Schlatter, Adolf - 19. Der Glauben an die Bibel

Schlatter, Adolf - 19. Der Glauben an die Bibel

Wir haben es alle vor Augen, daß es gegenwärtig zu unseren ernsten Aufgaben gehört, unsere Stellung zur Schrift klar und fest zu machen.

Erwägen wir, welcher Art der Glaube sei, den wir der Bibel schuldig sind, so muß uns eins vor allem klarbleiben: Der Glaube, den die Bibel in uns pflanzen will, ist nicht eine unbestimmte Bewegung unserer Seele, die nach verschiedenen Zielen und Gegenständen greifen könnte, vielmehr ist unserem Glauben in voller Bestimmtheit und Klarheit ein Gegenstand gegeben: Gott. Der Unglaube im Sinn der Schrift ist die Verneinung Gottes, der Glaube die Bejahung Gottes, des für uns lebendigen Gottes, der uns seine Liebe schenkt. So oft wir in unserem Denken oder Wollen Gott verneinen, ist ein Akt des Unglaubens in uns geschehen; was uns dagegen zur Bejahung Gottes bringt, durch welche wir in unserem Herzen Gott als Gott behandeln und seine Gnade für uns schauen, das hat uns in den Glaubensstand versetzt.

Weil Gottes Liebe zu uns ihren Grund in seinem Sohne hat und an ihm von uns geschaut und durch ihn von uns empfangen wird, darum kann im Blick auf Gottes Gnade der Sohn vom Vater nicht geschieden werden. Mit der Bejahung Gottes ist diejenige Christi verbunden, wie auch der Unglaube darin besteht, daß er mit der Verneinung Christi Gott verneint.

Es darf deswegen nicht jede Verehrung, die wir der Bibel erweisen, und jedes Ja, das wir ihrem Inhalt geben, Glaube heißen, sondern das ist der Glaube, den die Schrift von uns begehrt, daß wir Gott in ihr bejahen. Es kommt darauf an, was wir mit unserem auf die Bibel gerichteten Glauben suchen. Wer in der Schrift Gott sucht, Gott hört, Gottes Gnade schaut, Gott bejaht, der hat wirklich dem Schriftwort Glauben erzeigt. Der Glaube an dieBibelbejaht sie als Gottes gnädiges Wort an uns.

Es ist nicht überflüssig, dieses zu sagen, weil es nicht nur eine ungläubige Verachtung, sondern auch eine ungläubige Verehrung der Bibel gibt und wir die letztere nicht weniger zu meiden haben als die erstere. Eine ungläubige Zuversicht zur Bibel gibt es in derselben Weise, wie es ein gegen Gott ungläubiges Vertrauen auf die Kirche, auf die Sakramente, ja selbst auf Christus gibt, das diese Dinge an Gottes Statt setzt und ihn sich mittels derselben verdeckt. Der Mensch macht sich immer wieder Surrogate für Gott; das ist der Hauptpunkt in der ganzen Religionsgeschichte. Die menschliche Religionsgeschichte ist Bildnerei des Götzen, der an Gottes Stelle gesetzt wird und uns helfen soll, ohne Gott zu leben. Mit Jesu Geburt oder mit der Reformation ist der allgemein menschliche Verlauf der Religionsgeschichte auch für unser Volk nicht aufgehoben. Weil sie sich unter uns in derselben Weise vollzieht wie überall, sind auch unter uns alle Heiligtümer beständig in Gefahr, in ihr Gegenteil verkehrt zu werden dadurch, daß wir sie dazu benützen, um die Frage nach Gott in uns zu ersticken und uns vom Gehorsam gegen Gott zu befreien.

