, die sich auf Ihm aufbaut, einen Antrieb geben muß, der Heiligung nachzujagen und das Wohlgefallen des HErrn zu erwerben.

Eine größere Beschäftigung mit den Letzten Dingen würde unserer Zeit gut tun. In religiöser Hinsicht ist sie übersättigt mit Vorstellungen, die über das „Gerettetsein“ nicht hinausgehen. Man sieht auf den Weg, nicht auf das Ziel. Und wenn es geschieht, so schaut oft schon verstohlen eine Kampfes- und Leidensmüdigkeit hindurch, die sich nach einem Plätzchen sehnt, wo „Seufzen und Geschrei“ nicht mehr gehört werden. Die Letzten Dinge sind vielfach zu einer mattherzigen Lehre geworden, die ihren überwältigenden Inhalt eingebüßt hat.

Woher ist dies gekommen? In der Verkündigung hat der Hoffnungsgedanke nicht die Stelle gefunden, die ihm zukommt, und selten geschieht es, daß er in das christliche Leben befruchtend hineingestellt wird. Man verliert sich in abseitigen und theoretischen Fragen, die irgendeine Beziehung etwa zur Wiederkunft Christi haben, und damit ist die Aussprache geschlossen. Die Frage der Entrückung wird zu einer Erkennungsmarke für den Kreis, zu dem man gehört; der warme Pulsschlag heiliger Hingabe und Weihe fehlt. Das Ganze bleibt so eine Redensart, ein verlorener Stern am weiten Himmel der Gnade, nicht die Sonne, die das Leben bestrahlt und belebt.

Für die kommende Vergeltung ist überhaupt das Augenmaß verlorengegangen. Man ist fertig für „den Himmel“ und macht sich behaglich eine Gnade zurecht, die zur Not für des Lebens Sorgen und Mühen ausreicht! Als wenn dies alles wäre! Dabei gehen schon Gottes Gerichte durch die Lande, und Sturmzeichen blitzen auf. Es stürzen die Werte, aller sichtbare Halt wankt. Und Gottes Volk? Wo sind dessen Güter? Wo ist die Hoffnung, die Mut und Kraft verleiht zum Verzicht, zum Dulden und zum Leiden, und die den Drang erweckt, einer verlorenen Welt das Evangelium zu bringen? Wo ist die Einheitsfront gleicher Weggenossenschaft zu einem Ziel, die eine Herrlichkeit aufleuchten läßt, welche stark macht, das Leben nicht zu lieben bis an den Tod? Die Rückkehr zur ganzen Schrift mit ihrem vollen Offenbarungsinhalt nur macht das Auge helle, die Hände stark und die Knie fest, daß Halbheiten aufhören und die weltüberwindende Kraft des Glaubens an den Tag kommt.

Obwohl uns durch den Rahmen dieser Arbeit Beschränkungen auferlegt sind, können wir Aussagen nicht unbeachtet lassen, die uns die Petrus- und Johannesbriefe an die Hand geben.

Die beiden Petrusbriefe lassen unter allen Briefen den Hoffnungsgedanken in seiner Auswirkung zum gottseligen Wandel am stärksten hervortreten. Was bei den alttestamentlichen Propheten perspektivisch noch in eins zusammenfällt, sehen wir bei Petrus - wie überhaupt im neutestamentlichen Schrifttum - auseinandertreten. Es ist die Wiederkunft des Christus für die Seinen und sodann das Weltende als Abschluß der gegenwärtigen Ordnung der Dinge. Allerdings ist bei Petrus die Spanne, welche die Gegenwart vom Kommen des HErrn trennt, recht verkürzt. In den beginnenden Verfolgungen sieht er bereits das „Ende aller Dinge“ nahe herbeigekommen. Es ist gut, daß der zeitliche Verlauf des Gottesrates mit der Gemeinde nach Tag und Stunde uns nicht enthüllt worden ist, und daß deren Erwartungen dieselben bleiben, ob Gott auch die Zeiten dehnt.

