Schlatter, Adolf - 15. Die Offenbarung des Johannes
Die Offenbarung des Johannes ist in ihrer Überschrift 1, 1 als die Jesu von Gott für seine Knechte gegebene Enthüllung (Apokalypse) beschrieben. Es sind uns teils die himmlischen Dinge verborgen und ohne göttliche Enthüllung unzugänglich, teils aber auch das, was vor unsern Augen auf Erden geschieht, da uns der Lauf der Geschichte wohl nach seinem äußeren Hergang, aber nicht nach seinem inneren Wesen und nicht nach dem Ziel, zu dem er geleitet wird, wahrnehmbar ist. In allen drei Beziehungen bringt die Offenbarung in das, was uns verhüllt ist, Licht. Sie öffnet uns einen Blick in den Himmel und zeigt, wie das, was auf Erden geschieht, im Himmel anhebt und die Nachwirkung himmlischer Vorgänge ist, wie alles auch wieder in den Himmel zurückwirkt im Lob und Preis der himmlischen Wesen. Wir sollen so Himmel und Erde in ihrem Zusammenhang fassen und die irdische Gesuchte vom himmlischen Standpunkt aus betrachten lernen. Die Offenbarung beleuchtet weiter das menschliche Handeln bis in seinen innersten Grund, so wie es vor Gott ist, und zwar sowohl das Wesen der Gemeinde Christi, Kp. l—3. 7. 12, als das ungöttliche Treiben der Menschen, das Tier und das falsche Lamm, Kap. 13. 17, damit wir die Erscheinung der Geschichte nach ihrem göttlichen oder widergöttlichen Wesen, Ursprung und Ziel erkennen und beurteilen lernen. Und alle diese himmlischen und irdischen Vorgänge, alle diese göttlichen und menschlichen Handlungen sind in ihrem festen Zusammenhang erkennbar gemacht, wie sie alle auf die künftige Offenbarung der vollkommenen Herrlichkeit Gottes an seiner verklärten Gemeinde hinwirken als auf ihr einiges Ziel; so weist das Buch weissagend in die Zukunft hinaus zur Begründung der lebendigen Hoffnung in Christus.
Die Form, in der diese Enthüllungen gegeben werden, ist das Gesicht, d. h. es treten vor die Seele des Johannes Bilder, durch die ihm das Göttliche, Menschliche und Teuflische in den Formen und Figuren der irdischen Natur sichtbar und hörbar wird. Auch diese Weissagung schaut also in einem Spiegel, nicht von Angesicht zu Angesicht, 1. Kor. 13, 12; denn sie führt uns die himmlischen und irdischen, gegenwärtigen und künftigen Dinge nicht in ihrer eigenen Gestalt mit ihrem eigenen Namen, sondern in Abbildungen vor, die der uns bekannten Natur entnommen sind. Daher ist die Offenbarung ein fortgesetztes, ununterbrochenes Gleichnis, ein großes, wunderbares Gedicht, nur daß dabei nicht an willkürliche Spielerei der Phantasie zu denken ist, vielmehr treffen die Bilder, in denen hier die göttlichen Dinge angeschaut sind, das Wesen derselben und erschließen uns ihr Verständnis. Dieses Gedicht ist aus der „Wahrheit und führt in sie. —
Als Mittel, um die göttlichen Dinge zur Darstellung zu bringen, dienen der Offenbarung wesentlich auch die alttestamentliche Weissagung und Geschichte. Sie zitiert kein einziges Wort des Alten Testamentes ausdrücklich, aber sie erinnert beständig an dasselbe und ist von Rückbeziehungen auf dasselbe durchwoben1). Dies ist zum Teil durch den prophetischen Inhalt des Alten Testamentes bedingt. In der Offenbarung ist alle frühere Weissagung zusammengefaßt und zu neuem Reichtum entfaltet, indem sie mit demjenigen Einblick in Gottes Rat verschmolzen wird, den die neutesta-mentliche Gemeinde durch die Sendung Jesu empfangen hat. Zugleich kommt aber in Betracht, daß die alttestamentliche Gestalt des göttlichen Reiches überhaupt einen bildlichen Charakter an sich hat, der mit dem Wesen der Vision in Übereinstimmung steht. Das Geistige ist alttestamentlich in äußere, natürliche Formen und Einrichtungen gefaßt; die wahre Gemeinde Gottes, die es nach Geist und Wahrheit ist, ist in das natürliche Volkstum Israels mit seiner heiligen Stadt eingeschlossen und dadurch sichtbar gemacht; die Gnadengegenwart Gottes hat im Tempel und Altar ihre wahrnehmbare Darstellung. So bieten sich die alttestamentlichen Dinge der Vision als die anschaulichen Zeichen der göttlichen Gedanken dar.
