Schlatter, Adolf - 10. Die Einheit Jesu mit der Schrift

Schlatter, Adolf - 10. Die Einheit Jesu mit der Schrift

Da die Schrift das Band der Einheit war, das die Gemeinde in ihren verschiedenen Teilen zusammenhielt, erscheint die Verbundenheit und Freiheit, die das Verhältnis Jesu zur Gemeinde zeigt, auch in seinem Verkehr mit der Schrift1).

Gebunden an die Schrift und frei von ihr handelte Jesus dadurch, daß er von Israel die Buße forderte. Er verwarf den jüdischen Gottesdienst deshalb als sündig, weil er die Schrift entkräftete, und er die Schrift nicht brechen konnte. Sein Bußruf war ein Kampf für das Gesetz gegen die Gemeinde, die deshalb, weil sie durch das Gesetz Gottes Willen kennt, nicht in Unwissenheit handelt, sondern Sünde tut, und nicht Belehrung, sondern Reue und Vergebung bedarf. Sich und die Seinen trennte er von ihrem Ungehorsam dadurch, daß er der Schrift gehorcht und das Gesetz erfüllt, während alle es auflösen2). Gleichzeitig führte ihn aber der Bußruf von der Schrift hinweg über das Gesetz hinauf. Er ließ es zwar Israel nicht zu, daß es die Schuld seines Falles bei der Schrift suche und von sich weg auf Gott, auf die Mangelhaftigkeit seiner Offenbarung und die Unvollkommenheit seines Gesetzes lege. Daran aber, daß das Gesetz Israel nicht vor dem Fall bewahrt hatte und ihm zum Anlaß für seinen verdorbenen Gottesdienst geworden war, wurde offenbar, daß das von den alten Boten Gottes zu den Alten gebrachte Wort nicht ausreichte und nicht Gottes letzte Gabe an die Gemeinde war. Ihre Umkehr konnte nicht darin bestehen, daß sie zur Schrift zurückkehrte, sondern geschah dann, wenn sie dem gehorsam ward, der sie vor dem Mißbrauch der Schrift schützte, das, was ihn ermöglicht hatte, beseitigte und dadurch ihren Willen erfüllte.

Dieselbe Regel ergab sich für den Gebrauch der Schrift aus dem messianischen Gedanken Jesu, da dieser gleichzeitig rückwärts auf das Bestehende und vorwärts auf das Vollkommene sah. Da die Schrift ihm und der ganzen Gemeinde die Erwartung des Christus gab, konnte durch den messianischen Gedanken keine Lösung von ihr entstehen, mit der Jesus die Basis zerbrochen hätte, die ihn trug. Durch die Sendung des Christus gab Gott der Schrift die Bestätigung, und Jesus stellte sich, indem er das Werk des Verheißenen begann, mit der völligen Bereitschaft zum Gehorsam unter sie. Gleichzeitig stand er aber durch sein Christusamt über ihr, weil sich Gott durch den Christus in neuer Gnade offenbart, die die Gemeinde zur Vollendung führt. Das messianische Werk vollbringt der Sohn, zu dem der Vater nicht nur durch dasjenige Wort sprach, das er einst seinen Boten gegeben hatte und das die ganze Gemeinde lernte, ohne daß sie doch den Vater erkannte. Er aber kannte ihn, weil sein Verkehr mit Gott nicht nur durch die Schrift vermittelt war, und daraus entstand seine Freiheit gegenüber der Schrift.

Sein Kanon bestand wie der seiner Zeitgenossen aus „dem Gesetz und den Propheten„3). Der dritte Teil des Kanons, die poetischen Bücher, war durch diese Formel nicht von ihm getrennt, weil auch dort Propheten sprechen und Jesus die prophetische Bedeutung des Psalters hochschätzt. Unter den Sprüchen, durch die er sich das Leiden auferlegt sah, standen solche aus den Psalmen obenan. Daß diese dritte Gruppe der alttestamentlichen Bücher nicht fest umgrenzt und ihre Autorität geringer als die der ändern Teile des Kanons war, entspricht dem Zustand, den wir auch in der Synagoge beobachten. Neues hat hier Jesus nicht herbeigeführt, es stammt keine Aufzählung der kanonischen Bücher von ihm4).