Falsche Propheten und auftretende leichtfertige Schwarmgeister veranlassen Petrus zu seinem zweiten Schreiben (Kapitel 2,1; 3,16). Es ist ein rechtes Trost- und Warnungsschreiben. Kaum ist in der Schrift die Fülle der Gnade knapper und eindringlicher dargestellt, wie gleich zu Beginn dieses Briefes (Kapitel 1,3-11). Allerlei göttliche Kraft, dienend zum Leben und göttlichen Wandel, ist dargereicht, und geschenkt sind uns die allergrößesten Verheißungen, die ihren Gipfelpunkt finden in der Naturgemeinschaft mit Gott selber; auch in schwersten Tagen kann es an keinem Guten fehlen. Darum kann er ermahnen: „Tut desto mehr Fleiß, euren Beruf und Erwählung festzumachen, denn wo ihr solches tut, werdet ihr nicht straucheln, und also wird euch reichlich dargereicht werden der Eingang zu dem ewigen Reich unseres HErrn und Heilandes Jesu Christi“ (Vers 10 und 11).

Petrus selbst weiß, daß er die Wahrheit Gottes mit dem Bluttode bald besiegeln muß, wie sein HErr und Meister es ihm eröffnet hat. Aber er weiß auch, daß den Zurückbleibenden das prophetische Wort leuchtet, bis der hellen Tag anbrechen wird. Immer stärker läßt er den Zusammenhang von Gnade und Verantwortung hervortreten, und mit ernsten Worten geht er diesem Gedanken nach. Mit aufgehobenem Finger warnt er vor den falschen Propheten, und in Beispielen der Schrift weist er auf den Tag hin, wo alles Fleischeswesen seinen rechten Lohn empfängt. Die leichtgeschürzte Frage mutwilliger Schwätzer: „Wo ist die Verheißung Seiner Zukunft?“ schlägt er nieder mit der Antwort, daß Gottes Langmut es ist, die da verzieht, damit die Frist zur Buße verlängert werde. Er faßt dann seine Ermahnungen zusammen in den Aufruf, „mit heiligem Wandel und gottseligem Wesen zu warten und zu eilen zu der Zukunft des Tages des HErrn“ (Kapitel 3,11-12).

Gerade heute, wo die „Erkenntnis“ überwiegt und die „Kraft“ außer Kurs kommt, wo der Zeitgeist das christliche Leben verflacht, kann ein Studium der Petrusbriefe nicht schaden. Es steht in ihnen im Mittelpunkt der kommende Tag Christi, aller theoretischen Erörterung entkleidet, aber mit einer Wucht der Ermahnung, der sich niemand entziehen kann. Alle Berufung auf die Gnade Gottes, die nicht zu ihrem Ausleben in der Furcht Gottes führt, ist für Petrus eine „Verleugnung des HErrn, die bei dessen Zukunft ihre gerechte Abfolge finden werde“ (Kapitel 2,1). Der Apostel will aber nicht diese Gnade schmälern bei denen, „die Fleiß tun, vor Ihm unbefleckt und unsträflich im Frieden erfunden zu werden“ (Kapitel 3,14). Dieser Friede bedeutet in den Petrusbriefen weniger Frucht der „Rechtfertigung“ (ein Wort, das er nicht brauchte), sondern vorwiegend innerer Seelenzustand geheiligten Wandels.

Im ersten Johannesbrief hat der Hoffnungsgedanke besondere Färbung erhalten. Die Wechselbeziehung von Gnade und Verantwortung, die Vergeltung, ist hier vorwiegend nach der bejahenden Seite hin dargestellt. Schon das Heil in Christus findet seinen letzten Ausblick in einer Lebensform, wo wir „Ihm gleich sein werden“ - einer Hoffnung, die sich darin bewährt, daß wir „uns reinigen, wie Er rein ist“ (Kapitel 3,2-3).

Zwei Stellen mögen uns hier beschäftigen: Kapitel 2,28 und Kapitel 4,17. Die erste lautet: „Kindlein, bleibet bei Ihm, auf daß, wenn Er offenbart wird, wir Freudigkeit haben und nicht zuschanden werden vor Ihm in Seiner Zukunft.“ Grund und Folge sind hier ausgesprochen in johanneischer Ausdrucksweise: „Bleiben in Christus“ und „Freudigkeit am Tage des Gerichts“. Wenn Johannes mahnt: „Kindlein, bleibet in Ihm (Luther: bei Ihm)!“, so ist es, als ob ihm bis in sein Alter die letzte Mahnung seines HErrn in den Ohren klänge: „Bleibet in Mir!“ (Johannes 15,4.) Hier ist das Grundgesetz alles geheiligten Lebens auf die einfachste Formel gebracht. Nicht ist gemeint ein beschauliches Sichversenken in Christus, was schon bei der geschlossenen und ganzen Persönlichkeit des Johannes nicht angenommen werden kann, sondern derjenige Stand in Christus, wo Seine reinigende Kraft alle Lebensgebiete durchdringt und Welt und Sünde überwunden werden.