Der bildliche Charakter der Offenbarung bewirkt, daß sie in allen ihren Aussagen der Deutung bedarf. Sie gibt selbst dazu Anleitung, wenn sie sagt: die Leuchter seien Gemeinden, die Sterne ihre Engel, l, 20, die geistlich Sodom und Ägypten genannte Stadt sei die, in der Jesus gekreuzigt wurde, also Jerusalem, 11, 8, die sieben Köpfe, auf denen die Hure sitzt, seien sieben Berge und zugleich sieben Könige, 17,9, wodurch die Hure deutlich auf Rom2) bezogen ist, usf. Auch die Zahlen des Buches, die Siebenzahl (7 Geister Gottes, 7 Gemeinden, 7 Siegel, 7 Posaunen, 7 Zornesschalen), die halbe Siebenzahl (31/2 Jahre oder Tage3), 11,3.9; 13,5), die Zwölfzahl (144000 Auserwählte, 12 Grundsteine und Tore am himmlischen Jerusalem, vgl. 21, 16. 17), die tausend Jahre, 20,2, sind alle symbolisch gedacht. Wir müssen also bei allen Aussagungen der Offen-barung erst hinter ihrem Wortlaut die durch ihn bezeichnete Sache suchen, und darin liegt die Schwierigkeit ihrer Auslegung. Zwei Abwege sind dabei zu vermeiden. Wir dürfen einmal das Bild nicht unmittelbar für die Sache selbst nehmen. Die Offenbarung will z. B. l, 14 nicht sagen, daß Christus in seiner Herrlichkeit schneeweißes Haar habe, sondern sie deutet damit an, daß er, der Ewige, den Strom der Zeit schon längst an sich vorübergehen sah; sie will 11, 9 nicht lehren, daß die Bundeslade im Himmel aufbewahrt sei und in einem künftigen Zeitpunkt sichtbar werde, sondern sie spricht damit aus, daß mit der Vollendung des göttlichen Werkes das innerste Heiligtum Gottes uns erschlossen wird und die Güter seines Bundes uns zugänglich sind und offenstehen; sie meint 21, 16 nicht, daß das neue Jerusalem eine Stadt in Würfelform sei, so hoch als lang und breit, sie weist damit nur auf die Form des Allerheiligsten zurück, das nun in der vollendeten Gemeinde sein vollkommenes Gegenbild erhalten hat, usf. Dabei ist aber der andere Abweg zu vermeiden, daß wir diesen Bildern eine leere, schattenhafte Auflösung geben, so daß uns hinter denselben keine Wirklichkeit bleibt, die in ihnen zur Abbildung gelangt. Es prägen sich in ihnen göttliche Realitäten aus. Wir haben freilich nach 4, 6 keine Tiere vor Gottes Thron zu suchen, aber daß auch die natürliche Schöpfung bis zu Gottes Thron hinaufreicht, und der Chor um denselben her nicht nur aus den Ältesten der erlösten Menschheit, sondern auch aus den obersten Kräften der Natur besteht, das verdeutlicht uns eine mächtige Realität. Wir haben nicht zu erwarten, daß einst Posaunenstöße hörbar die Welt durchschallen, aber deshalb sind dieselben nicht ein leeres Bild; daß die abschließenden Gerichte Gottes nicht ohne sehr bestimmte Mahnzeichen kommen, die einem Posaunenstoß vergleichbar ihre Nähe kundtun, das ist eine ernste Wahrheit. Wir haben nicht zu erwarten, daß diese Mahnzeichen der Zahl nach gerade sieben seien; aber daß Gott in heiliger Vollzahl seine Warnungen gibt, das ist durch seine treue Gerechtigkeit verbürgt. Allerdings ist hierbei die Grenze, die die Auslegung innezuhalten hat, oft schwer bestimmbar. Die Leser und Ausleger der Offenbarung werden sich immer in zwei Gruppen teilen, von denen die eine kühn ihre Zeichen zu entfalten sucht, und in ihrer Deutung durch eingetragene Beziehungen zu viel tut, die andere gegen willkürliche Ausdeutung vorsichtig bei den nächstliegenden Beziehungen auf die apostolische Zeit stehenbleibt und damit die Bedeutsamkeit dieser Bilder nicht erschöpft!
Die Grundwahrheit, die die Offenbarung bezeugen will, ist die, daß Jesus kommt. Damit beginnt sie 1,7 und schließt sie 22,20.
Nicht wann, wohl aber wie er kommt, will sie zeigen. Das ist der Inhalt ihres Hauptteils, Kap. 4—20. Derselbe ist _ umschlossen von einem Gesicht, das den Ausgangspunkt, und von einem solchen, das den Endpunkt des künftigen Werkes Jesu offenbart. Jenes, Kap. 1, 9—3, 22, stellt die Gemeinde dar, wie sie Jesus durch sein erstes Kommen, Sterben und Auferstehen gegründet und erworben hat. Es zeigt die Gegenwart Jesu in seiner Kirche. Dazu werden sieben Gemeinden Kleinasiens ausgewählt, um an ihrer verschiedenen Beschaffenheit zu zeigen, wie Jesus in heiliger Gnade richtend und regierend den Gemeinden nahe ist, wie er über sie urteilt, sie mahnt, straft, lobt und krönt. Es ist dies keineswegs nur ein nebensächlicher Abschnitt der Offenbarung, sondern ein grundlegender Teil derselben. Der Ort, wo Christus sein Werk hat, ist seine Gemeinde; für sie kommt er. Darum wird, ehe die Völkerwelt in ihrem Verhältnis zu Gott dargestellt wird, zu allererst die Stellung Jesu zu seinen Gemeinden aufgedeckt. Das Schlußgesicht Kp. 21 und 22 schaut das ewige Endergebnis des göttlichen Werks, die vollendete Gemeinde im neuen Himmel und der neuen Erde im Bilde des neuen Jerusalems. Aber beide Gesichte, sowohl das, das die gegenwärtige, als das, das die vollendete Gemeinde darstellt, sind relativ kurz gehalten; die Hauptsache ist das, was zwischen beiden in der Mitte liegt und von dieser zu jener überführt, nämlich daß und wie Jesus kommt.