Wenn z. B., wie es in der katholischen Christenheit geschah, ein starker Glaube auf die Kirche gerichtet wird, so liegt darin an sich selbst noch keine Verunreinigung und Verkehrung des Glaubens, solange wir in der Kirche die Dienerin Gottes sehen, die er für sein Wort und Werk benützt und durch deren Dienst er uns zu sich beruft. Wenn wir aber nur noch das begehren, die Kirche für uns zu haben, wenn das unser ganzer Gottesdienst sein soll, daß wir die Kirche ehren, wenn wir der Kirche gehorchen, damit wir Gott nicht zu gehorchen brauchen, so ist unser Glaube an die Kirche Unglaube und Verleugnung Gottes, die ihm seine Ehre nimmt und sie an seiner Statt der Kirche gibt. Genau ebenso verhält es sich mit dem Vertrauen auf das Sakrament. Wir können vom Sakrament nicht zu gläubig denken und reden. Weil es uns Christi Verheißung und Gabe überbringt, bildet es den Grund zu einem vollkommenen Glaubensstand. Wir dürfen in der Tat im Blick auf die Taufe gläubig sprechen: Gott hat uns neugeboren durch seinen Geist, und im Blick auf das Abendmahl dessen gewiß sein, daß Gott unsere ganze Schuld von uns genommen hat. Nur das eine gilt es hierbei zu beachten: E r muß es sein, den wir im Sakrament suchen; seine Verheißung haben wir zu hören, seine Gnade zu begehren, sein Verzeihen für unseren Frieden und für unser Leben zu achten. Wenn wir im Sakrament etwas anderes als Christus suchen und wohl zum Tisch des Herrn kommen, aber nicht zum Herrn, beim Taufwasser unser Heil suchen und nicht bei seinem Geist, vom Blut Jesu unseren Frieden erwarten, aber nicht von ihm, wenn uns das Sakrament ein Heilmittel sein soll neben und ohne den Heilsmittler, den der alleinige Spender alles Heils uns gegeben hat, dann ist auch unsere Zuversicht zum Sakrament ungläubig geworden, weil sie sich mit der Abwendung von Gott vereinigt hat.

Wie man sogar aus der Hoffnung auf Christus einen Unglauben gegen Gott machen kann, zeigt uns in ergreifender Weise Israel mit seiner glühenden Sehnsucht nach dem Christus, mit der es dennoch Jesus das Kreuz bereitet hat. An seiner Hoffnung auf Christus ist Israel verdorben, weil es im Christus nicht Gott suchte, nicht den, der Gottes Namen heiligt, Gottes Reich bringt und Gottes Willen tut, sondern den, der Israels Namen verherrlicht, Israels Reich aufrichtet und Israels Begierden erfüllt. So wurde auch aus der Hoffnung auf Christus ein Unglaube, der für Gottes Tat blind und für Gottes Gnade stumpf geworden ist.

In derselben Weise kann es auch eine ungläubige Verehrung der Bibel geben, die mit der Bibel sich Gott verdeckt. Ihr Merkmal ist, daß sie der verschlossenen Bibel erwiesen wird, nicht der geöffneten, der nichtgelesenen und nichtverstandenen, nicht der gelesenen und verstandenen, weshalb ihr auch der Gehorsam gegen das Schriftwort fehlt. Man kann das Buch hochhalten, weil man nichts anderes von Gott begehrt als das Buch und ihn nicht als lebendige Macht finden will, der unser ganzes Leben unterwürfig wird. So hätten wir zur Bibel Ja und gleichzeitig zu Gott Nein gesagt. Wir sehen nur dann gläubig auf die Schrift, wenn es dazu geschieht, damit durch sie unser Denken und Wollen auf Gott gegründet sei, und Verstand, Herz und Tat von Gott erweckt und regiert werden. Der Glaube, den wir der Schrift schulden, ist ein rechtschaffenes Ja, das sich ehrlich auf den stützt, den uns die Schrift bezeugt, nicht ein krummer Scheinglaube, der mit Ja und Nein zugleich umgeht, ein frommer Glaube, der in Gott den Führer und Regierer unseres Lebens sucht, nicht ein unfrommer, der Gott entrinnen will und sich dazu hinter die Bibel versteckt.

