Schlatter, Adolf - Der Hebräerbrief - Kap. 1, 5-2, 4. - Jesus und die Engel.

Schlatter, Adolf - Der Hebräerbrief - Kap. 1, 5-2, 4. - Jesus und die Engel.

Jesus steht über allen Engeln; das war das Wort, mit dem der Brief den ersten Blick auf Jesus schloss, V. 4. Das weist er nun mit Worten der Schrift eingehend nach. Wir begegnen hier einer Eigentümlichkeit dieses Briefs, die in allen seinen Teilen wiederkehrt. Er baut seine Lehre aus Worten des Alten Testamentes auf. Hier spricht ein Mann, der sinnend und forschend die alttestamentliche Schrift vor sich hat und ihre Worte erwägt. Und nun schaut er auf zu Jesus: jetzt wird ihm beides hell. Das Schriftwort wird ihm groß und wichtig durch das, was er an Jesus sieht, und Jesus wird ihm verständlich und in seiner Macht und Herrlichkeit erkennbar durch das, was das Schriftwort sagt. Das ergibt freilich für das Verständnis unseres Briefs eine besondere Schwierigkeit. Wir müssen stets auf zwei Dinge achten, auf das, was das alttestamentliche Wort enthält, und auf das, was der Brief selbst mit demselben sagen will. Er flicht seine Lehre aus einer doppelten Schnur. Andrerseits gibt dies unserem Briefe seinen Reichtum, dass er auch ins Alte Testament helles Licht zurückfallen lässt.

Seine Auslegungen sind oft sehr überraschend, so wie sie niemand unter uns wagen würde. Sie sind anderer Art, als was wir z. B. auch in diesem Büchlein mit der Auslegung suchen. Wir wünschen einfach das Wort der Apostel zu fassen und ihren Gedanken in uns zu wiederholen. Wir möchten uns klar machen, was diese Worte im Sinn und Geist der Apostel bedeuteten und was sie uns damit ans Herz legen wollten. Das will sagen: wir lesen die Schrift als die Schüler, als die Lernenden, die sich das Wort des Lehrers aneignen und dasselbe in sich wiederholen. Der Mann, der hier spricht, las die Alttestamentliche Schrift nicht nur als ein Schüler, sondern als ein Meister. Ihm ist Christus offenbar, aufgedeckt in seiner Erhabenheit und Herrlichkeit, und in diesem Licht gewinnt ihm das alttestamentliche Wort eine Bedeutung, die es vordem noch nicht besaß. Es wird ihm neu mit der neuen Tat Gottes und wächst mit dem Fortgang des göttlichen Werks. Er hat gesehen, was Propheten und Könige in der alten Zeit noch nicht sahen, den von oben gekommenen und zum Vater wiederum erhöhten Christus. Das stellt ihn über alle Männer der alttestamentlichen Schrift, und mit diesem seinem neuen Gut und Licht einigt er das Schriftwort. Er verwebt es mit demselben; es wird ihm daraus ein Ganzes, wodurch das Schriftwort emporgehoben wird über das, was es anfänglich im Mund der alttestamentlichen Männer war.

Wenn wir ihm nun unser Interesse am Unterschied der Zeiten, unsere geschichtliche Übung und Kunst, unsere Einsicht in die stufenmäßige Entwicklung der biblischen Gedanken entgegenhalten würden ich denke, er würde uns antworten: studiert nur Geschichte; forscht dem Unterschied der Zeiten nach; versucht es, euch den geistigen Horizont Moses, Davids, Jesajas vorzustellen nach seiner besonderen Art und Begrenzung; nur gebt acht, dass ihr nicht schließlich bloß die Menschen vor Augen habt, Menschen in recht altertümlichem Kostüm, Menschen, die ihr mit großer Kunst aus dem Grabe wieder erweckt und so sprechen lasset, wie sie etwa dereinst dachten und sprachen, aber eben doch nur Menschen, während ihr für Gott und sein Wort und Werk blind geworden seid. Stellt nun, ihr geschichtskundigen Leute, auch eure Bibel in das Licht, das von Christo ausgegangen ist, und fasst sie als das Wort, das auf sein Kommen zielt und sein Reich gründet, als das Wort, das in ihm die Wahrheit und Erfüllung hat; nur dann versteht ihr sie.