Für den Hauptteil des Buches ist Kap. 4 und 5 das grundlegende Gesicht: das versiegelte Buch des göttlichen Urteils, das sonst niemand entsiegeln kann, wird vom Lamme geöffnet. Johannes sieht also, daß Jesus in Kraft seines Todes den vollkommenen Einblick in den göttlichen Beschluß und seine Ausführung, was beides voneinander nicht trennbar ist, empfängt. In Jesu Hand liegt nun Gottes Werk in der Welt bis zur Vollendung hinaus. In dem Maß, wie Jesus die Siegel des himmlischen Buches löst, schreiten die Ereignisse auf Erden fort, und zwar entspricht der Lösung des Siegels in unmittelbarer Folge die göttliche Tat. Die Öffnung des Buches, Kp. 6, bringt Krieg, Hunger, Tod, Verfolgung der Gemeinde, die ihr Leben opfern muß, und Katastrophen der Natur hervor, die sie in ihrem ganzen Bestand erschüttern. Die Offenbarung wiederholt und bestätigt also, was Jesus weissagend seinen Jüngern auf dem ölberg sagt, Matth. 24. Wie Jesus seine Jünger darauf vorbereitete, daß die Zeit seiner himmlischen Erhöhung einen Charakter haben werde, der ihren Erwartungen widerstreitet, daß sie ihnen noch nicht Frieden, Freude, Herrlichkeit bringen werde, sondern Not, Streit und Leiden, so ist auch für die Offenbarung dies eine Hauptwahrheit, die sie bezeugen will, daß vor der Offenbarung der Herrlichkeit Gottes seine Gerichte stehen; aber der Ruin und die Zerstörung, die sie bewirken, sind nicht eine Schranke und Hinderung des Werkes Christi, vielmehr gerade so kommt der Herr. Jene zeigen an, daß Jesus die Siegel des göttlichen Buches löst, und mitten in denselben bleibt seine Gemeinde in ihrem vollen Bestand ohne Schaden und Verlust bewahrt, ja sie wird zur unzählbaren Schar, Kp. 7. Mit der Öffnung des siebenten Siegels beginnen sieben Posaunenstöße. Die Lösung des letzten Siegels, mit der also das ganze Buch offen ist, scheint die letzte, abschließende Tat Gottes bringen zu müssen. Nun ist allerdings der Posaunenschall die direktere, ausdrücklichere Ankündigung des Endes als die Öffnung der Siegel, aber doch immer noch Vorbereitung. Dem Posaunenstoß im Himmel entspricht auf Erden neue, gesteigerte Not mit immer ausgeprägterem, gerichtlichem Charakter: Erde, Meer, Ströme und Gestirne werden getroffen, Heere von Geistern und Menschen brechen ein, Kp. 8 und 9. Die Offenbarung betont, daß das Ende, auch wenn es unmittelbar bevorstehend scheint, wieder in die Ferne tritt, daß die Not sich häuft und Gericht aus Gericht sich entfaltet; sie ist ein Wort der Geduld, 3, 10. Zwischen die sechste und siebente Posaune ist ein Zwischengesicht eingeschoben, 10, l—11, 14, das den Fall Jerusalems und das Israel nochmals gewährte Zeugnis Gottes zur Darstellung bringt. Im großen Gegensatz der Weltgeschichte — dort die Völkerwelt in ihrer Unkenntnis Gottes, hier die Gemeinde Christi — nimmt Israel eine Zwischenstellung ein, und so wird auch sein Geschick in einem zwischeneingeschobenen Bilde dargestellt. Auch die letzte Posaune bringt das Ende noch nicht. Wie sich die sieben Posaunenstöße zur Öffnung des letzten Siegels verhalten, so schließt sich an die letzte Posaune die Ausgießung von sieben Zornesschalen auf die Erde. Indem der Zorn Gottes wirksam auf die Erde niederströmt, ist das Ende näher als bei den dasselbe ankündigenden Posaunen, aber die letzte vollendete Tat Gottes ist auch dies noch nicht; es ist ja noch Zorn, nicht Gnade und Herrlichkeit. Ehe aber der infolge der letzten Posaune wirksam werdende Zorn Gottes dargestellt wird, wird der Zustand der Dinge auf Erden beschrieben und so erklärt, warum der Zorn Gottes an ihr sich betätigen muß: zuerst das Weib, das den Christus geboren hat, und darum vom Drachen verfolgt, von Gott aber gerettet wird, Kp. 12, die Gemeinde Gottes in der Einheit des alt- und neutestamentlichen Gottesvolkes,, sodann das Tier, Kap. 13, die Gott entfremdete, brutale Menschenmacht, wobei, wie Kp. 17 zeigt, zunächst an das durch Babylon bezeichnete Rom gedacht ist. Die römische Weltherrschaft war die der apostolischen Zeit gegenwärtige und großartigste Ausgestaltung der Menschenkraft in ihrer gottlosen, gegen Christus kämpfenden, das Tier hervorkehrenden Richtung. Ober das Haupt, in dem sie sich zusammenfaßt, vgl. den Artikel Widerchrist im Calwer Bibellexikon. Dem Raubtier zur Seite steht ein dem Lamme ähnliches Tier, das aber wie der Drache spricht, die falsche, göttlich gefärbte und teuflisch. geartete Geistesmacht, die nicht Freiheit von der Anbetung des Tieres ist, sondern ihrerseits dem Raubtier dient. Als Gegensatz dazu zeigt Kp. 14 das wahre Lamm und seine Gemeinde um dasselbe her. Jenen ungöttlichen Gebilden der Geschichte gilt Gottes Zorn, und ihren Abschluß finden seine Gerichte im siegreichen Kommen Christi, 19,11. Daran schließt sich sein königliches Walten mit seiner aus dem Tode erhöhten Gemeinde als Übergang zur vollendeten Weltgestalt. Die Offenbarung deutet aber an, daß auch dieser Übergang sich wieder in einer Krisis durch einen satanisch erregten Kampf vollzieht. So endigt das Buch in Ausblick auf die in Einigung des Himmels und der Erde neu gebildete Welt, aus dem nun die Schlußbitte: „Komm, Herr Jesu“ ihre volle Kraft gewinnt.