Im Verkehr mit der Gemeinde diente ihm die Schrift als das wirksame Mittel, um ihre Zustimmung zu erreichen. Mit dem Zitat wehrte er den Angriff ab und schützte mit den Worten der Schrift, was für jetzt noch an ihm Geheimnis blieb. Gegen seine Gegner berief er sich auf Psalm 110, l und Psalm 82, 6, während wir nicht hören, wie er den Jüngern den Psalter deutete. Wie er Maleachi 3, 21 beurteilte, erfahren wir nur deshalb, weil sich die Jünger durch die Einrede des Rabbinats einschüchtern ließen. Nachdem er mit dem Gleichnis von den Weingärtnern noch nicht dargestellt hatte, daß er der Herr der neuen Gemeinde werden wird, sprach er es noch mit dem Schriftwort aus, das den verworfenen Stein zum Eckstein des neuen Baues macht. Seinen Richtern sagte er nicht mit eigenen Worten, daß ihm die himmlische und ewige Herrlichkeit bereitet sei, sondern mit den beiden Sprüchen, die den Verheißenen zu Gottes Thron und auf die Wolken des Himmels erheben5).

Ebenso benützte er die Schrift als Waffe, wenn er seinerseits die Sitte und Überlieferung angriff. Als ihm sein Verhalten am Sabbat vorgeworfen wurde, antwortete er: Was sagt die Schrift von David, und was bedeutet Hosea 6, 6? Als ihm die Scheidungsfrage vorgelegt wurde, ließ er die Schrift antworten; denn es soll so bleiben, wie Gott es im Anfang gemacht hatte. Als er den Markt im Tempel angriff, zitierte er die Schriftworte, das eine, das ihn zum Haus des Gebetes machte, und das andere, das Israels Mißbrauch des Tempels verurteilte, und wenn ihm die Alten die Ehre versagten und nur die Knaben ihn priesen, so freute er sich deshalb daran, weil die Schrift es so sagt6).

Deshalb verheimlichte er aber die Freiheit nicht, die er der Schrift gegenüber hatte, sondern übte sie vor aller Augen und trotz aller Einreden aus, obgleich sich daran für Israel der Sturz und für ihn der Tod hefteten. Wenn er den Sabbat zum Wohltun verwendete, so war damit nicht nur die schriftgelehrte Ausdeutung des Gesetzes, sondern dieses selbst durchbrochen! Er führte den Kampf gegen den Pharisäismus so vollständig, daß auch die Satzung der Schrift, auf die sich der Pharisäismus gestellt hatte, mit ihm abgetan wurde. Jeder wußte, daß das Sabbatgebot nicht laute: Du sollst am Sabbat nichts Böses tun, sondern: Am Sabbat sollst du nichts tun. Wenn das Wohltun auch am Sabbat zur Pflicht wird und dieser aufhört, eine Verhinderung für die Arbeit der Liebe zu sein, so war der Wortlaut des Sabbatgesetzes außer Kraft gesetzt. Ebenso hat. er in der Reinheitsfrage mit dem Satz, daß nichts, was in den Mund hineinkomme, gemein mache, ein großes Stück des mosaischen Gesetzes abgetan. Machte er die Söhne von der Tempelsteuer frei, weil nur die Untertanen diese zahlen, so griff dies tief in den gegebenen Bestand des Kultus ein, weil das Gesetz die Entrichtung der heiligen Gaben auf alle Glieder der Gemeinde legte. Dasselbe gilt vom Urteil Jesu über die mosaische Eheordnung, sie mache die Herzenshärtigkeit des Volkes offenbar. Weil die Eheordnung für das ganze Leben der Gemeinde große Wichtigkeit hat, schnitt der Vorwurf tief, daß sie nicht den Willen Gottes ausführe, sondern im verdorbenen Zustand Israels begründet sei7).

