Schlatter, Adolf - Der erste Brief des Johannes. - Kap. 3, 11-18. Die Merkmale der Liebe.
Von Anfang an hat es die Gemeinde gehört, dass wir einander lieben sollen, V. 11. Durch die ganze Zeit, welche die Kirche damals schon durchlebt hatte, war das apostolische Zeugnis einstimmig gewesen und hatte ihr stets dasselbe Ziel gezeigt. Auch die andern Apostel haben demselben Willen Gottes gedient und Johannes selbst hat ihr von Anfang an dasselbe gesagt. So hat ihr auch die Bibel von ihrem ersten Anfang an, wo Gottes Fluch auf den Brudermörder fiel, dasselbe göttliche Gebot gebracht. Nicht vielerlei Gebote sind der Gemeinde auferlegt worden, nur das eine, dieses aber immer und gleichmäßig, in seiner heiligen Notwendigkeit. Zuerst erläutert uns Johannes dasselbe an seinem Gegenteil: nicht wie Kain. Derselbe schlachtete seinen Bruder. Das ist nicht Gottes Art, sondern er war aus dem Bösen. Die Lust, den Bruder, der doch mit uns einen gemeinsamen Ursprung des Lebens hat, zu schlachten, ist das Gebilde des Teufels. In eine solche wider alle Natur und Gott streitende Bewegung kommt ein Menschenherz, wenn es sich durch den Stoß des Teufels treiben lässt.
Weswegen schlachtete er ihn? Weil seine Werke böse waren, die Werke seines Bruders aber gerecht. Der Böse konnte den Gerechten nicht ertragen, weil die gerechten Werke des Bruders die Bosheit seiner eigenen Werke deutlich machten. Um sich gegen das Urteil zu schirmen, das von den gerechten Werken des Bruders her auf ihn selber fiel, vernichtete er ihn. Er wollte die Gerechtigkeit in ihm töten und der Bosheit die Macht und den Sieg erringen, dadurch dass er den Gerechten beseitigte.
Am Altar erregte sich der Bruder wider den Bruder und holte sich vom Altar her den grimmigen Hass, weil Gott ihm nicht gewährt hatte, was er Abel gewährte, die gnädige Aufnahme seines Opfers. Der Bruder hatte ihn in der Gunst Gottes überholt, darum musste er sterben. Er stellte sich nicht in Beugung unter Gottes Urteil, sondern rächte sich für die ihm versagte Gnade dadurch, dass er den, der sie empfing, mit dem Tode dafür büßen ließ. Warum Gott so urteilte und das Opfer des einen aufnahm, das des andern abwies, ist uns 1 Mose 4 nicht gesagt. Johannes spricht aus, dass dieses Urteil Gottes nicht willkürlich war, sondern die Art ihrer Werke offenbarte. Das Opfer dessen, dessen Werke gerecht waren, war Gott angenehm und sein Opfer war selbst ein gerechtes Wert. Der, dessen Werke böse waren, versöhnte Gott auch durch sein Opfer nicht, und auch dieses war ein böses Werk.
Johannes erklärt uns, wie es zum Hass kommt, sogar mitten in der Christenheit. Die Gemeinden haben es schon damals erlebt, wie auch in geistig regsamen und in frommem Glanze strahlenden Männern bittere Leidenschaft und starker Hass zum Vorschein kommen können. Das ist die Frucht und Folge unsrer bösen Werke, sie treiben uns in die Bahn des Hasses hinein. Weil uns niemand bei denselben stören und niemand uns ihretwegen beschämen soll, darum werden wir einander feind. Wir können einander erst dann lieben, wenn wir von der Sünde frei geworden sind.
Aber auch dazu hat Johannes die Geschichte Kains benützt, damit die Gemeinde den Lauf der Welt und ihr Verhalten gegen sie verstehe.
Die Welt kennt euch nicht, hieß es oben; wir haben aber nicht bloß ihren Unverstand wider uns, dem Gott nicht fasslich ist, sondern auch ihren Hass. Verwundert euch nicht, wenn euch die Welt hasst. Warum nicht?
Weil eure Werke gerecht sind und diejenigen der Welt böse, und es darum immer wieder wie in der Geschichte Kains geht.
Wir lieben die Brüder. Johannes setzt das nicht als ein Gebot hin, sondern als Wahrheit und Leben in der Gemeinde. Sie hat das am Evangelium gelernt und dadurch empfangen, dass sie Christus kennt. Nun sollen wir bedenken, was wir dadurch besitzen: wir wissen, dass wir aus dem Tode in das Leben übergegangen sind, weil wir die Brüder lieben, V. 14.