Über die Person des Johannes, der der Empfänger dieser Offenbarung war und dieselbe zunächst den sieben kleinasiatischen Gemeinden schriftlich übermittelte, ging die herrschende Ansicht der alten Kirche dahin, daß er der Apostel, der Verfasser des vierten Evangeliums sei. Auf diesen weist auch die spätere Überschrift: Offenbarung Johannes, des Theologen. Theologe, der, der über Gottes Wesen Belehrung gibt, heißt er nicht um der Offenbarung willen, sondern mit Bezug auf den Eingang zum Evangelium. Man hat zwar, veranlaßt durch die eigentümliche sprachliche Färbung, welche die Offenbarung hat, und zugleich durch Unterschiede im geistigen Charakter der beiden Schriften in alter und neuer Zeit zum Teil bezweifelt, ob wirklich beide Schriften vom Apostel Johannes herrühren. Allein diese Unterschiede zwischen beiden Schriften sind von einer starken geistigen Einheit getragen. In sprachlicher Hinsicht teilt das Evangelium mit der Offenbarung die energische Anpassung des Griechischen an die hebräische Gedankenform4). Dies tritt allerdings in der Offenbarung noch greller hervor, sie ist völlig hebräisch gedacht; aber auch das Evangelium nimmt aus der griechischen Rede nur das auf, was unmittelbar Wiedergabe hebräischer Begriffe und Gedankenverknüpfungen ist. Sagt man, es sei schwer denkbar, daß der Apostel der Liebe zugleich der Empfänger dieser Gesichte sei, die den Zorn Gottes in steigenden Strömen sich auf die Erde ergießen sehen, so wird nicht erwogen, daß die Liebe Gottes im Evangelium zur Finsternis der Welt in unversöhnlichem Gegensatz steht. Auch das Evangelium scheidet mit durchdringender Schärfe zwischen Licht und Finsternis, Wahrheit und Lüge, Gottes Kindern und des Teufels Kindern, und zwischen beiden gibt es keine Vermittlung; über diesen bleibt Gottes Zorn, und sie erfahren ihn dadurch, daß sie in ihren Sünden sterben. Andererseits ist auch in der Offenbarung aller Zorneserguß nur dienendes Werkzeug für die Auswirkung der gebenden, schaffenden Gnade. Neben der vernichteten Hure und dem ins Feuer geworfenen Tier steht die Gemeinde als die von Gott geliebte, begabt mit Christi Herrlichkeit und aller Güter Gottes teilhaft. Das Urteil, die Offenbarung denke sinnlich, das Evangelium geistig, ist nur dann möglich, wenn durch eine grobsinnliche Deutung der Offenbarung die Kraft des durchdringenden Tiefblicks übersehen wird, die ihre Bilder gestaltet; andererseits verleugnet auch das Evangelium die dichterische Plastik, die in der Offenbarung sich äußert, nicht; es besteht ganz ähnlich wie die Offenbarung aus einer Reihe einzelner Bilder, die in wenigen Zügen, aber in vollendeter Anschaulichkeit die Fülle Jesu sichtbar machen, und auch hier verweilt Johannes gern bei der inneren Bedeutsamkeit der einzelnen äußeren Ereignisse, die ihnen einen symbolischen Charakter gibt. Es besteht darum kein durchschlagender Grund, der das Urteil jener Männer, die die neutestamentlichen Schriften sammelten und zum Neuen Testament vereinigten, als irrtümlich erwiese.
Über die Zeit, in die die Offenbarung fällt, bestehen zwei Ansichten. Die ältere, die sich an den Bericht alter Lehrer der Kirche (Irenäus) anschließt, verlegt sie in die Zeit Domitians (|96); andere denken mit Beziehung auf die Weise, wie 11, 1 ff. von der Herrschaft der Heiden über Jerusalem geredet wird, und mit Beziehung auf die sieben Könige Babylons (Roms), an die Zeit kurz vor der Zerstörung Jerusalems, entweder an das Jahr 68 oder 69.