Es sind auch keineswegs nur vereinzelte Worte, die uns seinen freien, neuen Willen zeigen, sondern sein ganzes Verhalten erwächst aus ihm. Wenn er die Frömmigkeit gegen ihre ehrgeizige Befleckung dadurch schützte, daß er das Wohltun, Beten und Fasten in die Verborgenheit setzte, so entfernte er sich von der Schrift, die aus dem Gottesdienst das öffentliche Anliegen der Gemeinde macht. Wenn er die Kasuistik beharrlich ausschloß, so trat er von der Schrift weg, die zahlreiche Fälle durch konkrete Rechtssätze ordnet. Wenn er von dem sittlichen Urteil alle Schranken entfernte, die bestimmt waren, dem Bösen im menschlichen Leben wenigstens einigen Raum zu lassen, so tat er es mit der ausdrücklichen Erklärung, er hebe damit nicht nur das auf, was jetzt die Zeitgenossen sagen, sondern das, was den Alten gesagt worden war, denen Gott am Sinai das Gesetz gegeben und Mose das göttliche Recht verkündet hatte. Damit schalt er die Schrift nicht, stellte aber ausdrücklich fest, daß erst er und nicht schon die Schrift die Bosheit ganz richtete und die Liebe ganz verlangte. Wenn er aus seinen Jüngern die Brüderschaft machte, die neben ihm keinen ändern Lehrer und Führer hatte, so war das alte Amt weggetan, und indem er die Erwartung der Jünger einzig an seine Offenbarung band, stellte er große Stücke der alten Weissagung zurück8). Er machte die Jünger nicht zu Exegeten der Schrift und zeigte ihnen nicht darin ihr Arbeitsmittel, daß sie der Gemeinde die biblischen Bücher auslegen, sondern es kommt durch sie ein neues Wort Gottes zur Gemeinde, und dieses neue Wort ihnen zu geben, darin sah er zuerst selbst seinen Beruf.

Wer den Versuch für aussichtsreich hält, durch eine literarkritische Zerlegung der Texte das, was dem Exegeten ein Widerspruch scheint, wegzuschaffen, hat die Wahl, entweder diejenigen Worte als jüngeren Zusatz zu streichen, die Jesu Unterordnung unter die Schrift ausdrücken; damit habe der Judaismus das Bild Jesu nach seinen Wünschen nachträglich entstellt; oder die, die Jesu Freiheit darstellen, damit seien spätere Gedanken schon in den Bericht über Jesus eingetragen; erst die Arbeit des Paulus und die Mission unter den Griechen hätten die Befreiung vom Gesetz gebracht. Aber es ist unmöglich, die Berichte so zu zerlegen, daß die Berufung auf die Schrift auf die eine Seite, die freien Worte und Taten auf die andere Seite gebracht werden könnten. Denn Jesus hat die beiden Normen beständig miteinander unlöslich vereint.

Der Bericht über sein Kreuz ist zerstört, wenn wir seine Berufung auf die Schrift aus ihm streichen. Sein Gang in den Tod hatte daran ein wesentliches Merkmal, daß er ihn in der Gewißheit vollbrachte, dadurch erweise er der Schrift Gehorsam und erfülle so, was sie verkündigt habe. Ebenso deutlich machte die Kreuzestat die Freiheit Jesu offenbar; denn er bereitete mit ihr der alten Gemeinde das Ende. „Weint nicht über mich, weint über euch!“ Nun fällt Jerusalem. Israels Geschichte ist zu Ende; ein Neues beginnt. Jesus stellte sich dadurch, daß er mit dem Kreuz sein Königtum aufrichtete, über die alte Ordnung der Gemeinde und über ihr Gesetz und erwies sich doch durch dieselbe Handlung als der Schrift gehorsam und starb mit der Gewißheit, die Schrift habe allen Knechten Gottes das Leiden zugeteilt.

Aus dem Kampf mit dem Pharisäismus läßt sich Jesu Berufung auf die Schrift nicht entfernen, weil nur durch diese aus seinem Widerspruch gegen ihn ein Bußwort wird. Er kritisierte ihn nicht, durch den Gedanken, die alttestamentliche Moral sei noch unvollständig und ein Fortschritt über sie hinaus möglich. Das wäre nicht mehr das Bußwort, das den Pharisäer schuldig sprach, und zwar so, daß sich aus seiner Schuld der Verlust des göttlichen Reiches ergab. Jesu Urteil sagte: Ihr habt durch die Schrift gewußt, was vor Gott gut ist, und habt es nicht getan. Deshalb wurde aber aus Jesu Kampf mit dem Pharisäismus nicht eine exegetische Untersuchung, die den Sinn der biblischen Gebote festzustellen suchte, ob sie pharisäisch verstanden werden müssen oder nicht; vielmehr: „Ich aber sage euch„; das entschied den Streit. Er redete als der Verkündiger des göttlichen Willens, der die Macht hatte, ihnen zu sagen, was vor Gott gut ist, und hierbei überschritt er auch denjenigen Teil der Schrift, mit dem sich der Pharisäer deckte. Er ist der Herr des Sabbats, von dem man zu lernen hat, wie man ihn richtig gebraucht9). Kleine kritische Operationen verschaffen uns hier das Verständnis Jesu nicht; es läßt sich nur dadurch gewinnen, daß auf seine Sohnschaft und sein Christusamt geachtet wird. Werden diese verdeckt, dann wird Jesu Verhältnis zur Schrift unverständlich und der beständige Widerspruch gegen die Quellen, daher auch das Bemühen, sie zu zerteilen, unvermeidlich.