Bei seinen Auslegungen braucht der Brief beständig die damals gebräuchliche griechische Übersetzung, obwohl sie natürlich nicht frei von vielen Irrungen ist. Sie hat zwar im ganzen mit peinlicher Pünktlichkeit den Text wiederzugeben versucht; immerhin sind an manchen Stellen Zusätze hinzugekommen oder Änderungen vorgenommen worden, zum Teil mit Rücksicht auf die Denkweise ihrer griechischen Leser. Eine solche Stelle findet sich z. B. gleich unter denjenigen Worten, die über die Engel angeführt werden. „Und es sollen ihn anbeten alle Engel Gottes“, V. 6; das las der Verfasser in seiner Bibel am Schluss des Liedes Moses, 5 Mos. 32. Dort steht es aber nur in der griechischen Bibel. Allerdings sind die Worte, die dort angefügt wurden, selbst auch Bibelworte und aus Ps. 97, 7 entlehnt. Aber auch so sind sie ein Beispiel für den Unterschied zwischen dem Text und der Übersetzung, die unser Brief benützt. Im hebräischen Psalm wird zunächst von den heidnischen Göttern gesprochen, die alle aus ihrer falschen göttlichen Ehre herabsinken werden, wenn der Herr in seiner richterlichen Majestät sein Werk auf Erden vollführt. Der Übersetzer mochte nicht von „allen Göttern“ reden, damit nicht der heidnischen Vielgötterei eine scheinbare Rechtfertigung gegeben sei. Er setzte die Engel in den Text ein als diejenigen, die den höchsten Anteil an göttlicher Herrlichkeit und himmlischem Wesen haben und darum in gewissem Sinn mit dem göttlichen Namen genannt werden können. Wenn wir nun dem Verfasser unseres Briefs sagen würden: das Wort, das du anführst, lautet im Hebräischen anders - ich denke, er würde sagen: lest ihr nur eure hebräische Bibel, fasst sie aber auch so voll und tief im Licht der Erscheinung Jesu, versteht sie so einträchtig mit Gottes Rat und Werk, wie ich meine griechische Bibel las und verstand.

Vielleicht möchten wir fragen: warum braucht er denn das alttestamentliche Schriftwort noch, wenn er doch über ihm steht in einem helleren Licht? Allein eben diese Einstimmigkeit des anfänglichen Worts und der Erscheinung Jesu ist das, was ihm Licht gibt und Erkenntnis erweckt und die Festigkeit seiner Überzeugung begründet. Auf diesen Zusammenhang achtet er darum mit allem Fleiß. Er gewinnt das Verständnis des Schriftworts und die Kenntnis Jesu nicht unabhängig voneinander, sondern er kann weder das Schriftwort verstehen ohne den Blick auf Jesus, noch die Bedeutung Jesu ermessen ohne den Blick in die Schrift. Eins entspringt hier am andern und vollendet sich mit dem andern. In der Einigung beider Wahrnehmungen wird seine Erkenntnis geboren, ebenso wohl aus der Schrift wie aus Christo, eben aus der Bestätigung und Bewährung, die vom einen auf das andere übergeht.

Aber auch das haben wir zu bedenken, dass er zu „Hebräern“ spricht. Mochten dieselben auch des Evangeliums müde geworden sein, so blieb ihnen doch das alttestamentliche Wort ein Heiligtum, das sie nicht anzutasten wagten. Die Geltung und Autorität des Schriftworts war von Jugend auf mit ihrem ganzen Sinnen und Denken, mit ihrem innersten Gewissen verwoben. Dieses Band konnten und wollten sie nicht zerreißen, auch wenn sie sich von Christo abwandten. Hier fasst sie unser Brief. Lest doch, sagt er ihnen, eure Bibel! Seht, wie sie von Christo zeugt; seht, wie sie durch ihn hell wird und Wahrheit und Kraft. Ihr wollt die Schrift nicht verleugnen; nun, dann könnt ihr Jesus nicht lassen; denn die Schrift ist mit ihm eins. Er will sie mit der Schrift bei Christo festhalten, und flicht eben darum seine Lehre aus jener doppelten Schnur, damit sie fest an Jesus gebunden seien.