Als Ort, wo die Offenbarung geschaut wurde, ist 1, 9 das kleine Inselchen Patmos an der Küste Kleinasiens, südwestlich der Insel Samos, im Ägäischen Meer, genannt. Johannes sagt, er sei dort gewesen um des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu willen. Wahrcheinlich hat die alte Überlieferung recht, die dies so verstand, daß der Prokonsul von Ephesus in einer aufgeregten Zeit Johannes zwangsweise nach Patmos gebracht habe, um ihm die Wirksamkeit unmöglich zu machen. In den Kriegsjahren, als der Haß der Griechen gegen die Juden leicht auch die jüdischen Christen traf, so wie sie öffentlich hervortraten, ist dies nicht denkbar. So spricht Johannes ja auch 20,4; 6,9 von solchen, die wegen des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu enthauptet worden sind. Die andere Deutung geht von der Überschrift des Buches l, 2 aus, in der Johannes die ihm gewährte Offenbarung Gottes Wort und das Zeugnis Jesu nennt. Dann würde er sagen, daß er, um die Offenbarung zu empfangen, vom Herrn nach Patmos gesandt worden sei. Ist die Offenbarung kurz vor der Zerstörung Jerusalems geschrieben, so läßt sich unschwer erkennen, welche Stärkung sie den Gemeinden in ihrer damaligen Lage bot. Sie hatten die neronische Verfolgung hinter sich, die erschütternden Ereignisse in Judäa vor sich, wo die heidnische Weltmacht die alte Gemeinde Gottes niedertrat, dasselbe Rom, das auch mit der christlichen Gemeinde einen blutigen Kampf begonnen hatte. Ringsum war Not, Ruin, Gericht. Da durfte Johannes den Gemeinden diesen Triumphgesang senden, der mitten in der Darstellung der Gerichte etwas vom himmlischen Siegeslied hörbar machte. Sie hat aber, wie alles „Wort Gottes, eine unvergängliche Wichtigkeit, so gewiß es keine wahrhaftige Hoffnung gibt als die auf Jesu Gegenwart und Königtum gerichtete. Ihre bleibende Bedeutung für die Kirche aller Zeiten besteht aber nicht darin, daß sie uns die Zukunft voraus erkennen ließe. Die vielen verkehrten Deutungen derselben haben hinlänglich gezeigt, daß sie das weder kann noch will. Wohl aber setzt sie die Kirche aller Zeiten instand, die Ereignisse, so wie sie geschehen, zu beurteilen nach ihrem Grund und Ziel und zu erkennen, daß, wenn der Feigenbaum ausschlägt, der Frühling kommt, Mark. 13, 28. Wenn die Kirche sie neugierig liest, als müßten ihr alle Geheimnisse Gottes offenstehen, verwandelt sie die Weissagung in törichte Träume; wenn sie sie aber um der Hoffnung willen liest, die nach Gottes Reich verlangt, öffnet ihr die Offenbarung das Auge für Jesu Herrlichkeit und Gottes Gnade und Gerechtigkeit
Der Zusammenhang der Weissagung des Johannes mit der Geschichte der Christenheit, ein Schlüssel zum Verständnis der Offenbarung des Johannes
Auch die neutestamentliche Weissagung hat ihre Wurzeln in der Geschichte und schwebt nicht als eine zeitlose Erkenntnis über dem, was der Prophet erlebte. Sie zeigte der Christenheit in dem, was in ihrer Mitte und vor ihren Augen geschah, Gottes Hand. Erwägen wir, welche Jahre im Leben des Johannes mit gewaltigen Ereignissen gefüllt waren, die den verlangenden Blick mit Wucht auf das Kommende richteten, dann sind an der ersten Stelle die Jahre 66 bis 70 zu nennen, jene stürmisch bewegten Jahre, in denen die palästinische Judenschaft um ihre Befreiung rang und die Gewaltherrschaft Roms zu zerbrechen suchte5). Als sie in Jerusalem nicht nur beteten: „Herr, mach uns frei!“, sondern Gut und Blut, die Existenz des Volkes, der Stadt und des Tempels dafür einsetzten, in die Freiheit durchzubrechen, stützten sie sich nicht auf die eigene Volkskraft und den Erfolg ihrer Waffen. Keiner der Kämpfenden täuschte sich darüber, daß nach dem menschlichen Maßstab der Sieg unerreichbar war und ihnen nur durch eine göttliche Wundertat zuteil werden konnte. Darum bekam die Erwartung: das Ende ist da; Gottes Reich beginnt, und der Christus kommt, während des Kampfes die größte Stärkung. Wenn aber Jerusalem mit todesmutiger Zuversicht sagte, daß Gott nun den Christus sende, so blieb davon die Christenheit nicht unberührt. Auch sie schaute mit starkem Verlangen aus nach dem kommenden Herrn, und sie kannte den, der kommen wird. Die jüdische Hoffnung verwarf sie als Verblendung und gründete ihre Hoffnung auf die Verheißung Jesu. Weil aber in dieser Lage der Blick aller auf den Kommenden gerichtet war und allen die Frage mit erschütterndem Ernst in der Seele lag, ob er jetzt komme, darum wurde Johannes im Geist der Blick in den Himmel gewährt, und was er dort sah, das war der zum Gericht bereitete göttliche Thron und das noch mit Siegeln verschlossene göttliche Urteil, das jetzt geöffnet wird von dem, den die Judenschaft verworfen und getötet hatte, vom geschlachteten Lamm.