Die Männer der Schrift leben uns die rechte Art des Glaubens an die Bibel vor. „Gottes Gerechtigkeit offenbart sich im Evangelium durch Glauben zum Glauben„, sagt Paulus, „weil geschrieben ist: Der Gerechte wird durch Glauben leben.“ Paulus hat dem, was er in seiner Bibel las, mit einer unbegrenzten Zuversicht vertraut. Daß der Gerechte im Glauben sein Leben haben wird, das ist so, weil es so geschrieben ist. An dieses Wort glaubt Paulus und steht damit im Neuen Testament nicht allein, sondern tut nur, was Jesus auch getan hat, der sich dem, was geschrieben ist, mit willigem Gehorsam und ganzer Zuversicht untergeben hat. Mit diesem ihrem Glauben an das Bibelwort erfassen sie den lebendigen Gott. Es war ein Blick nach Gottes Gnade und nach Gottes Kraft.

Warum bedürfen wir des Bibelwortes, damit wir Gott glauben? In mancherlei Tonart sagt man uns: die Bibel sei ein schlechter Glaubensgrund, es gebe einen viel besseren. Jesu Wirkung gehe ja mit sieghafter Macht durch die Weltgeschichte und breche auch in unserer eigenen Lebensgeschichte hervor. Wer von Christi Macht ergriffen und in dieser oder jener Erfahrung einen Eindruck von seinem Leben empfangen habe, der trage das richtige, unüberwindliche Glaubensmotiv in sich und sei dadurch gegen die Bibel selbständig gestellt.

Gewiß liegt in allem, was von der Wirkung Christi in unser Leben eingeht, ein echtes, kräftiges Glaubensmotiv. Jesus hat selbst sein Wort und sein Werk miteinander verbunden zum einträchtig wirksamen Glaubensgrund, Joh. 10,38; 14, 10ff. Es müßte uns aber besorgt machen, wenn wir die beiden unteilbaren Glaubensmotive voneinander trennen und mitten unter den hohen Reden vom Glauben, von der Macht Christi und der Erfahrung derselben die Geringschätzung des „Wortes sich findet als ein schwarzer Fleck.

Wer anderswo als im Wort sich den vollzureichenden Glaubensgrund verschaffen will, der verkürzt und entstellt sich den Blick zu Gott. Die wirksame Macht, nach der er sich umschaut, ist ohne Zweifel ein wesentliches Merkmal der göttlichen Herrlichkeit, darum auch das Kennzeichen des Sohnes, den er sandte, und des Wortes, das er sprach. Wenn wir aber unser Gottesbild hierauf beschränken, so löschen wir das Höchste und Heiligste in ihm aus. Wir machen uns Gott stumm und verschließen uns damit sein Gottesherz. So ist er nicht mehr der als Person für uns offene und lebendige. Mit dem stummen Gott gibt es keinen „Verkehr“.

Die Macht, die mich gestaltet und aus mir ihr Gebilde schafft, stiftet noch nicht Verkehr zwischen mir und ihr, auch dann nicht, wenn sie an mir inwendig ihre Wirkung übt, mein Denken leitet, mein Wollen begründet und meine Liebe erweckt. Das alles ist noch nicht Verkehr mit Gott. So empfange ich freilich ein Wort, das ihn anspricht; ich bin aber noch allein der Redende. Das ist nicht Verkehr. Nicht das Gespräch mit mir selbst ist Verkehr, sondern sein Gespräch mit mir. Wir sind nicht die zum schweigenden Gott Sprechenden. Vielmehr hebt erst sein Wort das Gespräch unseres Herzens mit ihm an. Weil er geredet und uns zu Hörenden gemacht hat, weil er uns Worte gegeben hat, die die seinigen sind, die er uns übermittelt hat durch seine Boten, dadurch ist uns ein Glaubensstand bereitet, der wirklich „Verkehr mit ihm„ oder nach des Apostels Wort „Gemeinschaft“ mit ihm ist. Daß wir diese Worte als die seinigen erkennen und bejahen, sie in unserem Herzen tragen und in unsern Mund nehmen in Dank, Bitte und Anbetung, das ist das Fundament unseres ganzen Glaubensstandes.