Was ist für den Apostel Johannes der Ertrag dieses Standes? Sein Blick ist eingestellt auf den Hoffnungsgedanken, der ihm den Antrieb zum Bleiben in Christus verleiht. Er sagt: „Auf daß wir eine Freudigkeit haben am Tage des Gerichts.“ Johannes überspringt den Entrückungsgedanken, aus dem etliche gefühlsmäßig so viel machen, als ob es alles wäre. Er denkt an das, was hinter dieser Entrückung ist, an das Stehen vor dem Richterstuhl Christi. Wenig hat er in diesem Brief von der Person des Christus gesagt; aber Anfang und Schluß dieses Briefes sind für seine Christuserkenntnis bezeichnend: „Das da von Anfang war, das Wort und das Leben“ (Kapitel 1,1-2), und: „Er ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben“ (Kapitel 5,20). Nun schaut er hier in Christus den Richter, der Recht und Macht hat, die Seinen vor Seine Schranken zu fordern.

Wenn Johannes den Ertrag eines Standes, der in Christus den Quell seines Lebens gehabt hat, darin findet, einstens mit Freudigkeit vor Ihm zu stehen, dann muß dieser Gewinn jenem Einsatz entsprechen. Nicht redet er von Lohn oder Vergeltung, aber er kennt seinen HErrn, und er weiß, wessen er sich zu Ihm versehen darf. Das ist ihm genug. Auf weiteres spielt er nicht an. Freudigkeit in der Stunde heiliger Abwägung seines Tuns und Handelns, das ist ihm alles. Wie gehorsame Kinder dem heimkehrenden Vater entgegenjubeln, so werden die, die mit Sünde, Welt und Teufel fertig geworden sind, ihrem HErrn freudig in die Augen schauen.

Johannes fügt zur Verstärkung dieses Gedankens hier eine in die Verneinung gekleidete Aussage hinzu: „und nicht zuschanden werden vor Ihm in Seiner Zukunft“. Das gebrauchte Wort „sich schämen, zuschanden werden“ wird in zweifachem Sinne verwendet: einmal als Grund, aus dem die Scham hervorgeht und sodann als Gegenstand, von dem man in Beschämung sich abwendet. Beides ist hier gemeint. Einmal wird tiefe Trauer sich einstellen über jede verlorne Stunde des Lebens; sodann wird man von getäuschten Hoffnungen, die man gehegt hat, sich abwenden und anerkennen, daß ihm recht geschieht. Für alle kommt ein Ausgleich nach gerechter Abmessung. - Man hat aus dem Wort zuviel gemacht, wenn die meisten Ausleger (Düsterdick, Lange, Haupt u.a.) darin die „Trennung weg vom HErrn“, das „Weichen von Ihm als Uebeltäter“ usw. finden, eine Ansicht, die befremdlicherweise auch bei Schlatter sich findet, weil in die hier vorliegende Sachlage Gedanken hineingetragen werden, sie sich auf das allgemeine Weltgericht beziehen.

Die andere Stelle ist Kapitel 4,17: „Darinnen ist die Liebe völlig bei uns, daß wir eine Freudigkeit haben am Tage des Gerichts.“ Wieder derselbe ursächliche Zusammenhang von Grund und Folge, nur dem Grunde nach anders gewendet als Kapitel 2,26, nämlich: „daß die Liebe in uns völlig geworden ist“. Das Wort „völlig“ bedeutet hier: vollständig oder vollendet sein, ein Ziel oder einen Abschluß erreicht haben, und zwar den der Gereiftheit oder des Ausgewachsenseins. Es ist hier eine Liebe verstanden, die auf gereifter Einsicht beruht, die nicht irre wird an den Wegen Gottes oder an den Schwächen des Bruders - im Unterschied von einer Liebe, die - wie bei einem Kinde - nur gefühlsmäßig zum Ausdruck kommt. Die Ethik des Johannes ist vornehmlich auf „Liebe“ aufgebaut, weshalb es nicht befremdet, daß auch die Freudigkeit am Gerichtstage auf dieselbe gestellt wird. Bei ihm geht der Gedanke der Liebe folgerichtig vom Wesen Gottes selber aus. Daher stellt er auch den Satz auf, daß der aus Gott Geborene dieses Wesens, der Liebe, teilhaftig geworden ist, und er schließt daraus, daß diese Liebe als göttlicher Naturzug alle umfassen muß, die gleichermaßen aus Gott geboren sind.