Der Gedanke bewegt zwar viele: da Jesus den Inspirationsgedanken verwendete und an das Schriftwort mit dem völligen Gehorsam gebunden war, den er Gott darbrachte, so bleibe ihm kein Raum mehr zur Selbständigkeit, wodurch er berechtigt wäre, Schriftworte als vergangen außer Kraft zu setzen. Dieser Gedanke übersieht aber, daß Jesus seine Freiheit gerade dadurch empfing, daß er sich durch, die Schrift ernsthaft vor Gott und nicht bloß vor das Buch gestellt wußte, also gerade durch den Gedankengang, den der Inspirationsbegriff formuliert, indem er ausspricht, daß in der Schrift einzig und vollständig Gott zu hören sei. Dadurch, daß er durch die Schrift Gottes Willen und Werk erfuhr, wurde ihm seine eigene Verbundenheit mit Gott bestätigt, nicht geschwächt oder ersetzt. Freilich machte er dadurch seinen Unterschied von der Gemeinde tief, da diese nur durch die Schrift in Verkehr mit Gott kam und für sie die einzige Weise, wie sie Gott Glauben zu erzeigen vermochte, darin bestand, daß sie der Schrift glaubte. Deshalb war für sie die Exegese das Hauptstück ihres Gottesdienstes. Gälte dies aber auch von ihm, so wäre er nicht der Sohn. Darum weil er nicht aus sich selbst, sondern aus dem Vater redete, verstand er die Schrift. Damit trat aber für ihn an die Stelle der Auslegung der Schrift die Verkündigung desjenigen Wortes, das Gott ihm gab10). Die neue Rede und das neue Werk Gottes, das jetzt durch ihn Israel zuteil wurde, konnte aber weder die Zerstörung des Alten herbeiführen, noch bloß das Bestehende erhalten. Die ewig bleibende Gemeinde müßte nicht erst berufen und gesammelt werden, wenn Israel schon am Ziel stände. Ihre Einigung erhielten beide Überzeugungen dadurch, daß im Neuen die ganze Wahrheit und Kraft der alten Bezeugung Gottes erhalten blieb. Die Freiheit Jesu hatte die Gewißheit in sich, daß er mit seinem Gebot denjenigen Willen Gottes ohne Abzug und Verkrümmung ausspreche, den er im alten Gebot offenbart hatte, freilich nicht mehr so, wie er der alten Gemeinde den Dienst Gottes verlieh, sondern so, wie ihn nun der Christus zu sagen vermochte, doch so, daß sich die Einheit Gottes in voller Deutlichkeit sichtbar machte und sich dieselbe Gerechtigkeit und dieselbe Güte hier und dort der Gemeinde offenbarte.

Indem sich Jesus mit der Anbietung der Versöhnung über das Gesetz stellte, weil nicht schon der Bruch des Gesetzes dem Volk den Untergang bringt, sondern dieser ihm vergeben und die Verurteilung nur dann über dasselbe ausgesprochen wird, wenn es die ihm jetzt angebotene Versöhnung mit Gott verwirft, bewirkte er nach seinem Urteil nicht die Auflösung, sondern die Erfüllung des Gesetzes. Denn auch das Gesetz enthielt beides, die Verurteilung der Sünde und die Bezeugung der göttlichen Gnade für die Sünder. Wenn der Zöllner im Tempel Gottes Vergebung suchte, so war dies nicht gegen das Gesetz, und wenn nun der Christus in seiner königlichen Vollmacht ihm die Gerechtigkeit zusprach, so erfüllte er das Gesetz.