Auch die Vergleichung Jesu mit den Engeln gehört zur Vergleichung des alten mit dem neuen Bund. Der Blick ist dabei vorwiegend auf den Sinai gerichtet; dies ergibt sich daraus, dass von dem durch die Engel geredeten Wort“ die Rede ist, 2, 2 vgl. Gal. 3, 19. Ap. 7, 53. Jene Versichtbarungen Gottes am Sinai, der Donner und Posaunenhall, das Reden der Stimme zum Volk und zu Mose, die Erscheinung Gottes in der Wolke, die Gestalt, die im Dornbusch erscheint, und die an Mose vorübergeht, das alles wies auf die Gegenwart und Wirkung der Engel hin. Die Schrift selbst sprach von dem Engel Gottes, der mit Israel in der Wolke zog. Der alte Bund schloss also Gottes Herrlichkeit und das Reich der himmlischen Kräfte keineswegs von den Menschen ab. Es fehlte ihm nicht an Offenbarung Gottes, an Öffnung der oberen Welt, an Erscheinung himmlischer Mächte und göttlicher Boten. Ja, die Gemeinde Jesu erscheint hierin fast ärmer bestellt und hintangesetzt. Was steht hier all jenen machtvollen, offenkundigen Bezeugungen Gottes gegenüber? Jesus allein! Jesus in der ganzen Menschlichkeit seiner Erscheinung, nicht umgeben von himmlischen Heerscharen, Jesus, der als den legten und tiefsten Eindruck von seiner irdischen Gegenwart der Gemeinde sein Kreuzesbild hinterlassen hat. Doch nein! Das ist kein Rückschritt hinter Israel zurück. Jesus ist größer als die Engel. Nichts, was der Himmel in sich schließt, kann ihm verglichen werden.

Indem der Brief die Vergleichung zwischen dem alten und neuen Bund an dieser Stelle beginnt, arbeitet er allem folgenden kräftig vor. Was sind vollends die menschlichen Bundesmittler, die menschlichen Boten des göttlichen Worts in Israel neben Jesus, wenn nicht einmal die himmlischen Geister ihm zu vergleichen sind? Der Brief stellt Jesus später auch noch neben Mose und Aaron, aber er kann sich dort kurz fassen. Nachdem er Jesus über alle Engel erhoben hat, erbleicht Moses Glanz und Aarons Heiligkeit vor seiner Gestalt.

Die ganze Herrlichkeit und Würde Jesu, die ihn auch über alle himmlischen Mächte erhöht, hat ihren Grund in der Stellung, in die der Vater zu ihm tritt: du bist mein Sohn, V. 5.

Gott nennt ihn nicht nur seinen Knecht, nicht nur seinen Boten, nicht nur seinen Stellvertreter, nicht nur den Genossen seines Throns und seiner Herrlichkeit, nicht nur seinen Freund – nein: seinen Sohn. Dieses: du bist's! mit dem Gott sich ihm zukehrt und ihn zu sich selbst heranzieht als seinen Sohn und seine Liebe ihm dargibt, das ist's, was niemand, auch niemand im Himmel, wie er empfangen hat. Das ist sein Besitz allein. Das hebt alles weg, was zwischen Gott und Jesus in der Mitte stehen könnte. Da geht das Leben und die Liebe nicht erst durch andre Zwischenglieder durch, sondern strömt vom Vater her Jesu zu in unteilbarer Vollkommenheit. Darum fährt das Schriftwort fort: heute habe ich dich gezeugt. Auf allem, was Himmel und Erde sonst enthält, ruht das Wohlgefallen des Schöpfers; die Freude des Vaters dagegen haftet an dem Einen, an Jesus allein. Nicht nur gemacht und gebildet, nicht nur berufen und erwählt, nicht nur begabt und gekrönt: heute habe ich dich erzeugt. Es wurde uns soeben, V. 4, gesagt, dass Jesus dadurch höher als die Engel geworden sei, dass er sich zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt habe. So wird auch bei diesem „heute“ an den Tag seiner Erhöhung zu denken sein. Damals, als Gott ihn aus dem Tode auferweckte und zu sich erhob, da zeugte ihn Gott ins Leben, damals empfing er aus Gott die Lebensgabe, die ihn über alle Engel stellt1). Sicherlich war er auch in seiner irdischen Gestalt der Sohn; aber indem er an unsrer Sterblichkeit teilnahm und in den Tod ging, trat er von der Lebensfülle Gottes weg in die Trennung von derselben hinein. Mit seiner Erhöhung wird sie ihm aufs Neue zuteil und setzt ihn nun in den Besitz und Genuss der Sohnschaft Gottes ein. Das war der bestimmte Tag, das „heute“, an welchem er von Gott erzeugt worden ist.

Das Band, das damals gestiftet wurde, wird nicht mehr zerreißen, sondern setzt sich in einem bleibenden, unzerstörbaren Verhältnis der Gemeinschaft fort. Ich werde ihm zum Vater sein und er wird mir zum Sohne sein.“ So steht er nun zu Gott und so Gott zu ihm in Ewigkeit.

Wie ganz anders die Stellung der Engel zu Gott ist, wird uns dann sichtbar werden, wenn Gott den Erstgebornen wieder in die Welt einführen wird, V. 6.