Der Tod ist für uns vergangen; wir sind ihm entronnen. Das Ende unsres Lebens ist kein Sterben mehr. Der Leib bricht, die irdische Natur geht für uns unter; das Leben dagegen bleibt uns, denn wir stehen schon in demselben. Früher hat auch uns der Tod regiert; unsere Art war ihm auch unterworfen und hätte uns zuletzt in die Öde und Ohnmacht einer erstorbenen Existenz hinabgeführt. Aber die Pforten des Totenreichs wurden für uns aufgemacht, das Leben ist ja offenbar worden, und wir haben die offene Türe benützt und den Schritt vollzogen, der uns aus dem Bereich des Todes hinausführte in die Lebendigkeit.
Denn wir lieben die Brüder. Lieben und leben hat hier Johannes untrennbar zusammengefasst, ebenso wie Unfähigkeit zum Lieben und Tod. Wenn aufrichtiges Wohlwollen sich im Herzen zeigt, und wir lernen an die andern zu denken, nicht an uns, ihnen zu dienen und an ihnen uns zu freuen, das ist Leben, und unterscheidet sich von der Öde und Leere der lieblosen Art wie die Nacht vom Tag und das Himmelreich vom Totenreich. Wir sind dadurch ins Leben gekommen, denn nun läuft unser Trachten in Gottes Bahn und dient seinem Willen. Wer aber Gottes Willen tut, der bleibt in Ewigkeit.
Wer's nicht zur Liebe bringt, der bleibt im Tod. Im Tode bleiben wie rätselhaft und verkehrt. Es ist ein zur völligen Unnatur entstellter Trieb, im Tode zu bleiben, während man ins Leben hinübergehen kann. Aber es steht ein Riese vor uns, der uns dem Reiche des Todes nicht entfliehen lässt: unser eigenes teures, dickes Ich. Um das müssen wir uns notwendig drehen als um unsere Sonne, und für dasselbe sorgen und es pflegen und ihm dienen und ihm leben, und haben nicht Zeit und Muße, an etwas andres zu denken als an uns selbst. Und ob dieser Sorge, uns selbst zu erhalten und zu beglücken, bleiben wir im Tod. Wir fürchten das Leben, als wäre es Tod, weil es uns von uns selber löst und in der Liebe den andern untergibt, und wir suchen den Tod, als wäre er das Leben, in dem wir uns in uns selbst verschließen und nichts andres kennen und schätzen als uns selbst. Es zeigt sich überall dasselbe Gesetz Gottes, das unsere Gedanken völlig umkehrt: wer sein Leben erhalten will, der verliert es; wer es dran gibt in Dienst und Liebe für die andern, der gewinnt es. Die Sucht, die sich selber dient, hat den Tod in sich, und macht, dass wir uns selbst verloren gehen.
Vom Mangel an Liebe werden wir zum Hassen getrieben, vom Hassen zum Morden, vom Morden zum Tod. Fehlt uns die Liebe, dabei können wir nicht stillstehen. Man kann sich ja lange in einer kühlen Gleichgültigkeit bewegen, die den Menschen weder Gutes noch Leides gönnt, besonders wenn man sie nicht bedarf, sondern sich selbst verschaffen kann, was man zur eigenen Lust nötig hat. Allein wenn sich einmal unser Weg mit dem der andern kreuzt, dann springt aus dem an Liebe leeren Geist der Hass. Jeder Stoß, der uns widerfährt, kann ihn herauslocken. Und den Hass mögen wir zähmen, und ihm sein Maß auflegen und ihn anständig machen, dass er sich nicht tätlich und grob äußern darf, und doch steckt im Hass der Mordsinn. Er begehrt nicht das Leben für den andern, sondern den Tod. Aber der Mörder hat nicht ewiges Leben in sich bleibend. Jedes Wort drückt hier die Herrlichkeit des Lebens aus, das Gott uns gibt: ewig ist es und in uns, als unser Eigentum in uns hineingepflanzt, und bleibend, festgemacht in uns zur Unverlierbarkeit. Wer aber den andern das Leben nimmt, hat es selber nicht. Wer tötet, wird getötet; das ist Gottes Recht; der Mörder tötet sich selbst.
