Schlatter, Adolf - Der Römerbrief - Kap. 7, 1-6. Das gute Recht unsrer Freiheit vom Gesetz.
Wollten wir das Gesetz eigenmächtig zerstören und von uns werfen, so würde es uns nichts helfen. Rebellion führt nicht über das Gesetz empor, sondern unter dasselbe hinab und bindet erst recht fest an sein Strafurteil. Wir bedürfen einer rechtmäßigen, göttlichen Lösung von demselben; nur dann, wenn wir uns nicht selbst, sondern wenn uns Gott über das Gesetz emporgehoben hat, ist die Freiheit unser Eigentum. Darum zeigt uns Paulus nicht nur, dass die Befreiung vom Gesetz für uns eine Wohltat ist, sondern auch, dass wir zu derselben rechtmäßig und göttlich ermächtigt sind. Namentlich für die, welche im Dienst des Gesetzes herangewachsen waren, war dieser Nachweis eine unschätzbare Handreichung. Nun konnten sie sich mit gutem Gewissen allein zum Glauben an Jesus wenden, in der Erkenntnis, dass sie gerade so das Gesetz nach Gottes Sinn und Willen gebrauchen, also auch nach des Gesetzes eigenem wahren Sinn und Zweck. Wir wurden zwar schon wiederholt darauf hingewiesen, dass das Gesetz im Ganzen des göttlichen. Werks nur eine zeitweilige und dienende Stellung hat, da ja Christus ohne Zutun des Gesetzes zu uns gesandt ist, damit er für uns sterbe und auferstehe, wie auch Abraham die Gabe Gottes nicht durch die Vermittlung des Gesetzes zu teil geworden ist, sondern als reine, lautere Verheißung, 4, 13 f., da ja das Gesetz nebeneinkam zwischen Adam und Christus, und die Wirkung der Sünde und des Todes, wie sie von Adam ausgeht, nicht aufhob, sondern vertiefte, während uns erst Christus die Gegenwirkung zur Wirkung Adams gebracht hat, 5, 20. Nun aber zeigt uns Paulus noch direkt, dass das Gesetz an uns, die wir glauben, keinen Anspruch hat, dass wir nicht gegen das Gesetz, sondern nach dem Sinne des Gesetzes selbst in der Freiheit stehen.
Der Apostel erläutert uns dies durch ein Bild aus dem Gesetze selbst. Dieses verbindet das Weib dem Manne zu unverbrüchlicher Treue, solange der Mann lebt. Das Weib darf sich nicht eigenmächtig vom Manne losreißen und einem andern sich hingeben. Solchen Bruch der Ehe verdammt das Gesetz als schwere Schuld, die es mit dem Tode bestraft. Wenn aber das Weib dem Manne Treue hielt bis zu seinem Tod, dann hat es dem Anspruch des Gesetzes ganz genügt. Über den Tod hinaus erstreckt sich die bindende Kraft desselben nicht; es bleibt mit seinem. Gebot innerhalb der natürlichen Lebensverhältnisse stehen und reicht nicht auch in das hinein, was auf den Tod folgt; es verpflichtet das Weib nicht auch noch dem verstorbenen Mann. Dem irdischen Menschen ist es gegeben, und die natürlichen Verhältnisse des Lebens ordnet es und hat darum keine Beziehung mehr zu dem, der durch den Tod den irdischen Verhältnissen abgestorben ist. Somit hat das Weib durch den Tod des Mannes die Freiheit erhalten, eine neue Ehe einzugehen, und diese Freiheit ist kein Bruch des Gesetzes, sondern recht- und gesetzmäßig, weil der Tod die Grenze bildet, an der das Gesetz selbst seine Forderung und seine Macht enden lässt, Vers 1-3.