Zweimal hat Johannes in diesem Brief von dieser vollendeten Liebe geredet. Einmal Kapitel 2,5: „Wer Sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe Gottes vollendet“, und sodann einige Verse vor der obigen Stelle, Kapitel 4,12: „So wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und die Liebe ist vollendet in uns.“ In diesen beiden Angelpunkten bewegt sich der ganze Brief; einerseits: Gottes Wort halten und recht tun; anderseits: die Brüder lieben. Nicht will Johannes sagen, daß wir hierauf unmittelbar unsere Freudigkeit am Tage des Gerichts bauen können; denn wir haben kein Verdienst vor Gott, und unsere Bruderliebe an sich bleibt mit Unvollkommenheiten behaftet. Aber das will Johannes aussprechen, daß wir an dem Rechttun und an der Bruderliebe erkennen, daß wir „aus der Wahrheit sind“ und daraus unsere Freudigkeit am Tage des Gerichts herleiten können. Deshalb fährt Johannes Vers 18 erläuternd fort: „Furcht ist nicht in der Liebe, denn die Furcht hat Strafe“, und zwar in dem Sinn, wie Luther einmal sagt, daß die in der Furcht enthaltene Unruhe und Pein der „Inbegriff der Strafe der Hölle“ (Psalm 31,23) sei.

Die Bedeutung auch dieser Stelle ist damit klargestellt. Der Gerichtstag wird den Befund dessen, was wir sind und was wir getan haben, ans Licht bringen. Das Tagebuch des Lebens ist aufgeschlagen. Jedem wird seine Gebühr zuteil. Niemand und nichts wird übersehen. Die Vergeltung erfolgt nach heiligem Recht.

Noch eins sei bemerkt. Während Johannes meist in der zweiten Person redet, so verwendet er in den beiden obigen Stellen das „Wir“. Er selber schließt sich - geradeso wie Paulus - mit den Lesern zusammen, weil er weiß, daß am Tage des Gerichts kein Ansehen der Person gilt und niemand davon eine Ausnahme macht.

Wir schließen mit folgenden schönen Worten von F. Chr. Steinhofer: „Es gehört weiter nichts dazu, als daß man in Jesus bleibt. Man soll nur ob dem halten, was man bei der ersten Annahme Jesu erkannt, geglaubt und bekommen hat. Man soll nur seinen einmal erlangten Anteil an Christus gegen alle Zweifel, Einwürfe und Anstöße behaupten und sich denselben nicht mehr streitig machen lassen, sondern vielmehr sich beständig erneuern in der Gnade und in der Seligkeit, in die man zu stehen gekommen ist. Man soll auf der anderen Seite nichts von seinem Sinn, den man einmal gegen Jesus bekommen hat, abgeben, sondern mit seinen Gedanken, Begierden und Verlangen beständig so gegen Jesus gestellt zu sein suchen, wie man es war zu der ersten Stunde. Die ganze Fülle Jesu ist ihm da aufgetan worden. Er kann und darf also daraus nehmen, was er will. So ist auch die Liebe einmal in sein Herz ausgegossen worden. Bleibt er nun in dieser Liebe, so wird sie ihm die beste Anweisung sein, sowohl zu meiden, was wider die Gemeinschaft Christi ist, als auch zu tun, was dieselbe von ihm fordert. Der erste Gruß im Blick auf seiner holden Augen wird dann unser Herz über alles erheben, daß wir unsere Häupter getrost aufheben, Ihn in Liebe ansprechen und Sein Angesicht mit Freuden ansehen können. Wir werden uns zu der und in der Liebe finden, daraus wir bisher im Glauben gelebt und unser Leben eingesogen haben.“

7.