Den Grund zu der Hoffnung, mit der Jerusalem gegen Rom anstürmte, fand es in der Weissagung. Nie ist Daniel so begierig gelesen worden wie in dieser Zeit, nie so eifrig erörtert worden, auf wen das letzte Tier, das Daniel beschrieben hat, zu deuten sei. Machten es nicht die Ereignisse, als die Legionen gegen die heilige Stadt heranmarschierten, völlig klar, daß das Kaisertum das Tier sei, das die heilige Stadt und den Tempel verderben wolle? Konnte man noch zweifeln, wo sich jetzt Babylon befinde, das seine Heere gegen Jerusalem führte und den Tempel verbrannte? Auf das Wüten des Raubtiers folgte aber bei Daniel die Ankunft des Menschensohnes, der am Tier das göttliche Gericht vollziehen wird. Ebenso eifrig wie die Judenschaft durchforschte die Christenheit in jenen Jahren das prophetische Wort, und auch sie verweilte bei dem, was Daniel über den Ausgang der menschlichen Geschichte gesagt hatte, und ihre eigene Erfahrung bestätigte das jüdische Urteil. Auch sie war von Jesus als seine Streiterschar auf den Kampfplatz gegen das Kaisertum gestellt, nicht mit den Waffen, sondern nach der Regel Jesu als die, die zum Leiden und Sterben bereit waren, weil sie unfähig waren, sich anbetend vor dem Bild des Kaisers zu beugen und den menschlichen Machtwillen zu verehren, der sich die Herrschaft über die Menschheit anmaßte. Um sie darin zu bestärken, zeigte ihr Johannes das Lamm, dem die Christenheit nachfolgt, und das Tier, das sich der Herrschaft des Lammes widersetzt.
Mit heißem Zorn verabscheuten die jüdischen Kämpfer die, die von der Pracht und Lust der Weltstadt begeistert waren. Was hatten diese Romfahrer, die an den kaiserlichen Hof zogen, von dort heimgebracht? Gottlos, von wilden Lüsten verwüstet und siech kamen sie aus Rom zurück. Johannes trat diesem Urteil bei. Rom war die Dirne, die alle Völker verdarb.
Der Sturz des bisher regierenden kaiserlichen Geschlechtes durch den Untergang Neros im Sommer 68 erschütterte die ganze von Rom beherrschte Welt. Nun schien das eingetreten zu sein, was jedermann für unmöglich hielt, der Zusammenbruch des römischen Staats. Das stärkte mächtig den auf den Sieg hoffenden Trotz der Kämpfenden. Gegen die berauschende Macht dieser Hoffnung hat Johannes die Christenheit geschützt. Was bisher in Rom geschah, ist noch nicht der höchste Gipfel der menschlichen Sünde, noch nicht ihr zum Gericht reifes Ende. Das zum Tod verwundete Haupt des Tiers wird wieder lebendig werden, und der große Kampf, der die Entscheidung bringen wird, steht noch bevor6).
Aus der Deutung der biblischen Weissagung entstand bei den in Palästina Kämpf enden neue Weissagung, und das Auftreten der neuen Propheten, die mit den Kämpfenden Hand in Hand gingen, war eine wirksame Ursache für die unbeugsame Entschlossenheit, mit der sich Jerusalem in den Abgrund stürzte. Für diesen „Geist„ des trotzigen Aufruhrs war das Ohr der Christenheit verschlossen. Um so mehr war sie bereit, auf den Geist zu hören, der durch den Boten Jesu zu ihr sprach. Auch er sprach vom Kampf, aber nicht vom Krieg Vespa-sians gegen Jerusalem, sondern von dem ungleich größeren Kampf, dessen Schauplatz die Menschheit ist, mit dem sich der sich selbst vergottende Mensch der Herrschaft des himmlischen Herrn widersetzt, und die Beschreibung dieses Kampfes wird bei Johannes zur frohlok-kenden Siegesfeier. Die kräftige Gemeinsamkeit, die zwischen der Weissagung des Johannes und der jüdischen Prophetie besteht, zeigt sich auch in ihrer Form. Denn die Offenbarung Jesu geschah für Johannes durch ein „Gesicht“, und darin gleicht sie der damaligen jüdischen Weissagung. Das Urteil der Judenschaft über die prophetische Erleuchtung lautete: Der Prophet hat am göttlichen Wissen Anteil, und dieses ist unbeschränkt und ordnet alles, was geschehen wird, jedoch es bleibt ein unaufhebbarer Unterschied bestehen, der die prophetische Erkenntnis von der göttlichen Vorbestimmung verschieden macht. Gottes Blick sieht die Dinge, wie sie sind; der Prophet dagegen sieht sie, wie auch Paulus sagte, in einem „Spiegel„. Denn die himmlischen und die zukünftigen Dinge erscheinen ihm in irdischer Gestalt, die er aus dem herholt, was schon gegenwärtig ist. Diesen Charakter hat auch die Weissagung des Johannes. Sie gibt für alles, was sie verkündigt, ob sie himmlische oder irdische Ereignisse beschreibt und von göttlichen oder von den menschlichen und teuflischen Werken redet, ein Gleichnis. Im Entwerfen dieser Gleichnisse wurde das dichtende Vermögen der Propheten wirksam, und Johannes besaß es in hohem Maße. Hier war aber das dichtende Vermögen nicht bloß ein willkürliches Spiel der Phantasie. So kennen wir die Dichtung durch unsere Poeten, die nur dann Gestalten zu schaffen vermögen, wenn die natürlichen Triebe ihrer Seele erregt und oft genug zu sündlicher Wildheit entzündet sind. Hier diente dagegen das Gestalten schaffende Vermögen demjenigen Verlangen, das nach Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit trachtet, und dieses Verlangen wurzelte in Gottes vollbrachtem Werk, im erkannten Christus und in seiner gegenwärtigen Gnade, die sich an seiner Gemeinde offenbart. Das trug in die Gleichnisse, die das Gesicht des Propheten bildeten, Wahrheit hinein.