Durch jenes Wort Gottes, das ihn als den Sohn bezeichnete und ins ewige Leben zeugte, wurde Jesus nicht bloß über die Engel erhöht, sondern zugleich von uns Menschen und der Welt getrennt. Dasselbe öffnete ihm Gottes Thron, den himmlischen Sitz. Allein Gott führt den, den er jetzt über die Welt erhöht hat, wieder in dieselbe ein. Warum? Das deutet der neue Name an, den Jesus hier erhält. Während ihn das göttliche Wort: du bist mein Sohn, als den Eingebornen bezeichnet hat, heißt er hier der Erstgeborne. Er ist Gottes einiger Sohn; aber er bleibt nicht einsam, sondern Gott hat ihm Brüder zugeordnet, unter denen er der Erstgeborne ist. Um sich diese Brüder zu erwerben, kam er einst als der, der ihnen gleich geworden ist, in diese Welt, und um ihretwillen führt ihn Gott abermals in dieselbe, weil er an ihnen noch ein Werk Gottes auszurichten hat, das mit seiner ersten Erscheinung noch nicht zur Vollendung kam. Es ist noch Verheißung für sie übrig geblieben und diese bringt ihnen Christus mit seiner neuen Gegenwart. Und dann spricht Gott: es sollen ihn anbeten alle Engel Gottes.

Dieser Zug kehrt immer wieder im Bilde der Verheißung, welche uns Christi siegreiches Regiment darstellt. Dann wird die Scheidewand zwischen Himmel und Erde durchbrochen und die himmlischen Mächte und Geister treten mit der Gemeinde Christi zu einem Reich zusammen, so dass Jesus dann nicht nur Ehre und Dienst von den Menschen, sondern auch von den Engeln empfängt. Steht er am Ziel seines Werks als der Erstgeborne unter seinen vielen Brüdern in königlicher Herrlichkeit, dann beugen sich in seinem Namen auch die Himmlischen und vereinigen sich mit der verklärten Menschheit zu einer einträchtigen Anbetung. Das ergibt dann erst den rechten Gottesdienst.

Damit wird jedoch offenbar, dass der Engel in einem andern Verhältnis zu Gott steht als der Sohn. In jener Beugung vor Christo liegt natürlich keinerlei Abwendung und Entfremdung von Gott. Der Engel verlässt das Lob Gottes nicht, wenn er Christum ehrt. Gott ist's, welcher spricht: ihn sollen sie alle anbeten. Sie ehren Gott in Christo, den Vater im Sohn. Aber eben dies stellt den Unterschied zwischen ihnen und Christus ans Licht. Christus schaut ohne Mittel und Spiegel in die Herrlichkeit Gottes; der Engel schaut sie in Christo. Christus ist zur Einheit mit dem Vater erhoben; der Engel hat in Christo zwar nicht den Versöhner, wie wir Menschen, da an ihm keine Sünde zu bedecken und kein Zorn für ihn zu tragen ist, wohl aber den Mittler, in welchem er Gott erkennt und ehrt, an dem sich seine Anbetung entzündet und durch den sie zu Gott aufwärts steigt. Zwischen den beiden Worten, demjenigen, das sich an Christus richtet: du bist mein Sohn! und demjenigen, das sich an die Engel wendet: betet Christum an! ist ein großer Unterschied, und dieser Unterschied gibt ein Maß für die Erhabenheit Jesu über alles, was im Himmel ist.

Weil ihre Stellung zu Gott verschieden ist, ist es auch ihre Macht und ihr Wirkungskreis, V. 7-12.

Auch den Engeln gibt Gott Macht. Er macht seine Engel zu Winden und seine Diener zur Feuerflamme, V. 7.

Gott legt seinen himmlischen Boten auch Sturm und Blitz und alle Kräfte der Natur in ihre Hand, wie z. B. am Sinai, so dass sie mit denselben ihr Werk ausrichten und in ihnen das Zeichen ihrer Gegenwart haben. Sie dürfen machtvoll in die irdische Natur eingreifen und sie als Werkzeug brauchen zur Ausrichtung ihres Berufs.

Allein alle diese Macht verschwindet neben dem, was dem Sohne übergeben ist. Ihm gehört der Thron, und zwar ein ewiger Thron, und er führt das Zepter des Rechts. Liebe zur Gerechtigkeit und Hass der Ungerechtigkeit sind der Grund und die Regel seines Regiments. Darum hat er allein die Salbung empfangen, die Berufung und Begabung zum königlichen Amt im Heiligen Geist. Christus hat somit einen umfassenden Beruf: sein ist die Verwaltung des göttlichen Rechts, sein die Sache der Gerechtigkeit. In seiner Hand liegt der Sieg über alles Unrecht, die Zurückleitung des Verdorbenen und Verkrümmten in Gottes gerade Bahn. Sein ist die Aufrichtung einer Weltordnung und Weltgestalt, in der die göttliche Gerechtigkeit erscheint und regiert. Dazu hat er ewige und königliche Macht erhalten und der Name Gottes gehört ihm zu. Wo ist nun die wirkliche Größe, die der Bewunderung und Anbetung würdig ist? Was ist alle Macht über die irdische Natur, auch wenn sie Berge beben macht und im Sturm und Blitz sich kund tut, neben Christi Beruf, neben dem Zepter des Rechts in seiner Hand?