Lösen wir unsern Glauben vom Worte ab, so sinkt unser Gottesbild notwendig, auch wenn wir uns dagegen sträuben, ins Naturhafte hinab. Die Natur ist stumm. Was aber aus dem Geiste stammt, das hat nicht bloß Kraft und Wirkung, sondern zuerst das Wort bei sich. Als den mit dem Geist Gesalbten erweist sich uns Jesus dadurch, daß er durch sein Wort sein Werk an uns vollbringt. Weil Gott durch sein Wort uns faßt und regiert, handelt er mit uns als Geist mit Geist und hebt uns empor über das, was die Natur enthält, und gibt uns Anteil an einer heiligen Geschichte und führt uns zu ihm, dem personhaften Gott, als Person. Darum läßt sich der Glaube vom Wort nicht scheiden, weil er unsere bewußte, personhafte Zuwendung zu Gott sein soll. Wo Geringschätzung des Wortes Christi ist, wird die Frage ernst, ob nicht gerade der freie, personhafte Herd unseres Lebens ihm verschlossen blieb.

Wir müssen beim Glaubensgrund auch auf das achten, was wir selber sind. Die Arbeit, die Christus jetzt an uns tut, vollzieht sich in unserer inwendigen Lebensgestalt. Daß er uns zum Geber des ewigen Lebens auch durch die Verklärung unserer Natur und die Auferweckung unseres Leibes werden wird, gehört als Hoffnung der Zukunft an. Sein gegenwärtiges Werk an uns ist dies, daß er uns zur Weisheit, Gerechtigkeit und Heiligung von Gott her wird. Wir empfangen von ihm die Richtung zu Gott hin, unsere Gewißheit Gottes, unsern guten Willen, unser Einverständnis mit Gottes Willen, unsere Bereitschaft und Fähigkeit zu Gottes Dienst. Unser Inwendiges ist aber nicht ausschließlich Christi Werk, weil nicht unser ganzes geistiges Wesen durch ihn und nach ihm gestaltet ist, so daß wir mit allem, was wir in uns tragen, sein Gebilde und sein Bildnis wären. Ja, wenn in uns nichts anderes wäre, als was uns Christus gab, dann möchte es wohl gelten, daß wir des Wortes zum Glauben nicht mehr bedürften. Strahlte sein Bild in uns in heller Klarheit, so wären wir selbst die Zeugen Gottes und hörten nicht nur aus der Apostel Mund, sondern machten an uns selber offenbar, was Christi Amt und Kraft besagt. Das wird unser Ziel sein, ist jedoch nicht unsere Gegenwart.

Wir sind auch unser eigenes Gebilde, von dem beherrscht, was der Mensch dachte in seiner Geschiedenheit vom erleuchtenden Gott, erfüllt von dem, was der Mensch begehrt in seinem Widerstreit mit Gottes Willen, gestaltet durch das, was der Mensch tat in eigenem Fall. Daher haben wir alle einen kräftigen Antrieb zum Unglauben in uns. Jede Sünde hat den Antrieb zum Unglauben in sich, und dies bleibend, mit fortwirkender Macht. Sie schafft das Bewußtsein der Geschiedenheit von Gott, nötigt uns, uns von Gott wegzuwenden, treibt uns in die Dunkelheit und erweckt den Wunsch, ihn zu vergessen und zu verneinen. Was jeder Lebenslauf in sich schließt, wird in der Vereinigung der vielen zu einem Gesamtleben vollends in großem Maßstab offenbar. Deswegen ist die Geschichte und der Zustand der Kirche auch ein Zweifelsgrund, nicht nur ein Glaubensgrund, auch Beleidigung Christi, nicht nur seine Verherrlichung, auch ein scheinbares Zeugnis gegen Gott, nicht nur die Offenbarung seiner Macht.