In den Jahren, während deren der Kampf in Palästina tobte, hing der Blick aller, der Judenschaft und der Christenheit, unverwandt am Schicksal des Tempels, teils mit der triumphierenden Zuversicht, daß Gottes Haus unzerstörbar sei und seine Heiligkeit jetzt dadurch herrlich offenbar werde, daß die Römer es vergebens bestürmen, teils mit banger Angst, da auch in der Judenschaft die Erwartung befestigt war, daß der kommenden Herrlichkeit die Zeit der schwersten Versuchung und bittersten Not vorangehe. Für die Christenheit verband sich die nahende Zerstörung des Tempels mit jenen Worten Jesu, die seine Verwüstung zu den Zeichen rechnen, die seine kommende Offenbarung bezeugen. Darum erhielt auch Johannes im Gesicht die Weisung, den Tempel zu messen und dadurch die Grenze zwischen dem, was vom Tempel bleibt, und dem, was von ihm vergeht, zu ziehen. Gottes Haus, der Altar und die dort Anbetenden bleiben; weggetan wird dagegen der Hof, in dem sich die Judenschaft versammelte; über ihn bekommt der Widerchrist 7) die Macht. Damit reinigte Johannes die Hoffnung derer, die auf die Unzerstörbarkeit des Tempels pochten. Gottes Haus steht freilich unter seinem allmächtigen Schutz; aber der Ort, an dem er wohnt und offenbar wird, ist nicht das Gebäude in Jerusalem. Die Christenheit wußte, wo Gott sich das lebendige Haus, die Stätte seiner Gegenwart und Gnade, erbaut hatte, und dieses Haus Gottes sagt, Johannes, geht nicht unter, auch wenn der Tempel Jerusalems einstürzt.
Am Schicksal des Tempels hing das der heiligen Stadt. Schon mit dem Beginn des Kampfes gab es in Jerusalem für die Christenheit keinen Raum mehr. Sowie die Macht der römischen Beamten zusammengebrochen war, war für die christlichen Gemeinden jeder Schutz verloren. Sie mußten das Land verlassen, und wer nicht fliehen konnte, kam um. Wird das göttliche Wort nun für immer in Jerusalem verstummt sein? Johannes weissagt, daß es ihm noch nicht endgültig entzogen sei. Zwar ein Apostel kann dort nicht mehr verweilen, und das Evangelium kann der Stadt nicht mehr gesagt werden; aber es werden ihr noch zwei Zeugen gegeben werden, die gegen den jüdischen Zorn wie Mose und Ella durch die Vollmacht zum strafenden Wunder geschützt sind. Auch ihnen wird aber Jerusalem denselben Ausgang bereiten, den es Jesus bereitet hat. Von diesem Jerusalem, das gottlos geworden, dem Widerchrist gehorcht und darum unter den göttlichen Gerichten steht, zieht Johannes die Hoffnung der Christenheit gänzlich weg. Er hebt sie vom irdischen zum himmlischen Jerusalem empor. Auf dem himmlischen Zion steht das Lamm mit seiner Schar, und das Ziel der göttlichen Gnade wird dadurch offenbar, daß die vom Christus gesammelte und geheiligte Gemeinde im himmlischen Jerusalem ihre Wohnung erhält.
Dachten die Kämpfenden an die Möglichkeit, daß dennoch trotz ihrer Hoffnung die Römer siegen, so richteten sie ihren Blick auf die Wüste, in der Gott der Gemeinde den Bergungsort in der Zeit der großen Versuchung bereiten werde. Darum spricht auch Johannes von der Wüste, in die die mit dem himmlischen Schmuck bekleidete Gemeinde, deren Beruf war, den Christus zu gebären, gerettet wird, und diese Verheißung bekommt bei ihm die verstärkte Bedeutung, weil er nicht vom Kampf in Palästina spricht, sondern den Gemeinden den zeigt, der die Welt beherrscht und Jesus bekämpft. Aber auch in diesem letzten, schwersten Kampf gibt es für die zu Jesus sich Bekennenden einen Zufluchtsort, an dem der Zorn des Satans sie nicht erreicht.
Die in Jerusalem Kämpfenden brauchten einen Mann, der sie zu führen verstand, und sie fanden im Anfang des Kampfes einen solchen. Eines der Häupter der Kämpfenden zog als der König des jetzt befreiten Jerusalems in den Tempel ein. Aber der böse Zank im Volk brachte ihm sofort den Tod, da die Priester die Herrschaft für sich begehrten. Grollend, mit unversöhnlichem Haß von ihrem Volk geschieden, zogen sich seine Anhänger in die Burgen in der Wüste zurück. Durch diese Ereignisse wurde die Christenheit wieder lebhaft an das erinnert, was nach dem Einzug Jesu in Jerusalem geschehen war, und auch Johannes stellte das christliche Gegenbild neben diese Vorgänge. Als das Knäblein geboren ward, um dessentwillen die Gemeinde den himmlischen Schmuck trägt, bereitete ihm der Satan den Tod. Bei Jesus geschah dies aber nicht umsonst und war kein Unglück, das die Gemeinde beklagen dürfte. Denn weil er zu Gott entrückt ist, wurde dem Verkläger der Himmel verschlossen, und wenn er auch noch auf der Erde die Gemeinde verfolgen kann, so ist sie doch vor Gott aller Anklage frei gemacht.