Bevor wir diese Blätter schließen, möchten wir einigen Mißverständnissen begegnen, die sich aus dem Gesagten ergeben könnten.

a)

Zunächst ist es die Frage: Kommt auch vergebene Sünde in das Gericht? Diese Frage ist zu verneinen. Immer redet die Schrift von der Sündenvergebung in den stärksten Ausdrücken: Die Sünde ist bedecket (Psalm 32,1; 85,3), sie ist für immer getilgt (Jesaja 43,25), sie ist verschwunden wie Nebel vor der Sonne (Kapitel 44,22), sie ist versenkt in die Tiefe des Meeres (Micha 7,19), und noch in zahlreichen anderen Stellen. Nichts anderes redet die neutestamentliche Schrift; wir verweisen nur auf eine einzige Stelle: „Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht! Wer will verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns!“ (Römer 8,33-34.) Dabei bleibt’s! Gerichtete und vergebene Sünde kann nicht noch einmal Gegenstand der Gerichtsverhandlung sein. Wo Begnadigung erfolgt ist, bleiben die Gerichtsakten geschlossen.

Aber leere Blätter sind im Tagebuch des Lebens entstanden, die nimmer ausgefüllt werden können. Verpaßte Gelegenheiten werden nie wiederkehren. Irrwege bleiben Irrwege und werden nicht etwas anderes. Und eins wiegt schwerer als Handlungen, das ist die Zuständlichkeit, das, was wir als Persönlichkeit geworden sind. Wie wir gesehen haben, haben es damit allein auch die Sendschreiben Offenbarung 2 und 3 zu tun, die wir als Muster der einstigen Gerichtsverhandlung kennengelernt haben. Darauf weist auch ein Wort hin, das auf dem letzten Blatt der Bibel steht: „Siehe, Ich komme bald und Mein Lohn mit Mir, zu geben einem jeglichen, wie sein Werk sein wird (nicht wie Luther: wie seine Werke sein werden)“ (Offenbarung 22,12). Unsere Handlungen sind ein zusammengehöriges Werk; sie werden als eine Einheit geschaut, und diese Zuständlichkeit, der sie entsprungen sind, ist es, die ans Licht kommen wird. -

b)

Eine weitere Frage ist folgende: Wie wird sich unser Tun im Leibesleben einst bei uns selber auswirken? Es ist ein psychologisches Gesetz, daß nichts vergessen werden kann, was unserem Erleben angehört. Da ist das Gedächtnis, das so zu unserem Eigenwesen gehört, daß seine Austilgung unmöglich ist. Wohl können hienieden durch die immer wechselnden Bilder frühere Vorstellungen verdrängt werden; aber sie sind damit nicht erloschen. Ebenso, nur noch stärker, äußert sich das Gewissen, weil es sich bei ihm um sittliche Dinge handelt. Es gleicht dem Seismographen, der jede Erderschütterung mit größter Genauigkeit selbsttätig aufzeichnet und für immer festhält - oder auch dem leiblichen Auge, das von jeder auch überwundenen Krankheit deutliche und untrügliche Spuren in sich aufnimmt, die ein geübter Diagnostiker noch in späteren Jahren lesen kann. Alle sittlichen Verfehlungen bleiben dem Gewissen ewig untilgbar und lesbar eingegraben, woran auch der Umstand nichts ändert, daß sie durch die geschehene Vergebung als anklagende Schuld ausgelöscht sind. Der tiefe Sündenjammer, aus dem wir errettet worden sind, das Geheimnis des Bösen, wird einst ganz offen vor uns liegen und den Preis der Gnade erhöhen.

Noch im Alter tauchten bei David längst gerichtete und vergebene Sünden auf, und er betet: „Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend!“ (Psalm 25,7). Paulus muß es noch nach Jahrzehnten beklagen, daß er gewesen „ein Lästerer, Verfolger und Schmäher der Gemeinde“ (1. Timotheus 1,13). In dem Gleichnis vom reichen Manne (Lukas 16,19) schreibt Jesus dem Reichen eine Rückerinnerung an das diesseitige Leben zu, die ungetrübt ist. - Die Lehre vom Gewissen verdient es, mitten in das christliche Leben hineingestellt zu werden, weil mit ihr alle Ethik steht und fällt (Vergleiche Heft 59 der Reihe „Kelle und Schwert“: Schmitz, R., „Das Gewissen“. Bundes-Verlag, Witten (Ruhr)). Das gute, unverletzte Gewissen ist ein überaus wertvolles Gut, der ganze Inbegriff eines Wandels, der vor Gott geführt wird und sein Augenmerk hat auf den Gerichtstag des HErrn. -

c)

