Schlatter, Adolf - Vielfalt und Einstimmigkeit der Bibel
Ist die Bibel mit sich einstimmig? Auch hier liegt uns ein trüber Gedanke nahe, durch den wir die Einheit der Schrift ins Äußerliche verkehren, wie sie etwa durch Formeln und Gesetze erzeugt werden kann, denen alles von außen her unterworfen wird. Die Einheit, die wir wünschen, gleicht oft einem leeren, öden Einerlei. Gott schuf Menschen, die ihn kennen; deshalb, weil er sie schuf, ist keiner von diesen seinen Zeugen dem anderen gleich. Jeder empfängt eine besondere Gabe, und Gott ist ihm in besonderer Weise faßlich und nahe. Gott ist unerschöpflich reich an Gestaltungen. Der Geist erzeugt, je reicher er wirkt, umsomehr ein personenhaftes Leben. Aber das Personenhafte ist in allem eigenartig. Darum ist das Wort, das aus dem Geiste stammt, immer wieder anders und neu. Welch ein Reichtum geistiger Gebilde liegt uns in der Bibel vor. Wir sehen die Geschlechter einander folgen, und jedes hat seinen eigenen Gedankenkreis und seine besondere Frömmigkeit und dient Gott in seiner Weise. Jeder Prophet hat seine ihn unterscheidenden Eigenschaften und jeder Apostel eine eigene Form des Evangeliums. Stellen wir die kluge Überlegung der Sprichwörter, mit der sie den geselligen und geschäftlichen Umgang mit den Menschen überdenken und ordnen, und die Offenbarung des Johannes zusammen, in der Johannes nur himmlische Gestalten vor sich sieht, nichts in seiner natürlichen Form uns vorgeführt wird und alle irdischen und zeitlichen Anliegen begraben sind, oder vergleichen wir die Sorgfalt, womit die priesterlichen Teile des Gesetzes den Opferdienst pflegen, wo jeder kleine Opferbrauch unermeßlich heilig und absolut notwendig wird und unter der Androhung des göttlichen Zorns und der Todesstrafe befohlen wird, mit der Freiheit des Apostels Paulus, der zu allen Dingen Macht hatte, nur daß er nichts über sich selbst zur Macht werden ließ, dessen Gottesdienst darin bestand, daß er im Geist mit Glauben auf die Gerechtigkeit hoffte, oder gehen wir von der tiefen Beugung, mit welcher der Prediger alle hohen und herrlichen Dinge, die die Menschen rühmen, vor seinem Auge versinken sieht, hinüber zu Johannes, der im Licht des Lebens wandelt, die Welt überwunden hat, trinkt, so oft er dürstet, und Ströme lebendigen Wassers von sich ausgehen sieht auf den dürren Boden um ihn her; so haben wir vor Augen, in welche weite Abstände das innere Leben der heiligen Männer sich entfaltet hat, wie ausgedehnte Bahnen das Wort der Schrift durchmißt. So lange wir das göttliche Wort nur nach der Weise des Gesetzes fassen, wird uns die Mannigfaltigkeit und Fülle vielleicht verwirren. Für unseren Gottesdienst mag uns die Mühe kleiner und der Erfolg sicherer erscheinen, wenn die Schrift weniger mannigfaltig wäre und keine Unterschiede aufzeigte, sondern überall dieselbe deutliche Formel hören ließe. Anders lernen wir vom Reichtum der Schrift denken, wenn wir Gottes Gabe in ihr erkannt haben, durch die Gott uns speist mit Wahrheit und Gerechtigkeit, damit wir selbst ein Werk seines Geistes würden in seiner Erkenntnis und Gemeinschaft. Dann dient der Reichtum der Schrift der göttlichen Gnade und Größe zur Verherrlichung.
Die Einheit, die die Schrift bedarf und hat, besteht darin, daß alle ihre Weisungen sich schließlich zu einem Ganzen zusammenfügen, an dem ich keinen Punkt verschieben kann, ohne daß ich das Ganze verliere, und mit keinem Teile mich einigen kann, ohne daß ich das Ganze an mich ziehe und ins Ganze geleitet werde. Diese Einheit ist uns äußerlich dadurch dargetan, daß alle Teile der Schrift aus einer festgefügten Geschichte hervorwachsen, die nirgend bricht und zerreißt. Sie treten aus einer einheitlichen Gemeinde hervor, deren Entwicklung einen genau zusammenhängenden Lebenslauf ergibt. Der größte Schritt ist der vom Alten zum Neuen Testament; aber wie stark sind hier die Klammern! Jesus, der das Neue schafft und die Freiheit der Gnade gibt und die Völker zu Gott beruft, stellt sich zugleich völlig unter die alte Schrift, bejaht sie unbedingt und macht sie zur heiligen Regel, die seinen Gang auf Erden geleitet hat. Und Paulus, der die Eigenart des neutestamentlichen Wortes am schärfsten hervorhebt, ergreift gerade das scheinbar entfernteste Glied des Alten Testamentes, das Gesetz, mit höchster Energie. Indem er das, was das Gesetz will und wirkt, mit neuer Kraft erlebt, tritt er in die Fülle und Freiheit des Glaubens empor….
Der Wechsel und die Mannigfaltigkeit der Schrift bringt in unseren Verkehr mit ihr keine Unsicherheit. Wir dürfen uns jedes einzelne Wort völlig aneignen. Die Schranke, die dem einzelnen Spruch und Buch anhaftet, kann uns nur dann gefährlich werden, falls wir die Willigkeit in uns ersterben lassen, auch das zu hören, was die Schrift daneben sagt. Jesus hat uns die richtige Stellung zur Bibel in einer bedeutsamen Stunde an sich selbst gezeigt. Die dem Glauben gegebene Verheißung, die unter Gottes Schutz keine Gefahr mehr kennt und keinen Schaden fürchtet, wurde ihm mit verführerischer Kraft vorgehalten. Sie war ein unzweifelhafte, echtes Gotteswort, und Jesus hat sie mit ungeteilter Kraft ergriffen. Allein: „Wiederum steht geschrieben“. In derselben Weise, wie er die dem Glauben erteilte Zusage ergriff, war sein Ohr auch für die Warnung und Furcht Gottes offen. Er schaute mit dem gleichen hellen Blick und demselben Gehorsam in das Ganze der Schrift. Auf diesem Wege werden wir durch die vielen Wahrheiten, in die die Bibel sich teilt, nicht verwirrt, sondern in die ganze Wahrheit geführt.
Adolf Schlatter, Einleitung in die Bibel, 4. Auflage 1923