Wenn Jesus den Bußruf nicht mit der Wiederherstellung des alten Gebotes beendete, das gebrochen ist, sondern mit dem neuen Gebot, das den Reuigen zur Liebe berief, und dieser die Verheißung gab, so wußte er sich mit dem Gesetz nicht im Streit, weil er auch in diesem die Bezeugung der göttlichen Liebe sah. Freilich entstand dadurch ein neuer Dienst Gottes, da er nun alle Gebote in einen einzigen Willen zusammenfaßte11), so daß statt der vielen eine einzige Pflicht entstand, die das ganze menschliche Handeln umfaßte. Dadurch wurde die Schätzung der einzelnen Stücke des Gesetzes, verglichen mit dem überlieferten Brauch, tief verändert, da jetzt die Satzungen ihren Wert nicht mehr in sich selbst hatten, sondern dadurch bekamen, daß sie der Liebe die Mittel angaben, durch die sie ihr Werk vollführt, womit alle dinglichen, religiösen Mittel unter die innerliche, im Willen vorhandene Beziehung zu Gott herabgesetzt waren. Weil aber Jesus die Wichtigkeit oder Unwichtigkeit, Entbehrlichkeit oder Notwendigkeit der einzelnen Satzung an ihrem Verhältnis zum Liebesgebot maß, wußte er sich nicht im Streit mit dem Gesetz. Denn das Maß, nach dem er sie maß, gab ihm das Gesetz12).

Den Jüngern verbot er die Entlassung ihrer Frauen, damit sie demjenigen Willen Gottes gehorchen, den ihnen die Schrift vorhielt, und wenn er im mosaischen Recht in diesem Stück ein Zeugnis für Israels Widerstreben gegen Gott sah, so warf er damit dem Pharisäer vor, er sei gegen die Absicht des Gesetzes blind und merke nichts von dem Streit, den es gegen die menschliche Bosheit führe; sonst beanspruchte er es nicht als sein gutes Recht, daß er seine Frau wegschicken dürfe.

Wenn er den Unterschied zwischen reinen und unreinen Dingen aufhob, so geschah dies nicht in der Absicht, daß jetzt die Profanation des Menschen als unschädlich gelten solle, sondern dazu, damit erfüllt würde, was das Reinheitsgesetz wollte. Denn was den Menschen wirklich unrein macht und vor Gott schändet, das kommt aus dem Herzen, und von dem machte Jesus die Scheidung dadurch fest, daß er die Sorge um die unreinen Dinge von der Gemeinde nahm. Löste er die Söhne von der heiligen Steuer, so stellte er sie dadurch nicht von Gott weg, sondern gab ihnen erst recht damit das Mittel, mit dem sie Gott als ihren Herrn ehren. So erhielt die Gemeinde den wirksamen Gottesdienst, wie ihn Gott seine Söhne erweisen.

Den Jüngern schien Jesu Behandlung des Sabbatgebots besonders lehrreich für sein Verhältnis zum Gesetz. Da es in kurzen Zwischenräumen immer wieder zur Erfüllung kam, griff es tief in die Lebensführung ein. Man maß die Frömmigkeit eines Mannes an der Art seiner Sabbatfeier. Darum hat Jesus beharrlich an diesem Punkt den Unterschied seines Willens von der üblichen Erfüllung des Gesetzes sichtbar gemacht. Er entstand dadurch, daß er das Sabbatgebot unter die Liebesregel stellte und es deshalb nicht zuließ, daß aus dem Sabbat die Ermächtigung zur Härte und zur Verweigerung der Liebe abgeleitet werde. Das Verbot, am Sabbat wohlzutun, anerkannte er nicht als göttlich. Einen Gottesdienst, der die Liebe hinderte, nannte er nicht Gehorsam gegen Gottes Willen. Damit beseitigte er zugleich die Veräußerlichung des Urteils, nach der bei jeder Verletzung der Satzung sofort von Sünde gesprochen wurde, ohne Rücksicht auf die inwendigen Vorgänge. Damit aber, daß er den Sabbat unter das Liebesgebot stellte, brach er das Gesetz nicht, weil dieses für Gott Israels Liebe verlangte. So brachte er auch seine Verpflichtung, Gott und seinen Dienst über alle irdischen Anliegen zu stellen und deshalb vom irdischen Werk zu ruhen, erst recht zur Geltung. Denn durch den Bruch der Liebe und die Verweigerung der „Wohltat schafft sich der Mensch nicht die Ruhe, wie er auch bloß mit dem Nichtstun noch nicht im Dienst Gottes steht.