Ein dunkles Kapitel beschreibt die weitere Frage: Was ist zu halten von den Sünden, die hienieden ungerichtet und unausgeglichen geblieben sind? Nur mit Zittern kann man an diese Frage herantreten. Ist es bei einem Gotteskinde möglich, unter der Zucht des Geistes in einem Dauerzustand wissentlicher Sünden zu verharren, ohne zum Selbstgericht zu kommen? Nach der Schrift müssen wir dies verneinen.

Vorneweg müssen wir unterscheiden Schwachheitssünden, von denen man übereilt wird, und Bosheitssünden, die gehegt und gepflegt werden. Wenn irgendwo, dann redet hier die Schrift klar und bestimmt: „Denn das sollt ihr wissen, daß kein Hurer oder Unreiner oder Habgieriger, welcher ist ein Götzendiener, Erbe hat an dem Reich Christi und Gottes“ (Epheser 5,5). Ebenso deutlich spricht sich der Apostel hierüber 1. Kor. 6,9.10 und Galater 5,19-21 aus, nur das hier die Liste jener festgehaltenen, vom Reich Gottes ausschließenden Sünden noch länger ist. Wer den Haß in seinem Busen nährt, rühme sich nicht, selber Vergebung der Sünden zu haben (Matthäus 6,14). Wer über die Fleischessünden nicht zu Gericht sitzt, sage nicht, daß der Geist Gottes in ihm wohne (1. Korinther 6,18.19). Wer dem Mammon nachjagt, gebe nicht vor, daß Gott in ihm Raum gefunden habe (Lukas 6,13). Da gibt es kein Deuteln, und schon der Gemeinde ist die Aufgabe zugefallen: „Tut hinaus, wer böse ist!“ (1. Korinther 5,13.) Warum? Weil er nicht hineingehört. Es sind Leute, die schon hier das Brandmal der Verdammnis in ihrem Gewissen tragen (1. Timotheus 4,1.2). Lebensanfänge mögen einmal erkennbar gewesen sein, aber zu einem selbständigen Personleben in Christus und zu einer durchgeführten Geistesherrschaft ist es nie gekommen. Schmal ist das Grenzgebiet, und schnell ist es überschritten, das von der „mutwilligen“ Sünde trennt, von der es heißt: „Schrecklich ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen!“ (Hebräer 10,31.) Die dunklen Fäden innerer Gebundenheiten sind nicht zerrissen worden, und zu einem Durchstoß in das Reich des Lichtes ist es nicht gekommen, soviel fromme Werke auch gemacht wurden.

Noch einige Worte für die, die in Einfalt und Geradheit in den Wegen des HErrn wandeln, aber angesichts des Gerichtstages für die Seinen das rechte Augenmaß für die Gnade in Christus verlieren könnten.

Vorausschickend diene als Gleichnis ein Vorgang Davids am Ende seiner Tage. Er hatte zu sich entboten ganz Israel nach Hebron und redete zu ihm seine letzten Worte. Ein Ehrenmal wird errichtet seinen Helden, allen, „die sich redlich zu ihm hielten“ in den Tagen seiner Erniedrigung. Zweimal wird uns dies erzählt, zuerst 2. Samuel 23 und noch einmal 1. Chronik 11, nur hier noch mit größerem Aufwand. Zunächst sind es die Obersten der Helden, die sich vor allen rühmlich auszeichneten und unter Wiedergabe ihrer Taten einzeln aufgezählt werden. Viele andere werden nur mit Namen aufgeführt, von denen wir überhaupt nichts Näheres wissen; keiner ist vergessen. Selbst Abisai, der David sehr zur Last gefallen war (2. Samuel 3,39), aber Mut bewiesen hatte, fehlt nicht in der Reihe. Und nun fragen wir: Was soll diese große Ehrentafel in dem Worte Gottes uns sagen? Sollte Jesus Seine Getreuen, die sich für Ihn eingesetzt, nicht auch also ehren?