Mit dieser Freiheit des Weibes zu einer neuen Ehe vergleicht der Apostel unser Recht, uns Christo hinzugeben ganz und gar. Wir sind im Glauben Christo zu eigen geworden, wie das Weib dem Manne eigen ist. Das ist freilich für uns erst eine zweite und neue Verbindung, in der wir nicht von Anfang an stehen; vielmehr sind wir zunächst dem Gesetz untergeben und haben in demselben unsern Herrn, dem wir dienen und für den wir leben sollten. Dass nun aber Christus uns an die Stelle des Gesetzes getreten ist, und all unser Trachten darauf geht, ihm zu gefallen und seinen Willen auszurichten, das ist kein unrechtmäßiges Entlaufen aus dem Dienst, den wir dem Gesetz schuldig wären, so dass dasselbe dem Ehebruch eines Weibes vergleichbar wäre, sondern wir sind ermächtigt und göttlich berechtigt, uns Christo allein hinzugeben, weil auch hier der Tod dazwischen kam, nämlich Jesu Tod, als die von Gott uns bereitete Lösung unsrer ersten Verbindung durch die Stiftung eines neuen Bunds. Ihr seid dem Gesetz getötet durch den Leib Christi, V. 4. das heißt dadurch, dass Christus seinen Leib in den Tod dahingegeben hat. Über Jesu Tod langt die bindende Macht des Gesetzes nicht hinaus; sie reicht nicht in das hinein, was auf Jesu Sterben folgt. Wie das Weib dem Gesetz völlig genug getan hat, wenn es dem Manne treu ist bis zu seinem Tod, also hat auch Christus allen Anspruch des Gesetzes erfüllt, dadurch, dass er ihm gehorsam ward bis zum Tod und seinetwegen, damit es in seiner Heiligkeit und Majestät offenbar sei, des Todes sich nicht geweigert hat. Das jedoch, was auf den Tod Jesu folgt, hat nicht das Gesetz gewirkt, sondern eine höhere Macht als das Gesetz, die in Christo lebendige und wirksame Gnadenmacht, und in diese höhere Region, in der der Auferstandene steht, redet das Gesetz nicht mehr hinein.
Das Gesetz gilt also für uns, solange als wir den Tod Christi noch nicht erkannt haben in seiner Kraft und Bedeutung für uns, solange als wir uns selbst als die Lebendigen erscheinen, als die, welche fähig sind zu wirken, was gut ist vor Gott, und in sich selbst die Gerechtigkeit finden. Verschmähe ich es, teil zu haben an Jesu Tod, dann ist das Gesetz mein Herr, den ich mit aller Unbotmäßigkeit und Widerspenstigkeit nimmermehr entthronen werde, der vielmehr sein Recht behauptet wider mich. Anders verhält es sich aber, wenn ich mich einschließe in Jesu Tod und mich mit ihm gestorben achte, und die Hoffnung abziehe von mir selbst und erkenne, dass ich allein auf Gnade gestellt bin. Dann habe ich dem Gesetz gegeben, was ihm gehört, und trete in den Genuss dessen ein, was der Auferstandene für mich hat und mir verleiht, und in diese Höhe kann, soll und will das Gesetz nicht hinaufreichen, da bin ich von ihm frei.
Hier wird die Innigkeit, Zartheit und Völligkeit der Hingabe sichtbar, in der Paulus Christo gegenüberstand. Er kann nicht zwei Herrn dienen, nicht Christo und dem Gesetz zugleich, weil er nichts von einer halben, geteilten Hingabe wissen will, sondern nur von einer ganzen Liebe, die dem völlig lebt, dem sie sich ergibt, als könnte ein Weib noch einen andern Mann lieben, wenn sie ganz ihrem Manne leben will. Einst lebte er dem Gesetz, da hatte Christus keinen Raum in ihm, weil er dem Gesetz ganz lebte; nun lebt er Christo, da hat das Gesetz in ihm keine Stelle mehr, weil er ganz Christo lebt. Darum gibt es hier für Paulus nur eine Entscheidung und Wahl: entweder bin ich des Gesetzes Diener, oder ich bin Christi Diener; entweder trachte ich danach, dem Gebot zu genügen, das mir das Gesetz auferlegt, oder ich trachte danach zu sein, was Christus ist, und zu tun, was Christus tut; entweder fürchte ich den Bruch des Gesetzes oder ich fürchte den Verlust Christi; entweder begehre ich den Lohn, den mir das Gesetz verheißt, oder ich begehre die Ähnlichkeit und Gemeinschaft mit Christo als mein höchstes Gut. 1 Was ich dem Gesetz an Dienst zuwende, das müsste ich ja Christo entziehen. Aber Paulus wendet all sein Trachten, Fürchten, Hoffen und Lieben auf den Auferstandenen hin, und er weiß: ich darf um Christi willen alles andere, auch das Gesetz, vergessen und hintansetzen; Jesu Tod gibt mir dazu das Recht; er hat allen alten Verhältnissen ihr Ende gebracht; mit ihm ist die alte Welt und der alte Mensch abgetan, das alte Verhältnis zu Gott geschlossen und ein neuer Bund aufgerichtet und ein neues Haupt, ein neuer Herr mir gegeben, dass ich ganz sein eigen sei.