Sein Bußruf traf auch den Kultus, weil die Herrschaft Gottes sich nicht offenbaren kann, ohne daß sie der Gemeinde eine neue Anbetung verschafft. Zur besseren Gerechtigkeit, die er verlangte, gehörte auch ein besseres Gebet. Mit dem Urteil über Israel fiel auch der Tempel, und Jesus hatte dazu das Vermögen, weil er „mehr als der Tempel“ gewährte und ihn neu bauen wird. Denn erst durch ihn entsteht nun diejenige Anbetung, nach, der der Vater verlangt“13). Allein dadurch, daß Jesus auch den Kultus erneuerte,wird nicht zweifelhaft, daß er im mosaischen Gesetz wie jedermann diejenige Bezeugung Gottes sah, die die Gemeinde schuf und ihr Verhältnis zu Gott bestimmt. Gottes Weinberg ist dadurch entstanden, daß er Israel das Gesetz gab. Darum betrat er das Heiligtum als das Haus seines Vaters, in dem der, der richtig betet, die Rechtfertigung empfängt. Wer dem Bruder gab, was ihm gehört, darf nun auch mit seinem Opfer zum Altar treten, und den Aussätzigen sandte er nach der Regel des Gesetzes zum Altar14). Er hielt die Oberzeugung fest, mit seinem Verhalten gegen den Vater übe er den Kultus in voller „Wahrheit aus und stellte ihn auch in seiner Jüngerschaft her. „Wenn er sich selbst an die Stelle des Tempels setzte, so war seine Meinung ernsthaft die, daß das, was der Tempel der Gemeinde als Bezeugung der Gegenwart und Gnade Gottes gewähre, ihr in größerer Wirksamkeit durch seine Sendung gegeben sei, und er stimmte mit der Gemeinde darin überein, daß der Tempel Gottes unzerstörbar sei, nur daß er diese Heiligkeit nicht dem steinernen Haus zuschrieb15). Indem er aus seinem Verhalten gegen Gott den vollen Gehorsam machte, bekam nicht nur das Gebet, sondern auch das Opfer für ihn eine ernste Realität, nicht nur mit seiner Freude, die aus dem Kultus ein Fest macht, sondern auch mit seiner Entsagung, und sein Opfer blieb nicht nur auf inwendige Vorgänge beschränkt, sondern übergab Gott alles, was er besaß, auch seinen Leib und sein Blut. Er hat darum das Tieropfer, das Tempelhaus und den für sie bestellten Priester durch einen höheren Gottesdienst überboten, nicht aber als grund- und zwecklos verachtet, weil die Regel des Gesetzes, daß der Mensch, was er hat, Gott als Gabe darzugeben habe, damit er Gottes Gaben empfange, auch seine Gemeinschaft mit dem Vater ordnete.

Der Christusname, mit dem er sein Ziel aussprach, führte ihn nicht zur Ausbildung einer Theorie, die die alttestamentlichen Aussagen über den Christus sammelte, deutete und zu seiner Arbeit in Beziehung setzte. Manche Worte, die sowohl für ihn als für seine Zeitgenossen sicher den messianischen Sinn hatten, werden nie erwähnt. Am deutlichsten tritt die Berufung auf die Schrift dann ein, wenn sein Geschick ein königliches Recht verhüllte und ihn mit der Gemeinde entzweite. Gegen das, was vor Augen ist, und gegen das Urteil der Gemeinde stützte er sich auf die Schrift, und darum war es für ihn und die Jünger eine große Sache, daß die Schrift seinen Gang zum Kreuz weissagte16). Dagegen zeigt sich an ihm nie das Bemühen, die Weissagung zu kopieren, alles zu tun, was sie vom Christus sagte, und nichts zu tun, als was sie von ihm sagte. Er hielt dadurch nicht nur seinen Gegensatz gegen den Intellektualismus fest, sondern machte auch seine Freiheit gegenüber der Schrift offenbar und tat sein Werk, das ihm der Vater zuteilte, in der Gewißheit, der Ausgang werde zeigen, daß an der Verheißung nichts zerfalle und Gott sein ganzes Wort erfüHe. Nur so war es möglich, daß er keine Herrschaft in der Form eines staatlichen Königtums begann, trotz Jesaja 9, und den Vollzug des Gerichts unterließ, trotz Jesaja 11, und sich nicht als Priester darstellte, trotz Psalm 110, mit einem Wort: daß er den Kreuzesweg ging. Wenn er aber für sich statt der Worte, mit denen die Schrift die Größe des kommenden Königs beschrieb, die Leidensweissagung voranstellte, und nicht nach Jesaja 9, sondern nach Psalm 22 und 69 griff als für ihn geschrieben, so verzichtete er damit nicht auf die Weissagung seiner Herrlichkeit, als wäre sie fleischlich und ungöttlich, sondern handelte im Gedanken, daß er eben durch den Leidensweg die Flerrlichkeit der Gottesherrschaft schaffe. So bereitete er sich die königliche Majestät und die ewige Gemeinde. Der Gedanke, sein mes-sianisches Ziel ergebe eine Verkürzung und Abschwächung dessen, was die Schrift verheißen habe, hat ihn nie berührt. Er dachte, daß er deshalb, weil er in der Entsagung des Kreuzesweges der Christus sei, es auch in der Herrlichkeit sein werde und daß er es nicht in der Herrlichkeit sein könnte und die von ihr redenden Worte der Schrift nicht zu erfüllen vermöchte, wenn er sich des Kreuzes weigerte.