Die Frage ist die, wie dem sündigen Menschen der Glaubensgrund bereitet wird, dem, der in sich selbst keinen Grund und kein Recht hat, auf Gott mit Glauben zu sehen, dem, der durch seine eigene Tat in den Unglauben, in den Argwohn, in die Furcht gebunden ist, als in den ihm gebührenden Ort. Die Hilfe bringt uns Gottes Wort. Wir dürfen ihn hören. Die Distanz des Sündigen vom Heiligen wird durch das Wort überwölbt. Es hebt uns weg von dem, was wir selber sind, und hält uns vor, was Gott für uns ist.

„Wir möchten die Macht Gottes erleben; aber das erste, was wir als unsere Bereitung zum Glauben nötig haben, ist Gnade, und die erste Tat der Gnade ist, daß Gott mit uns spricht. Wir hören Gottes Freundlichkeit und Liebe. Deswegen ist die Bejahung seines Wortes das Fundament des Glaubensstandes.

Bekanntlich hat die Predigt der Reformation die Bibel kräftig als Glaubensgrund gebraucht. Was sie dazu bewogen hat, ist leicht erkennbar. Das hängt an der reformatorischen Bußpredigt, an dem tiefen Ernst, mit dem sie das betrachtet und gerichtet hat, was die Bibel „Sünde“ heißt. Wer aus der reformatorischen Glaubensstellung heraustritt, muß auch die reformatorische Bußpredigt umbiegen.

Wer seinen Glauben nur auf Gottes Macht und Werke gründet, des Glauben fährt in die Höhe, wird Erhebung und Sieg, ein hochgehobenes Selbstbewußtsein. Damit steht der Glaube in der Gefahr, als Abschwächung der Reue geübt zu werden. Bleibt er dagegen nach Anleitung der Schrift mit der Buße in lebendiger Einigung, dann ist er zuerst Beugung, Verneinung des eigenen Rechts und der eigenen Macht, Bejahung Gottes gegen uns selbst. Dann können wir aber mit unserem Glauben nicht mehr auf dem stehen, was unser eigener Lebenslauf uns zeigt. Er bedarf eines Grundes, der über unserem Selbstbewußtsein und über unserer Lebensstufe liegt. Einen Standort über dem, was wir selber sind, bereitet uns das Wort. Es macht es uns möglich, auf uns selbst zu verzichten und Gott zu bejahen, unser Unrecht und Gottes Gnade miteinander als wirklich und gültig zu setzen und ein ungebrochenes Ja für seine Gabe zu gewinnen, durch die uns Sündigen und Toten Gerechtigkeit und Leben gegeben ist. Am Wort besitzen wir denjenigen Glaubensgrund, der unsere eigene Erfahrung überragt und darum standhält, auch wenn dieselbe ihm widerspricht. Deswegen ist allein das Wort unser Sieg in aller Anfechtung. Durch das Wort ist uns ein Gottesbewußtsein gegeben, das höher und größer als unser Selbstbewußtsein ist. Deswegen ist die Bejahung des göttlichen Wortes die Wurzel unseres Glaubensstandes.

Wie wir vom Glauben und wie wir von unserer Rechtfertigung denken, hat unter sich innige Berührungen. Auch die Bibel hat daran erinnert, daß in unserer Willigkeit zum Dienste Gottes ein Antrieb zum Vertrauen auf ihn enthalten sei; ebenso hat es die Reformationspredigt ausgesprochen, daß wir, wenn wir Gottes Gebote tun und uns seinem Willen aufrichtig hingeben, darin unsere Zuversicht bewähren und unsern gläubigen Griff nach seinen Verheißungen stärken. Sowie wir aber unseren Glauben hierauf allein begründen wollten, erschweren wir uns die Gewißheit der Rechtfertigung. So würden wir fortwährend mit uns selbst beschäftigt bleiben und unseren Blick in unser eigenes Wesen senken. Wir möchten ja aus unserer Erfahrung den Glauben ziehen, aus dem Zeugnis, das wir uns selber geben dürfen, daß Christi Wirkung in uns sei. Die Höhe der evangelischen Rechtfertigungslehre besteht aber darin, daß sie uns nicht auf unser eigenes Wollen und Handeln warten heißt. Ihre Anweisung lautet nicht: Erst gewinne den Willen zur Gerechtigkeit, dann glaube, daß sie dir gegeben wird; erst liebe du und dann glaube, daß Gottes Liebe dir gehört. Sie richtet vielmehr unseren Blick auf das, was Gottes eigener Wille uns verleiht, auf das, wozu er Christus für uns gemacht hat in vollbrachter Tat. Was Gott und Christus vor uns und über uns sind, das hören wir durch ihr Wort. Und daß wir dieses Wort in uns tragen, und gegen unsere Sünde und unseren Tod dabei bleiben, daß Gottes Wort in Ewigkeit bleibt, das ist unsere Rechtfertigung.