Zum Siege der Gerechtigkeit gehört die Erneuerung des Himmels und der Erde, V. 10-12.

Von Christo gilt hierbei: du wirst die Himmel wandeln, aber du bleibst. Was ist daneben die Macht der Engel, auch wenn sie sich so gewaltig äußert wie am Sinai? Solche Macht bleibt innerhalb der irdischen Natur. Christus dagegen steht über der ganzen Welt und ruft sie ins Dasein als der Mittler der Weltschöpfung und macht sie neu als der Mittler der Weltvollendung. Während er selbst an Gottes Ewigkeit teil hat, gibt erst er aller Kreatur und auch dem Himmel seine ewige Gestalt. Er erhebt sie durch die Offenbarung seiner Herrlichkeit zu ihrer Unvergänglichkeit. Denn Ihr Verhältnis zu Gott ist verschieden, darum ist es auch ihre Macht und Tätigkeit, darum weiter auch ihr Verhältnis zu uns Menschen. Mit dem Hinweis auf diesen Unterschied schließt das letzte Wort die Vergleichung der Engel mit Christo ab, V. 13 u. 14. Die Engel sind dienstbare Geister, beschäftigt mit anbetendem Gottesdienst. So oft sich einem Propheten ein Blick nach oben öffnete, sah er die Engel in tiefster Anbetung vor Gott gebeugt. Darum sind sie auch seines Auftrags gewärtig und werden zu mannigfacher Dienstleistung ausgesandt. Und Jesus? Kniet auch er mit verhülltem Angesicht vor Gottes Thron? Ruft auch er, ob auch in ungetrübter Seligkeit, so doch von unten nach oben: heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen?. Nein! an ihn ergeht das Wort Gottes: setze dich zu meiner Rechten! das unausdenkbare Wort, das ihn neben Gott emporstellt und ihm an aller Gottesmacht Anteil gibt. So ist er in die heilige Stille und ungestörte Ruhe eingeführt, die um Gottes Thron waltet, und wird nicht mehr in den Streit hienieden verflochten und nicht mehr zur Arbeit auf Erden ausgesandt. Er kann sagen: es ist vollbracht! und die Krone ist sein, die ihm niemand rauben wird. Denn Christus hat die Zusage Gottes, er selbst werde seine Feinde völlig beugen. Gott nimmt sich der Sache Christi an als seiner eignen Sache und setzt in die Ehre Christi seine Ehre und in die Herrschaft Christi seine Herrschaft. Daher sind Christi Feinde Gottes Feinde und ihr Kampf gegen ihn ein Kampf gegen Gott. Darum führt Gott selbst den Streit mit ihnen und Gottes Macht und Zorn beugen sie in die Ohnmacht und Ergebung unter Christum hinab. Darin dass Gott seinen Namen, seine Ehre, sein Reich von Christi Namen, Ehre und Reich untrennbar macht, liegt die Gewähr und Sicherheit für Jesu Sieg. Mit dem Engel dagegen verhält es sich anders. Er ist nicht das Ziel des göttlichen Werks, sondern ein Glied im großen Schöpfungsganzen, und des Gliedes Amt und Werk ist Dienen. Darin liegt keine Erniedrigung für den Engel, auch wenn sein Dienst den Menschen zugutekommt. Gott dienen ist nur in den Gedanken des zum Stolz verkehrten Menschenherzens eine Schande. Kam doch auch der Sohn selbst, um uns Menschen zu dienen; wie sollte der Engel nicht hierzu willig sein? Und gerade darin, dass er zum Dienst gesendet wird, ist er ja über uns Menschen erhöht. Denn der Ohnmächtige und Arme kann, nicht dienen, sondern nur der, dem Kraft und Reichtum aus Gott verliehen sind. Aber das ist freilich mit diesem Wort gesagt, dass wir nimmermehr um der Engel willen Christum verlassen und versäumen können. Denn was nützte uns die Hilfe des Knechts ohne die Gabe und Gnade des Herrn?