Als er seine Jünger ganz an sich band und es zu ihrem einzigen Beruf machte, ihm nachzufolgen, meinte er nicht, so führe er sie von der Schrift ab. Sie werden sie dadurch erfüllen, daß sie ihm gehorchen und den Dienst tun, den er ihnen zuteilte. Für die Aufgabe, die er ihnen damit stellte, rüstete er sie nicht durch abstrakte Begriffe und Theorien, sondern verwies sie auf Gottes Regierung. Wie das Gesetz durch sein „Wort vollendet, in der neuen Gemeinde die alte erneuert und von seinem Kreuz aus die Verheißung erfüllt wird, das wird nicht durch lehrhafte Formeln, sondern durch Gottes fortschreitendes Werk hergestellt und offenbar. Deshalb verglich er die Jünger dem Verwalter, der in seinem Schatz Altes und Neues besitzt und beides zur Verwendung bringt.

Er hat erreicht, daß das Verhalten der Jünger gegen die Schrift dieselben Merkmale wie das seine hatte, ein volles Glauben an sie, das ihr gehorchte, und Freiheit von ihr, die sie im Blick auf den Christus verstand und verwendete. Die Haltung der apostolischen Gemeinde beweist die Richtigkeit der Darstellung, die die Evangelien vom Verhältnis Jesu zur Bibel geben.

1)
Vgl. Schlatter, Geschichte des Christus, S. 275—286.
2)
Matth. 5, 17—19; 15, 3; Luk. 10, 26; 16, 29; Joh. 10, 35.
3)
Matth. 5, 17; 7, 12; 11, 13; 22,40; vgl. Luk. 24, 14: Gesetz, Propheten und Psalmen.
4)
Das Verhalten der ersten Christenheit steht in diesem nicht unwichtigen Punkt dem evangelischen Bericht zur Seite; es zeigt sich in ihr kein Bemühen, den Bestand des Kanons zu fixieren
5)
Matth. 22, 41—44; Joh. 10, 34; Matth. 17, 10—13; 21, 42; 26, 64.
6)
Matth. 12, 3; 19, 4; 21, 13. 16.
7)
Matth. 12,12; 15, i—20; 17,26; 19,8
8)
Matth. 6, 1—6. 16—18; 5, 21. 27. 33. 43; 23, 8—10
9)
Matth. 12, 8.
10)
Weil Jesus so zur Schrift stand, kam es zur Bildung eines neuen Testamentes. Wäre er nur Exeget gewesen, so wäre das alte allein der Kanon geblieben.
11)
Matth. 22, 37—40.
12)
Jesu Stellung zur Schrift wäre freilich unmöglich gewesen, wenn der Bußruf aus dem Wunsch, Vergangenes wieder herzustellen, entstanden wäre; er hatte aber sein Ziel in dem, was kommt.
13)
Matth. 12,6; 26,61; Joh. 2,19.21; 4,21—24
14)
Matth. 5,24; 8,4; Luk. 2,49; Joh. 2,16; Matth. 21,13; Luk. 18,10; Matth. 5, 35.
15)
Matth. 12,6; Joh. 2,19.
16)
Matth. 26,24. 31.54.56; Luk. 18, 31; 22, 37; 24,27.44.46; Joh. 2, 17; 13, 18; 15,25; 17, 12.
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