Das Resultat dieser Hingabe an Christus ist nicht Gottlosigkeit, o nein! nun erst bringen wir Gott Frucht, Vers 4. Als wir dem Gesetze dienten, brachten wir dem Tode Frucht. All unser Rennen und Laufen, Arbeiten und Wirken endigte immer wieder damit, dass es zerfiel und zerstob und unter dem Wort gefangen blieb : Eitelkeit der Eitelkeiten! Und unser innerer Mensch wurde darob leer, zerrüttet und verwundet, sich verblutend in all der nutzlosen Anstrengung. So hatte von unserem Eifer, mit dem wir dem Gesetz nachjagten, niemand Gewinn als der Tod, der immer tiefer in uns wurzelte und mächtiger und verheerender in uns ward. Denn das Gesetz ward über die Sünde nicht Meister und vertrieb sie nicht und löschte die sündlichen Lüste nicht aus, sondern erregte sie vielmehr. Nun aber, da wir Christo dienen, erwächst aus unserm Leben Frucht für Gott, die Frucht der Lippen, die ihm dankt und seine Gnade und Gerechtigkeit preist, die Frucht der Liebe, die an Gottes Liebe sich entzündet und demütig und doch traulich aufwärtssteigt zu ihm, die Frucht unsrer Arbeit, die als Bote und Werkzeug der Liebe Gottes diese auch zu den andern Menschen bringt. Sind wir aber fruchtbar für Gott geworden, dann bleibt unsre Frucht ins ewige Leben.
Der Grund dieser Wandlung liegt darin, dass wir nicht mehr im Fleische sind, Vers 5. Ich war im Fleisch, so kann der sprechen, welcher gestorben und auferstanden ist. Das ist das Resultat, zu welchem ihn sein Sterben und Auferstehen führte, dass er zwar wohl im Fleische war, aber nicht mehr in demselben ist. Was aber Christi ist, das achtet Paulus auch für unsern Besitz. Eben dies ist die Gabe des Auferstandenen an die, welche ihm verbunden sind, dass sie mit in seine Auferstehung eingeschlossen sind und darum sagen dürfen: wir waren im Fleisch, nun sind wir über ihm; seine Interessen und Begehrungen liegen hinter und unter mir, denn mein Trachten. und Lieben hängt an dem, der nicht mehr im Fleische, sondern in die Herrlichkeit Gottes verkläret ist; das hebt auch mich über das Fleisch hinauf. Fleisch ist wohl für uns das natürliche, aber es ist keine reine, sondern eine unordentliche Natur, unsre Natur in ihrer Absperrung von Gott, wie sie sich von Gott getrennt regt und bewegt. Darum ist das Fleisch des Todes Sitz. Was aber vom Auferstandenen ausgeht und zum Auferstandenen hinstrebt, das ist Geist.
So macht Christus alles, was ihm vorangegangen ist, alt, auch das Gesetz, auch den Buchstaben der Schrift, in welcher das Gesetz uns vorgehalten ist. Nur das eine bleibt: wir dienen, und werden nicht meister- und dienstlos, wenn wir aus der Bewachung des Gesetzes übergehen in Christi Hand und aus der Leitung des Buchstabens in die des Geistes. Wir sind wiederum Knechte in voller Untertänigkeit, und das ist nicht eine unedle Sklaverei, sondern unsre Knechtschaft ist hochgeadelt, weil sie dem höchsten Herren dient. Auch ist sie nicht weniger fest und bindend, als der Dienst, den wir dem Gesetze schuldig waren. Freilich ist sie nicht mehr auf Zwang, Buchstabe und Tod gegründet, sondern auf Geist und Leben; aber wer bindet so fest und so völlig als der Geist?