Ist der Glaube an die Bibel somit ein wichtiges und wesentliches Glied des Christenlebens? Wie steht es denn mit jenem Satz, den man ungezählte Male auf allen Seiten, rechts und links, zu hören bekommt: Die wissenschaftliche Betrachtung der Bibel und der Glaube an sie schlössen einander aus? Die Macht dieses Satzes in der Gegenwart ist eine ernste Schwierigkeit, die sich in vielen Beziehungen im Leben der Kirche fühlbar macht, und doch ist es nur ein blinder Satz.

Es wäre eine abergläubische Einbildung, wenn wir von der wissenschaftlichen Arbeit erwarteten, daß sie unserm geistigen Leben neue Funktionen einpflanzte. Wir erhalten von ihr nicht neue Sinne zu denen hinzu, welche die Ausstattung des Menschengeistes bilden. Es handelt sich bei aller Wissenschaft lediglich um die Steigerung und Ausbildung der natürlichen Kräfte, die uns allen gegeben sind. Wir können z. B. unser Sehen methodisch steigern und zur Virtuosität verschärfen. Darauf beruht die Autorität der Naturforscher über uns Laien, daß sie in höherem Maße als wir die „Sehenden„ sind. In ähnlicher Weise gewährt uns die Geschichtswissenschaft eine Schärfung und Erweiterung des Hörens. Was die uns überlieferten Berichte enthalten, wie sie entstanden sind, in welchem Verhältnis sie zum Lauf der Ereignisse stehen, dafür wird uns durch die wissenschaftliche Unterweisung und Übung das Ohr geschärft. Die historische Arbeit an der Bibel kann schlechterdings nichts anders sein als ein intensives Hören auf das, was die Bibel enthält und erkennbar macht; was dem widerspricht, ist auch nicht „Wissenschaft“. Darum kann es auf normale Weise zwischen der historischen Schriftforschung und dem Glauben an dieselbe zu keiner Reibung kommen. Dürfen wir denn das Hören und das Glauben widereinander kehren? Ist denn nicht eben das Hören der den Glauben erweckende Vorgang, wie anderseits wiederum der Glaube uns zum Hören treibt? Es muß somit der Kräftigung des Hörens unmittelbar auch ein gekräftigter Glaubenstrieb entspringen, wie wiederum jedes Wachstum des Glaubens uns zu erneutem und vertieftem Hören bewegt.

Oft ist bei der Schwierigkeit, die hier manchen drückt, eine unrichtige Ängstlichkeit in der Glaubensübung mit wirksam, als dürften wir keine andere Tätigkeit pflegen als das Glauben allein. „Sola„, sagen wir, „allein durch Glauben“, und drücken damit die Geschlossenheit des redlichen Glaubensstandes aus, der in Gott zur vollen Ruhe kam und ganzen Frieden hat und nichts Schwankendes und Bedingtes an sich hat, sondern Gewißheit ist und nach nichts anderem, sondern nur auf den blickt, auf den unser Glaube zielt. Wir wehren damit alles ab, was unseren Glauben spalten und mit ändern Aufgaben vermengen würde und uns dadurch am Glauben hindern wollte. Wir sagen uns: Du darfst Gott ernsthaft trauen und hast im Glauben Gottes Gabe ganz.

