Schlatter, Adolf - Der erste Brief des Johannes. - Kap. 4,12-18. Die Vereinigung mit Gott durch die Liebe.
Unser Verlangen streckt sich nach Gott. Wir können nichts Geringeres begehren, als ihn zu haben, in ihm unsern Ort zu finden, so dass wir in ihm bleiben dürfen, ihn bei uns zu haben als den, der mit uns redet, uns unterweist, erfreut und begabt, seine Liebe in uns zu haben und zwar so, dass sie in uns vollkommen wird und zu ihrem Ziele kommt und sich in ihrer ganzen Kraft und Seligkeit uns offenbart. Wie wollt ihr's machen? fragt Johannes. Gott hat niemand je gesehen. Er steht in der unaufhebbaren Entfernung über euch, die Gott vom Menschen und den Schöpfer vom Geschöpfe trennt, so dass ihn kein Auge erfasst. Und dennoch ist es uns gegeben, in jener reichen und lebendigen Gemeinschaft mit ihm zu stehen. Wir haben sie, wenn wir einander lieben.
Die Gewissheit dieses lebendigen Verbands mit Gott beruht auf den beiden Zeugen und Boten, die von oben her in die Welt gekommen und uns gegeben sind, auf dem Geist und dem Sohn. Weil er uns von seinem Geiste gab, daran erkennen wir, dass wir in ihm bleiben und er in uns. Johannes hat uns schon oben daran erinnert, dass Gott dadurch, dass er uns von seinem Geiste gab, bei uns gegenwärtig wird, zu einer festen Gemeinschaft, die nicht mehr bricht. Und den Beweis derselben haben wir nicht nur in uns, sondern auch vor uns. Jesus ist ihr Grund; das Bekenntnis zu ihm versetzt uns in dieselbe. Und Johannes hebt die Sicherheit des Berichts hervor, der uns von ihm gegeben ist: wir haben gesehen und bezeugen es, dass er der von Gott gesandte Sohn gewesen ist und dass ihn der Vater gesandt hat als den Helfer und Erretter für die Welt. Je kräftiger wir den Grund erfassen, auf dem sich die Gemeinschaft mit Gott für uns erbaut, um so ernster machen wir uns auch an unsere Aufgabe, einander zu lieben, weil wir nur so jene Gemeinschaft uns erhalten und in sie eingeschlossen sind.
Aus der Sendung Jesu haben wir das als Ertrag und Ergebnis gewonnen, dass wir die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und geglaubt haben, V. 16. An Jesus wird sie uns sichtbar, dringt als Erweckung zum Glauben an uns heran und möchte von uns mit einem ganzen Ja bekräftigt sein. Und wer sich zu Jesus bekennt, der hat es Gott zugestanden und bejaht, dass er uns wahrhaftig lieb hat. Durch ihn haben wir es vor Augen, tragen es auch als Glaube in unserem Herzen, dass Gott Liebe ist. So wissen wir auch den Weg, wie wir in Gottes Gemeinschaft bleiben, dass wer in der Liebe bleibt, in Gott bleibt. Nur eins ist not, dass sie uns auch im Verkehr mit den Menschen umfasse und führe. Fallen wir durch das, was wir tun, nicht aus der Liebe heraus, so haben wir den festen Stand in Gott gewonnen, von dem uns auch der Tag des Gerichts nicht wegreißen wird.
Die letzte und höchste Erprobung unsrer Gemeinschaft mit Gott wird uns der Gerichtstag bringen. Allein das frohlockende „Bleiben in ihm“, wie es Johannes so oft gebraucht, hat ewigen Sinn, so dass es bis zum Gericht reicht und über dasselbe hinaus. Deshalb dankt er Gott von Herzen, dass ihm auch die Furcht vor dem Gericht abgenommen und Freudigkeit dazu gegeben ist. Darin hat sich die Liebe bei uns vollkommen gemacht. Sie gibt uns alles, was wir bedürfen, hilft uns nicht nur jetzt, sondern für die Ewigkeit, nimmt uns nicht nur jetzt Tod und Finsternis ab, sondern verleiht uns auch alles, was wir für die Zukunft brauchen, für den Durchgang durch das Gericht und den Eingang ins Himmelreich.