Denen, welche die Seligkeit ererben werden, wird auch die himmlische Welt zu Dienst gestellt. Seht, sagt uns der Brief, ihr verliert, wenn ihr Christum findet, den Dienst der Engel nicht. Hat die alttestamentliche Gemeinde denselben empfangen, ihr noch viel mehr! Sie dienen Gott und eben darum euch, nachdem ihr in Christo zur Seligkeit berufen seid. Mit Christo findet ihr den ganzen Himmel, auch all das, was euch der Engel an Hilfe und Dienst darreichen kann; ohne ihn hilft euch der Engel nichts.

So hoch und herrlich malt uns der Brief mit dem Schriftwort Jesum ab. Aber wie verhält es sich nun mit dem ursprünglichen alttestamentlichen Sinn und Zusammenhang dieser Worte? Sie sind zwiefacher Art. Die eine Reihe derselben, Ps. 2, 7. 2 Sam. 7, 14. Ps. 45, 7. 8. P. 110, 1, hatten zunächst Israels Königtum im Auge. Die großen Namen, welche die Schrift demselben gibt, ergreift unser Brief mit unbegrenztem Vertrauen. Da ist ihm nichts nur Bild, nur poetischer Schmuck und Übertreibung. Er ist überzeugt, dass diese Worte vor Gott gelten nach ihrem höchsten Sinn und ihrer vollen Tragweite. Für jene alten Könige, die einst auf dem Zion saßen, blieben diese Worte allerdings ein Bild, das die Wirklichkeit überstieg, und eine Verheißung, die auf die Zukunft hindeutete. Allein sie haben dieselben auch nicht ihretwegen empfangen, sondern darum, weil ihr Thron Jesu Königtum vorbereitete. Und in Jesus ist die volle Wahrheit zu jenem Bild. So zeigt die Größe und Hoheit der Berufung und Bestimmung, die einst das Königtum Israels empfing, die Herrlichkeit, die Jesus hat.

Die andern Stellen, Ps. 97, 7 und 102, 26-28, reden vom Gotte Israels, wie er in künftiger Offenbarung als Richter und Erlöser seinem Volk und aller Welt sich zeigen wird. Diese verheißene Erscheinung Gottes zur Erlösung seines Volks ist unserm Briefe Christi Offenbarung. Darum sucht er in der Weise, wie die Schrift den als Heiland sich erweisenden Gott beschreibt, Christi Bild, und alle Macht und Herrlichkeit, mit der sie uns die künftige Hilfe Gottes darstellt, ist ihm Jesu Besitz.

Nun leitet der Brief seine Lehre sofort in die Ermahnung über. Er hat Lehre und Ermahnung nicht in zwei getrennte Abschnitte verteilt, sondern die Lehre zuweilen unterbrochen, um uns zu zeigen, wie sie in unser Wollen und Handeln hineinwirken muss. Wir sollen uns nicht nur in unsern Gedanken mit diesen Dingen beschäftigen, sondern sie sollen mit regierender Macht unser Trachten und Handeln durchdringen.

Was folgt nun für uns daraus, dass Christus höher als die Engel ist? Dies, dass wir auf sein Wort achten, 2, 1.

Wir würden mit der Hoheit Christi spielen, wenn wir ihn in den Himmel hinaufhöben, ohne dass dadurch sein Wort für uns stiege in unsrer Achtsamkeit und Wertschätzung. Die Herrlichkeit Christi wird uns darum gezeigt, damit uns sein Wort groß und wichtig werde und unser Eifer entbrenne zu ernstem Gehorsam gegen dasselbe und zu seiner treuen Bewahrung.

Wir sollen in besonderem Maße auf das achten, was wir gehört haben, noch mehr als auf das Gesetz, weil der größer ist, der uns Gottes Wort brachte, als die, welche das Gesetz am Sinai verkündigten. Die Leser würden es sich zur schweren Sünde anrechnen, gegen das Wort des Gesetzes sich aufzulehnen. Das erschiene ihnen als Antastung Gottes, als Widersetzlichkeit gegen ihn, und davor fürchten sie sich. Aber mit dem Evangelium gehen sie leichtfertig um. Das zweifeln und klagen sie an. Das hat kein Gewicht für sie, so dass sie sich dadurch gebunden fühlten. Umgekehrt! Wenn schon über dem Gesetz die göttliche Vergeltung wachte, wie viel mehr hütet sie das Wort, das aus der Majestät Christi zu uns kommt? Da trifft der Widerstand noch direkter und tiefer Gott selbst, und die Missachtung seines Worts wird vollends zur Auflehnung gegen Gott. Wir begehen dieselbe Torheit oft genug. Gewisse sittliche Gebote und Grundsätze grenzt sich mancher Mann als unantastbar ab; hieran will er selbst nicht rütteln, noch andern gestatten, dass sie dieselben in Zweifel ziehen. Aber das Evangelium, Christi Wort, die Anbietung der Gnade und Versöhnung in seinem Tod, die Verheißung des ewigen Lebens in seiner Auferstehung, das rechnet er zu den zweifelhaften Dingen, die nicht binden, zu denen jedermann sich nach seinem Belieben stellt. Umgekehrt, sagt unser Brief! hier hast du vollends ein Wort vor dir, das dir heilig sein. muss, eine göttliche Willenserklärung an dich, der du dich gehorsam zu unterstellen und die du achtsam zu bewahren hast.