Die Liebe bewegt sich in der entgegengesetzten Bahn. Wir haben sie darin erkannt, dass er für uns seine Seele gab, V. 16. Der Mörder nimmt dem andern das Leben; Jesus gab sein eigenes Leben für uns. Wir sollen auf Jesus sehn, wie er zum Kreuze ging, und sich des Sterbens nicht weigerte, weil er sich Gott zum Werkzeug seiner Gnade darbot, dass er durch ihn für uns in seinem Blut Versöhnung stifte; da, sagt Johannes, haben wir die Liebe erkannt. So sieht sie aus. Daraus ergibt sich, was unsere Pflicht und Schuldigkeit ist. Auch wir sind verpflichtet, für die Brüder die Seele hinzugeben. Johannes lässt für die Liebe kein geringeres Maß zu und behandelt das keineswegs als eine besondere Groß- und Heldentat, wofür wir uns selbst bewundern und bewundern lassen dürften, sondern heißt das einfach unsere Pflicht. Wir sollen für einander sterben können. Er hat ja soeben gesagt: wir sind aus dem Tod ins Leben hinübergegangen; da hat das „Ablegen der Seele“, wie er's nennt, keine Schrecklichkeit mehr.
Zur buchstäblichen Ausführung des Gebots, dass wir mit einem einzigen Entschluss und einer raschen Tat das Leben für die andern lassen, kommt es natürlich nur durch besondere Fügungen. Dennoch gilt unser Wort für jedermann. Wenn wir den Vorbehalt machen: ich will den andern dienen und für die andern leben, nur darf es mir selbst nicht schaden, meine Kraft nicht erschöpfen, meine Gesundheit nicht gefährden, mein Leben mir nicht kosten, so stirbt die Liebe, weil am entscheidenden Punkt das eigne Ich festgehalten wird. Johannes straft jeden solchen Vorbehalt, und wenn wir ihm hierin gehorsam sind, und fröhlich dem Trieb der Liebe folgen, was sich auch für uns daraus ergeben mag, dann gewinnt sie ihre Freiheit und Aufrichtigkeit.
Sind wir einander das Leben schuldig, dann noch viel mehr das Geld. Das Geld ist weniger als das Leben. Aber weil es uns immer wieder Überwindung kostet, aus der Liebe heraus zu handeln, darum mahnt Johannes noch speziell an diesen Punkt. Wer den Lebensunterhalt der Welt besitzt; dadurch erinnert Johannes an die verschiedene Schätzung dieser Dinge in der Welt und bei denen, die Jesus kennen. Jene sieht hierin ihr „Lebensmittel“. Sie hat ohne das nichts. Für euch, sagt er, ist's bloß das, was ihr gemeinsam mit der Welt besitzt, nicht euer eigentliches Gut. Und er sieht, dass sein Bruder bedürftig ist. Auf die Bedürftigkeit gründet er die Gabe. Wer ihrer bedarf, soll sie empfangen, nicht der, der sie nicht bedarf, aber auch jeder, der sie bedarf. Weitere Bedingungen gibt es hier nicht. Um das Bedürfnis der andern zu sehen und zu verstehen, dazu hat die Liebe Weisheit nötig; sie selbst gibt uns, wofern sie nur wach und kräftig ist, auch das Auge für das, was den andern fehlt. Und er sieht es Johannes wartet nicht einmal, bis die Bitte an uns kommt. Du siehst, dass er's nötig hat, das ist genug. Und er verschließt sein Herz vor ihm. Das Mitgefühl regt sich schon durch die Natur, wo immer wir Not und Bedürftigkeit sehen. Wenn es uns nicht zur Tat bewegt, so unterdrücken wir es durch einen Riegel und Verschluss. Wie bleibt die Liebe des Vaters in ihm? Immer ist's die eine Gabe, durch die uns Johannes lockt. Soll der Vater an solcher Härte gegen den Bruder Wohlgefallen haben? Können wir den Vater behalten, wenn wir den Bruder verstoßen? Der Apostel sagt: ihr habt den Vater nur mit den Brüdern. Hieß es oben: wer aus Gott geboren ist, der kann nicht sündigen, so schließt das somit in sich: er ist unfähig, grausam zu sein, und nicht imstande, sein Herz zu verriegeln, und ist nicht fähig, die Brüder leiden zu lassen, während er helfen kann. Solches Unvermögen, hart zu sein, ist ein Zeichen, dass wir von Gott erzeugtes Leben haben. Es gibt aber zwei Weisen des Liebens, mit Worten und der Zunge, und mit dem Werk und in Wahrheit. Das Wort für sich allein ist noch nicht wahr. Auch Jakobus hat es uns gesagt, dass und warum die Wahrheit erst mit dem Werk in unser Lieben kommt.