Sehen wir zu, wie schon die Schrift, von Gott eingegeben, von den Heiligen redet. Lot, dessen Bild in der alttestamentlichen Geschichte mit schweren Makeln behaftet ist, wird 2. Petrus 2,7 das Zeugnis eines „Gerechten“ ausgestellt; denn als solcher steht er nach seinem innersten Wesen vor Gott da, und es wird ihm angerechnet, daß er in Sodom, wo er sein Lager aufgeschlagen, niemals heimisch geworden ist. - Jakobs List zwingt Gott, ihm schwere Wege seiner Heimsuchungen zu bereiten, und doch schämt er sich nicht, der „Gott Jakobs“ zu heißen (Psalm 84,9), denn Er kannte seiner Seele Grund. - Hiob redet im Unverstand stolze Worte (Kapitel 35,16), im Unmut verflucht er den Tag seiner Geburt (Kapitel 3,1 f.), und einmal muß Gott mit ihm reden im Gewitter (Kapitel 38,1 f.); dennoch wird Jakobus 5,11 von ihm gesagt: „Die Geduld Hiobs habt ihr gehört“, denn er hing redlich an seinem Gott. - Moses entfahren am Haderwasser Worte des Unglaubens, daß Gott über ihn erzürnte und ihn sterben ließ, ohne ins Land zu kommen (5. Mose 1,37); aber alles ist vergessen, und Hebräer 3,2 weiß nur von ihm zu reden als einem Manne, „der treu war in seinem ganzen Hause“. - Davids Leben ist nicht ohne Tadel, und es ist belastet mit schweren Versündigungen, und doch wird er genannt „der Mann nach dem Herzen Gottes, der den Willen Gottes in allem getan hat“ (1. Könige 9,4; 11,38). Bei allen diesen und anderen Gerechten des Alten Bundes sind zugedeckt ihre Fehler, und wie es die Hofsitte droben erfordert, wird mit Achtung von ihnen geredet.

In den Schriften des Neuen Bundes wiegt neben dem Zeugnis vom Leben Jesu die Festlegung der Heilslehre vor; Lebensbilder sind nicht viel dargeboten, und spärlich fließen die Quellen der Geschichte. Und doch sind Gedenksteine aufgerichtet, die uns etwas zu sagen haben.

Da liegt der Täufer im Gefängnis, und dunkel ward es auch in seinem Inneren. Derselbe Mann, eine Prophetengestalt, der einst froh von Jesus gezeugt, kommt mit seinem Glauben ins Wanken, und er läßt anfragen: „Bist Du, der da kommen soll, oder sollen wir eines anderen warten?“ Kaum aber haben die Boten ihre Füße gewendet, da spendet ihm Jesus ein Lob, wie ein zweites nicht aus Seinem Munde gekommen ist: „Wahrlich, Ich sage euch: Unter allen, die von Weibern geboren sind, ist nicht aufgekommen, der größer sei, denn Johannes“ (Matthäus 11,2-19). - Die Jünger, die um Jesus gewesen, waren für dessen Unterweisung oft wenig zugänglich; Er muß sie schelten wegen ihres Herzens Härtigkeit und wegen ihres Unglaubens (Markus 8,17 f.); klagen muß Er: „Wie lange soll Ich euch dulden?“ (Matthäus 17,17; Lukas 9,41); sie streiten in ernstester Stunde über den Rang, der ihnen gebühre, und immer muß der Meister sie zurechtweisen. Und doch frohlockt Seine Seele, daß der Vater ihnen Seinen Namen geoffenbart (Matthäus 11,25), und Er tröstet sie: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde, denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben!“ (Lukas 12,32.) Daß diese Jünger bei Jesus „beharret haben in Seinen Anfechtungen“ (Lukas 22,28), ist ihnen so hoch angerechnet, daß ihre Namen weithin glänzen auf den ewigen Gründen von Neu-Jerusalem (Offenbarung 21,14). So sind die göttlichen Maßstäbe!