Wir sagen aber damit nicht, daß nichts zum Inhalt unseres Lebens gehöre als allein der Glaube, daß wir alle anderen uns übertragenen Aufgaben versäumen wollten und die übrigen Funktionen unseres Geistes, die zusammen mit dem Glauben dessen Glieder bilden, verdorren lassen. Solche Eingriffe in die gesunde und geordnete Bewegung des Geistes führen zu krankhaften Künstlichkeiten und sind eine ernste Gefahr. Angesichts der Wahrheit und Gnade Gottes sollen wir glauben, und dies redlich und ganz; aber es gilt auch, all das zu üben, was Gott sonst noch in den Bereich des menschlichen Geistes legt, und dies ebenso redlich und ernst.

Die historische Forschung in der Bibel unterscheidet sich allerdings vom Glauben sehr bestimmt als eine andersartige Aufgabe. Wir halten in derselben das Bibelwort von uns weg und stellen es in die Vergangenheit zurück an den Ort, an dem es im Verlauf der Geschichte stand. Im Glauben ziehen wir dagegen das Schriftwort an uns heran und verschmelzen es mit dem, was jetzt unser Anliegen bildet. In der Forschung bemühen wir uns, das Bibelwort verstehend zu durchdringen, achten auf die Wurzeln, aus denen es erwachsen ist, messen seinen Gehalt und die Grenzen, wieweit es Geltung und Anwendbarkeit besitzt. Im Glauben öffnen wir unser Herz dem Schriftwort, lassen uns selbst von demselben messen und richten, uns selbst von demselben das Gepräge geben und die Grenzen stecken. Während wir im Begreifen über unserem Gegenstande stehen und uns seiner bemächtigen, sind wir im Glauben unter das Wort gestellt und von ihm ergriffen und ergreifen das, wovon wir ergriffen sind.

Wegen dieses Unterschiedes gibt nicht schon der Glaube allein auch Wissenschaft, und ebensowenig macht die Wissenschaft für sich allein schon gläubig. Brächte uns das Evangelium die Berufung zum Glauben so, daß uns jede andere Tätigkeit verboten wäre, dann gäbe es freilich in der Kirche keine wissenschaftliche Arbeit an der Bibel und den zu derselben Berufenen wäre der Glaube versagt. Aber wie gründlich stritte dieser wilde Gedanke gegen die Schrift. Sie legt die Hand auf den ganzen Menschen. Sie faßt uns nicht bloß als Verstand, aber auch nicht ohne Verstand, bringt uns an Gottes Gabe zur Ruhe, aber auch in Bewegung nach dem Ziele, das sie uns zeigt, macht uns zu Gläubigen, die in ihrem Wort volles Genüge haben und ihm mit festem Ja verbunden sind, macht uns aber auch wie zu Tätern so zu Hörern, zu solchen Hörern, die wirklich hören, so hören, daß sie auch verstehen. Soweit darum die wissenschaftliche Forschung in der Schrift nichts anderes als ein gekräftigtes und entwickeltes Hören ist, steht sie mit dem „Gesetz des Glaubens„ im schönsten Frieden und reicht ihm dienend die Hand.

So, wie wir jetzt die Schwierigkeit betrachteten, läßt sie sich nicht wegheben, sondern ist von Gott in unser Wesen hineingelegt. Sie entsteht aus dem Reichtum unserer Begabung und Berufung, durch welche uns nicht bloß eine einzige Kraft und ein einziges Ziel gegeben sind, sondern eine Mannigfaltigkeit von solchen, so daß wir zwischen ihnen die Einheit und den Frieden zu bewahren haben. Deswegen ist das Problem: „Glaube und Forschung“ unsterblich und tritt mit jeder neuen Wendung des geistigen Lebens neu hervor, genau in derselben Weise, wie die Spannung zwischen „Glaube und Werk„ in jeder Periode der Kirche, auch in jedem Christenleben neu zum Vorschein kommt und eine neue Lösung verlangt. Wir stehen auch vor dieser Aufgabe nie ohne die göttliche Hilfe, die in dem lebendigen Band besteht, das Glauben und Hören zusammenführt. Ist das Schriftwort wirklich gehört, so erweist es sich immer wieder als Glaubensgrund, und ist es nur wirklich Glaube, was in uns lebendig ist, so wendet er uns von künstlichen und unwahren Meinungen ab und gibt uns ein schlichtes Auge und Urteil, ein Stück echter „Wissenschaftlichkeit“.