Sie hat sich selbst für uns zum Weg ins Himmelreich gemacht und bringt uns dadurch dorthin, dass wir in ihr bleiben. Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und wer in Gott bleibt, der hat auch am Gerichtstag Freudigkeit. So ist die Liebe, die uns Gott erwiesen hat, etwas Ganzes und Vollkommenes. Sie stiftet nicht nur einen Anfang, sondern bringt ihn auch zur Vollendung. Sie schenkt sich uns nicht bloß, sondern macht auch, dass wir sie behalten und nicht mehr verlieren. Alles macht sie, an ihr hängt alles, auch unsere Vollendung und Ewigkeit. Sie bedarf keiner Nachhilfe und Ergänzung, sondern vollbringt ihr Werk kräftig und herrlich bis zu ihrem Ziel. Freudigkeit, ein unbeschwertes Herz und freien Blick zu Gott und Christus haben wir auch am Tage des Gerichts; denn wie jener ist, sind auch wir in dieser Welt. Jene Freudigkeit entspringt daraus, dass wir durch die Liebe Christo ähnlich worden sind. Er hat der Liebe Gottes an der Welt gedient und sie in sich gehabt in ihrer göttlichen Art und Kraft, hat aber auch uns die Liebe geschenkt, so dass wir in ihr bleiben. Sie ist sein Bild in uns. Hieraus entspringt Freudigkeit und lebendige Hoffnung. Sind wir wie er, so richtet und verwirft er uns nicht. In dieser Welt sind wir wie er; deshalb werden wir in der Ähnlichkeit mit ihm bleiben, auch wenn diese Welt vergangen und zu einer andern Welt geworden ist. Sind wir schon jetzt, wo diese Welt uns von ihm trennt, und sein Bild an uns bedeckt und verborgen macht, dennoch wie er, wie viel mehr wird sein Bild an uns hervorglänzen, wenn wir ihn sehen werden, wie er ist! Der Blick auf den Tag des Gerichts erweckt die Furcht. Aber die Liebe hat sie nicht in sich und gibt zur Furcht keinen Grund. Sie ist die Überwindung der Furcht. Wenn sie vollkommen ist, treibt sie dieselbe aus. Worauf soll sich die Furcht noch gründen, wenn lauter Lieben mich umfasst, lauter Güte und Gnade, lauter Willigkeit zu helfen, zu vergeben, zu verherrlichen, wenn die Liebe nichts andres von mir sucht, als wieder Liebe, und dieselbe in mir erweckt, so dass sie auch mir geschenkt ist und ich ihn wieder lieben darf? Da ist kein Raum zur Furcht mehr. Wir fürchten, er sei wider uns, aber die Liebe macht, dass er für uns ist; er scheide uns von sich, aber die Liebe verbindet und vereinigt uns mit ihm; er schelte uns, aber die Liebe vergibt; er erniedrige uns, aber die Liebe erhöht; er betrübe uns und setze uns in Dunkelheit und Todesschatten, aber die Liebe schafft Frieden und Freude und Leben.
Muss nicht auch Furcht in unserem Christenleben sein? Die Schrift pflanzt die Furcht vor Gott in uns als den Anfang der Weisheit und auch das apostolische Wort erzieht sie in uns und bringt sie Hand in Hand mit dem Glauben zu kräftiger Bewegung. Wir kennen, sagt Paulus, Christi Furcht, und wirken unsere Seligkeit in Furcht und Zittern, 2 Kor. 5,11; Phil. 2,12. Johannes weiß auch, wozu sie gut ist, und warum wir sie nötig haben. Die Furcht hat Strafe. Das trägt sie in sich als ihre Art und Wirkung nach Gottes Ordnung. Aus der Sünde entspringt sie und um ihretwillen ist sie notwendig und heilsam. Sie ist Gottes Antwort auf unser Sündigen. In ihr wird es uns deutlich, dass das Böse trennend zwischen ihm und uns steht, und wir ihn wider uns haben und unter seinem Zorne liegen. So wenig wir unsere Sünde ableugnen dürfen, so wenig dürfen wir die Furcht ausstoßen. Es gilt sie zu haben und ihr reinigendes Werk an uns geschehen zu lassen, dass sie uns vom Bösen löse, zum Glauben treibe, und uns aus uns heraus auf Gott weise, damit wir zu seiner Liebe fliehen und Christum verstehen, wie er die Versöhnung für unsere Sünden ist. Weil aber die Furcht aus der menschlichen Sünde und dem göttlichen Zorn entsteht, ist sie nicht in der Liebe, und weil wir nicht nur Zorn in Gott finden und nicht nur Sünde in uns, sondern in Gott die Liebe haben, als uns erwiesen und in uns bewirkt, werden wir über die Furcht emporgehoben zu einer Freude, die Gott von ganzem Herzen danken kann.
Wer das nicht kann, sondern sich fürchtet, der ist in der Liebe nicht vollkommen worden. Da hat sie noch Risse und Löcher, ist unfertig und gemischt. Ein Anfang ist da und besser ist's, wir fürchten uns, als wir seien furchtlos durch Trotz und Verhärtung. Wer sich aber fürchtet, steht erst im Anfang und hat weder die Vollkommenheit der göttlichen Liebe gesehen, noch sein eigenes Lieben fertig gemacht. Johannes warnt: gib acht auf dein Lieben, auf das, was du den Menschen bist, gönnst und tust. Wenn du nicht aus der Furcht herauskommst, so liegt es an den Schäden in deiner Liebe, am Neid und Hass gegen den oder jenen, an der Unversöhnlichkeit, an der Härte und eigensüchtigen Trägheit hier und dort. Wenn du deine Liebe brichst und schädigst, so schädigst du auch deine Freudigkeit und die Ruhe in Gottes vollkommenem Lieben. Aus solchen Rissen in der Liebe kommt die Furcht heraus, uns zur Strafe und Züchtigung, zum Stachel und Antrieb, der uns in die vollkommene Liebe treiben soll.