Sie haben auf das Wort zu achten, damit sie nicht dahinfahren, nicht fortgerissen werden, 2, 1.

Dieses Wort beleuchtet uns hell die Gefahr unsrer Lage. Wir stehen auch ohne unser Zutun unwillkürlich in einer Bewegung drin, die uns von Christo und seinem Wort abführt, so wie wir uns ihr überlassen, gleichwie ein Strom jeden mit sich nimmt, der nicht schwimmen kann. Es bedarf keines sonderlichen Aufruhrs, keiner absichtlich verübten Unbotmäßigkeit, um zu fallen. Wir brauchen uns nur unsrer Schlaffheit und Trägheit, unsrer Hoffnungslosigkeit und der Unlust unseres Herzens zu überlassen, so werden wir finden, dass das Heil Gottes uns entronnen ist und wir daran vorbei gerissen sind. Aber wir haben ein Mittel, das uns zu festem Stand verhilft, Christi Wort. Wir müssen es wagen, das Wort zu fassen, ans Wort uns zu halten; dann stehen wir fest.

Nicht nur der Bote des Worts, das wir haben, sondern auch sein Inhalt macht die Geringschätzung desselben zur großen Schuld. Eine solche Errettung, so große Hilfe und Gabe verachten wir! An der Hoheit Christi erkennen wir sofort die Herrlichkeit seines Reichs und an der Größe des Gebers die Bedeutung der Gabe. Denn Geber und Gabe lassen sich hier nicht trennen. Er gibt, was er selbst ist und hat, und lässt uns teilnehmen an seinem Gut. Wenn wir aber nicht einmal auf das hören mögen, was uns Christus sagt, so verschmähen wir seine Gabe. Was soll uns dann noch bleiben? Je größer die Güte ist, die sich mit ihrer Gabe zu uns wendet, umso größer ist die Sünde, die in der Verachtung derselben liegt.

Wir haben also aus dem Blick auf die Herrlichkeit Christi zuvörderst dies abzuleiten: fürchte dich vor seinem Wort! Wir werden den Brief immer wieder auf dieses Ziel hinstreben sehen. Er möchte die leichtsinnige Sorglosigkeit zerbrechen und eine tiefe Furcht erwecken, welche die Gefahr vor Augen hat, die mit der Offenbarung der göttlichen Gnade und dem Empfang des göttlichen Wortes untrennbar verbunden ist. Die Art, wie hier das Gesetz und das Evangelium nebeneinander gestellt sind, so dass auch das Evangelium uns zur Furcht bewegen soll, ja noch zu größerer Furcht als das Gesetz, ist uns wahrscheinlich ungewohnt, und der andere Gedanke wird uns näher liegen, dass wir nicht wie die, auf welchen das Gesetz lag, einen knechtischen Geist der Furcht empfangen haben, sondern einen kindlichen Geist voll von Zuversicht und Freudigkeit. Und diese Zuversicht und Freudigkeit eines vollen Glaubens soll in uns ungebrochen und ungeschwächt sein. Da falle kein Schatten und Misston hinein! Aber der Glaube hindert uns nicht, dass wir vor Christi Herrlichkeit tief erschrecken und mit Paulus „die Furcht Christi kennen“, 2 Kor. 5, 11. Und die Furcht hindert uns nicht, die Größe der Erlösung, die uns Christus bringt, zu erkennen, und mit ganzem Verlangen und zuversichtlicher Freude das Wort zu erfassen, das sie uns verkündigt. Vielmehr erzeugt und stärkt hier eins das andere. Das ist die Größe und Wahrheit der Schrift, dass sie nicht nur einzelne Seiten an unserm Geist und Herzen anregt, nicht nur einzelne Triebe weckt und bildet und darob andere verkümmern lässt, sondern den ganzen inneren Menschen mit allen seinen geistigen Gliedern und Kräften heranzieht und ins Leben bringt. Sie zeigt uns nicht nur, wie nahe uns Gott ist, sondern auch wie ferne er uns ist, nicht nur wie gnädig er für uns handelt, sondern auch wie ernst er wider uns steht, nicht nur wie brüderlich sich Christus uns verbindet, sondern auch in welch heiliger Erhabenheit er über uns steht und wie dringlich sein Anspruch an uns ist. Nur dann, wenn wir einen Christus haben, der uns tief innerlich zum Erbeben bringt, haben wir ihn in seiner Macht, Gnade und Wahrheit erkannt. Denn in ihm tritt Gott zu uns heran, und wo Gott nahe ist, da ist uns auch sein Recht und Gericht nahe, und davor fürchte sich der Mensch.