Nicht nur in Palästina floß während der Kriegsjahre ein Blutstrom, sondern auch in manchen griechischen Städten wurden die jüdischen Gemeinden durch schreckliche Judenmorde vernichtet. War nicht durch den Kampf, wenn der Sieg den Römern zufiel, die Existenz der ganzen Judenschaft gefährdet? Auch dieser Frage, die durch den Blick auf den letzten Kampf vollends tiefen Ernst bekam, gab Johannes die Antwort. Es gibt ein Israel, das Gottes Siegel empfängt, und dieses Israel ist gezählt und in völligem Gleichmaß aus den zwölf Stämmen aufgebaut. Keiner, der zu ihm gehört, wird fehlen, weil keine Hand stark genug ist, um das Siegel Gottes zu brechen.
Gerade dadurch, daß Johannes auf die Fragen antwortete, die stürmisch die Judenschaft erschütterten und deshalb auch die Christenheit bewegten, hat er die Verschiedenheit des Evangeliums vom Judentum und des Glaubens an Jesus von der jüdischen Frömmigkeit ins helle Licht gestellt und die Gemeinde Jesu in ihrem Bekenntnis fest gemacht. Er macht ihr Sehfeld weit, unvergleichlich weiter als das des Juden; denn er richtet ihren Blick auf die Welt, nicht bloß auf Palästina, auf die Menschheit, nicht nur auf die Judenschaft, und verlangt von ihr den Einsatz des Lebens nicht für einen bloß zeitlichen Gewinn, sondern zeigt ihr das Ziel im ewigen Gut. Darum bangt und hofft er nicht für das irdische Jerusalem, sondern schaut das himmlische, hat auch nichts mit Kriegsrüstung und Schwertgebrauch gemein, sondern rüstet die Christenheit zum freudigen Sterben. Seine Hoffnung hat ihren Grund nicht im Aufgebot der Volkskraft und der Opferwilligkeit derer, die Gott allein dienen wollten, auch nicht in den Leistungen der Christenheit, etwa in ihrem missionierenden Eifer und Erfolg; er kennt nur einen, der das wilde Tier und den Drachen überwindet, das Lamm, und hofft einzig auf das königliche Wirken Jesu in seiner neuen Offenbarung. Dadurch half er der Christenheit dazu, daß sie die Kriegsjahre nicht nur ohne Schaden überstand, sondern am Glauben wuchs und an Kraft gewann. Denn er machte ihr auch in diesen dunklen Jahren das Loblied vernehmbar, mit dem die Himmlischen die Herrschaft Gottes anbeten.
Damit, daß der innere Zusammenhang zwischen der Weissagung des Johannes und den Ereignissen, die Jerusalem die Zerstörung und dem Kaisertum die neue Befestigung brachten, unverkennbar ist, ist freilich nicht sofort auch die chronologische Gleichzeitigkeit gesichert. Im zweiten Jahrhundert finden wir in der Kirche von Ephesus die Meinung, Johannes habe erst in den letzten Jahren seines Lebens diesen Weckruf geschrieben, der der Christenheit noch einmal ihr ursprüngliches Ziel, Gottes Verherrlichung an der ganzen Welt durch die königliche Wirksamkeit des Christus, vorhielt. Die Schlüsse, die zu dieser Datierung der Weissagung führten, waren aber schwerlich auf richtige Erwägungen gestellt. Richtiger wird es sein, wenn wir die Weissagung nicht nur sachlich, sondern auch zeitlich neben die Ereignisse stellen, von denen sie spricht, nicht in die Zeit, als der Tempel längst verbrannt und die Erschütterung des Kaisertums durch den Sturz des ersten Kaisergeschlechts längst wieder beseitigt war, und auch das sechste und siebte Haupt des Tieres bereits gestorben waren, sondern in die Zeit, in der diese Ereignisse die Christenheit bewegten und Beleuchtung durch den Geist der Weissagung bedurften. Verlief die Geschichte des Johannes so, dann hat er, nachdem ihm nach den Kriegsjahren vom Prokonsul von Ephesus die Heimkehr von der Insel Patmos bewilligt war, noch lange Jahre in Ephesus gewirkt, somit erlebt, daß sich seine Botschaft von der Nähe des Herrn nicht so erfüllt hat, wie er sie auf Patmos ausgesprochen hat. Warum diese Erkenntnis, die sowohl für ihn selbst als für die Kirche hochbedeutsam war, seine Hoffnung nicht erkältet und seinen Glauben an Jesus nicht erschüttert hat, sagte er der Kirche mit dem letzten Wort seines Evangeliums8). In der Kirche entstand die Hoffnung, daß der Herr ihm deshalb nicht das Martyrium, sondern die lange Lebens- und Arbeitszeit zugeteilt habe, weil er die Wiederkunft Jesu noch erleben solle. Darum erzählt Johannes, welches Wort des Auferstandenen den Anlaß zu dieser Erwartung gab, und hebt hervor, daß der Herr sich selbst dieVerfügung über ihn vorbehalten habe, ohne daß sein Wille vom Jünger voraus bestimmt werden könne. Damit löste er sich von jener Hoffnung, von der die Brüder annahmen, sie sei ihm von Jesus selbst gegeben, indem er an ihre Stelle den stillen Gehorsam gegen den göttlichen Willen setzte. Ebenso, wie Johannes selbst in seinen späteren Jahren seine Weissagung las, soll sie auch die Kirche lesen, nämlich so, daß sie ihr in der Verherrlichung Gottes durch Jesus das leuchtende Ziel zeigt, dem sie im Gehorsam des Glaubens ohne Unruhe und rein von trotziger Forderung entgegengeht.