Allein nicht diejenigen Schwierigkeiten, die Gott in unser Leben gesetzt hat, machen uns unseren Gang schwer, sondern diejenigen, die wir uns selbst bereiten, belasten und erdrücken uns. Auch in der Schriftfrage sind es unsere eigenen trüben Meinungen über die Bibel, die uns am meisten hindern und uns die Glaubensübung stören. Wo die Aufmerksamkeit auf die natürliche Seite des Bibelwortes in der wissenschaftlichen Arbeit überwiegt, ist mancher seichte und blinde Gedanke entstanden, der allerdings die Schätzung des göttlichen Wortes nicht fördert, sondern hemmt, und auf der anderen Seite lösen sich überlieferte Meinungen, die ihren Grund verloren haben, nur langsam auf. Fragen wir uns aber ernsthaft: Zerschneidet und verdunkelt die geschichtliche Betrachtung der Bibel ihren Zusammenhang mit Gott? Hat sie die Kraft gehabt, dieselbe leer und profan zu machen? Ist wirklich sie die Schuldige, wenn wir durch das Schriftwort nicht mehr Gott hören und nicht mehr zum Glauben an dasselbe gelangen, so liegt doch auf solche Frage das Nein auf der Hand. Die moderne Arbeit an der Bibel hat uns das Auge für die Menschen derselben geschärft und für die natürliche Seite an der Geschichte, in der sie stehen, und für die Gesetzmäßigkeit, die auch hier wie im ganzen Kosmos, gilt. Aber die Frage steht nicht so: entweder Gott oder der Mensch, als wäre damit, daß wir den einen finden, der andere verschwunden. In der Schrift steht es nicht so, daß Gott, um selbst zu handeln, den Menschen vernichtet und ihn ins Dunkel setzt, damit sein Licht leuchte; ebensowenig entthronen die Männer der Schrift Gott, um selbst zu gelten. Die Bibel ist nicht das Zeugnis vom ewigen Streit zwischen Gott und uns, bei dem der Tod des einen das Leben des anderen wäre. Sie zeigt uns vielmehr den Gott, der Menschen zu seinem Bilde macht, als sein Werkzeug braucht und zu seinen Boten bestellt, so daß sie sein Wort reden, ja seinen Sohn als das fleischgewordene Wort uns gibt. So zeigt sie uns auch den Menschen, dessen Weisheit darin steht, daß Gott durch ihn spricht, dessen Wille darauf zielt, Gottes Willen zu tun, und dessen Größe darin erscheint, daß Gott durch ihn offenbar wird. Wenn wir über dem Studium des Menschen Gott vergaßen, oder um Gottes Willen uns ängstlich und töricht das Menschliche in der Schrift verdeckten, dann haben wir uns doch nur mit unseren eigenen kleinen und blinden Gedanken das Glauben an das Bibelwort schwergemacht.

Die Bibel baut Gottes Reich, in welchem beide, Gott und der Mensch, im Leben stehen. Sie stellt Gott als Gott empor in seine regierende Obmacht und stellt den Menschen unter ihn, und eben dadurch in die Lebendigkeit. Die Bibel ist Christi Zeugnis, in welchem beides gegenwärtig ist, der wahrhaftige Gott und der wahrhaftige Mensch. Als das Wort ist Gott in ihm gegenwärtig, nicht als eine stumme Kraft, und das Wort fassen wir dadurch, daß wir es hören und hörend den Glauben an das Wort empfangen. So entsteht das Fundament des Glaubensstandes, jenes fröhliche, gewisse Ja zum göttlichen Wort, das zu ihm spricht: Du bleibst in Ewigkeit.

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