Nicht ohne Erbauung sind die Grußbemerkungen der Briefe. Jede einzelne ist ein aufgerichtetes Ruhmeszeichen für jene Jünger und Jüngerinnen Jesu, was sie getan haben und den Heiligen gewesen sind. Hell leuchten die Namen Aquila und Priscilla, die ihr Leben dargelegt und die Gemeinde Gottes in ihr Haus aufgenommen haben (Apostelgeschichte 18,26; Römer 16,3-5; 1. Korinther 16,19). - Da ist ein Epaphras aus Kolossä, der allezeit rang mit Gebeten und großen Eifer in der Arbeit an den Tag gelegt - ein Epaphroditus, ein Mitstreiter des Paulus, der Pionierarbeit in Philippi getan - ferner das Haus Stephanas, die Erstlinge in Achaja, die sich selbst verordnet zum Dienst an den Heiligen - und groß ist die Reihe derer (ihrer drei Dutzend mit Namen, ohne die erwähnten anderen nicht genannten Heiligen), denen in Römer 16 eine bleibende Gedenktafel errichtet ist. Es fehlt darunter auch nicht ein Gajus, der Gemeinde Wirt, der in Namen Jesu nur äußere Dienstleistungen verrichtete. Nicht ist auch die Schwester Phöbe vergessen, die vielen Beistand getan, nicht eine Maria, die viel Mühe in ihrer Arbeit verwendet, und andere. Auch ist Apostelgeschichte 9,36 die Jüngerin Tabea nicht unbeachtet geblieben, deren gute Werke und Almosen angelegt wurden aufs Ewige.

Genug der Beispiele, die am Eingang der Geschichte der Gemeinde Christi schon festgehalten sind. Nichts, was im Namen Jesu getan wird, bleibt ungebucht; alles wird am Tage des HErrn seine Anerkennung und seinen gebührenden Lohn finden. Kein Zeugnis, auf die Wellenlänge des Geistes abgestimmt, ist verloren. Jedes ernsthafte Gebet ist droben eingetragen. Jeder, der hier eingetreten in die Sturmtruppe Christi, ist droben eine bekannte Persönlichkeit. „Wer Mich bekennen wird, den werde Ich bekennen vor Meinem himmlischen Vater“ (Matthäus 10,33).

Darin besteht der große Anreiz und die erbauende Kraft der Lebensbilder von Männern und Frauen, die sich im Glauben hervorgetan und sich im Dienst für den HErrn verzehrt haben, daß wir in ihnen schauen, was Gottes Gnade aus einem Menschen machen kann, der ihr ungeteilt Raum gibt. Auch die besten unter ihnen sind Fleisch von unserem Fleisch, und die Allmacht dieser Gnade kann und will auch aus uns etwas machen zu ihrem Preise. Jung-Stilling läßt einmal Aug. Herm. Francke droben ankommen und die Anerkennung hören, die der HErr ihm zollt, und aufzählen, die Taten, die er im Glauben getan, bis er, gebeugt dastehend, zu fragen wagt: „Wo sind denn meine Sünden?“ Und es schallt ihm die Antwort entgegen: „Die sind hier nicht zu finden!“ Der Dichter will uns Mut machen, wenn er in seinen Gesängen an anderer Stelle sagt:

Was sein Volk nach diesem Kampfgedränge
in der Zukunft zu erwarten hat?
Ach, der Jammer zieht sich in die Länge,
und der Stärkste wird im Kampfe matt!
Gerne möchte ich dem müden Streiter
Hoffnung singen in sein Herz und Sinn,
daß er mutig, vorwärts immer weiter
dränge, bis zur Siegerkrone hin!

„Selig ist und heilig, wer teilhat an der Auferstehung, der ersten“ (Offenb. 20,6). Selig werden sie sein, weil sie zur vollkommenen Freude im HErrn gekommen sind. Heilig, weil kein Hauch von Sünde sie mehr entweiht. Eine Leiblichkeit tragen sie nun an sich, die Schwachheit und Tod nicht mehr berührt. Des Lammes Blut hat sie gewaschen und ihr Gewand helle gemacht, das sie nun tragen. Fleckenlos stehen sie da; das hat die Gnade getan. „Seine Knechte werden Ihm dienen und sehen Sein Angesicht, und Sein Name wird an ihren Stirnen sein“ (Offenbarung 22,3-4).

Quelle: Bundes-Verlag * Witten (Ruhr) Kelle und Schwert / Heft 50 4.-6. Tausend Druck: Bundes-Verlag, Witten (Ruhr), 1950

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