Aber die Leser unsers Briefs sind ja müde und matt. Bedürfen denn die Müden, dass man sie erschreckt? Allerdings! Denn in dieser Mattigkeit im Glauben äußert sich doch nur die Hoffart Israels, welches ungeduldig und dreist nach Gottes Herrlichkeit begehrt und das Reich an sich raffen will. Dieser Übermut endet in Verzagtheit, weil seine Wünsche unerfüllt bleiben. Statt übermütig nach Christi Reich zu begehren, sollen sie sich vor seiner Majestät fürchten lernen; dann ist ihnen innerlich der Weg zum Glauben aufgetan.

Die Achtsamkeit, die wir dem Evangelium schulden, wird durch V. 3 und 4 mit der Sicherheit und Zuverlässigkeit desselben begründet. Wäre das Evangelium eine zweifelhafte Sache, so wäre es erklärlich, wenn wir es geringschätzten. Nun aber ist es wohl beglaubigt und sicher gestellt und deshalb aller Aufmerksamkeit wert. Christus hat den Dienst am Wort auf sich genommen und uns bezeugt, dass Gott uns errettet und selig macht, und seine Botschaft ist als ein festes Wort ohne Schwanken und Unsicherheit zu uns gekommen durch die, welche ihn gehört haben. Er selbst hat die Boten erwählt und unterwiesen, durch welche die Gabe Gottes der ganzen Gemeinde angepriesen worden. ist. Diesem menschlichen Zeugnis trat ein göttliches Zeugnis zur Seite in den Taten wunderbarer Macht, die er seinen Boten gab. Dieselben sollten das Wort nicht ersetzen oder das Herz von ihm abziehen, vielmehr zum Wort hinleiten und die Wahrheit und Wichtigkeit desselben anschaulich machen. Ebenso ist die Austeilung des Heiligen Geists in der Gemeinde ein Siegel Gottes zu seinem Wort. Der Geist wird geteilt, da er keinem mit allen seinen Gaben zuteilwird, sondern die einzelnen Glieder der Gemeinde in bestimmter Richtung in ihrem Leben und Wirken bereichert und erhöht. Diese Gaben werden nicht durch unsern Willen ausgewählt und herbeigeschafft, sondern Gott teilt sie nach seinem Willen aus, und gerade darum, weil sie vom menschlichen Willen unabhängig sind, bilden sie ein göttliches Zeugnis, welches das Wort bekräftigt und uns achtsam auf dasselbe merken heißt.

Der Brief spricht nirgends von Zweifeln an der Wahrheit des apostolischen Worts. Die Gedanken der Leser haben sich noch nicht wider dasselbe gekehrt und seine Wahrheit noch nicht fraglich gemacht. Es war noch um sie her und in ihnen selbst mächtig, so dass sie noch nicht zweifeln konnten, ob wirklich Jesus vom Vater gekommen und wiederum zum Vater gegangen sei. Wohl aber war ihr Verlangen und Hoffen, ihre Lust und Willigkeit am Erlöschen; und ihr Trachten wandte sich von Jesus ab und machte, dass sein Wort für sie seinen Wert und Reiz verlor. Davon wird dann freilich dies zuletzt die Folge sein, dass sich auch die Gedanken in Zweifel und Widerspruch verwirren und sich vom Worte Christi abwenden. Dieser üblen Folge möchte die Erinnerung an die Zeugen vorbeugen, die das Evangelium beglaubigen und sicher stellen. Seither haben sich auch die Gedanken der Kirche zerfasert und zerspalten auf viele Zweifelswege, und das hat unsre Ohnmacht und Ermattung so groß gemacht. Aber auch für unsre groß gewordene Mattigkeit gibt es kein anderes Heilmittel als das, welches uns unsre Stelle nennt, dass wir nämlich auf das Wort achten, das von Jesus selbst und seinen Boten ausgegangen ist. Diese Achtsamkeit, die in Jesu Wort das Evangelium Gottes hört und vernimmt, ist der Weg, auf dem auch ein zerfasertes und zerrissenes Gedankenleben wieder zum Stehen und zur kräftigen Aufrichtung gelangen mag.

1)
Es ist ein ähnlicher Gedanke, wie ihn Paulus im Eingang des Römerbriefs ausspricht, 1, 4.
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