Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Und nun, was ist die Bibel?

Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Und nun, was ist die Bibel?

Wir sind durch die ganze Schrift gewandert, freilich mit eiligem Gang, der sich an der Übersicht genügen ließ. Nun tritt die letzte und höchste Aufgabe an uns heran: es gilt, aus dem, was uns die Bibel beobachten ließ, ein Endurteil zu ziehen.

Wir dürfen weder uns selbst noch anderen das schlichte, unbefangene Lesen der Schrift verdächtigen, das alle Formeln, in denen Kirche und Theologie den Wert und die Wichtigkeit der Bibel ausgedrückt haben, bei Seite läßt und sie einfach nimmt, wie sie vor uns liegt. So mit der Schrift umzugehen, ist uns durch die gebende, helfende, dienende Art Jesu erlaubt. Er stellte sich den Leuten in Worten und Thaten dar und ließ sie zuhören und seine Werke beschauen, damit sie bei sich bedächten, ob sie ihre Hoffnung auf ihn setzen wollten und den Gesalbten Gottes in ihm zu erkennen vermöchten. Er hat ihnen freilich zugemutet, daß sie zu einer festen Einsicht und gewissen Überzeugung gelangen, und die, welche in ungewissem Schwanken hängen blieben und stets aufs neue ein Zeichen begehrten, hat er ein böses und ehebrecherisches Geschlecht genannt. Aber er hat seinen Namen niemand aufgedrängt und nicht als fertige Formel seinem Verkehr mit den Menschen vorangestellt. Er machte aus dem Bekenntnis zu ihm keinen Gesetzesdienst. Auch die Namen, welche die Erhabenheit und Wichtigkeit der Bibel ausdrücken, sollen wir nicht als ein Joch und eine Last auf uns legen, weil uns die Schrift nicht dazu gegeben ist, um mit ihr ein Stück Gesetzesdienst zu üben. Sie bietet sich uns als Gabe und Hilfe bar, nicht damit wir ihr dienen und Verehrung erzeigen, sondern damit wir uns von ihr dienen lassen, und hören, was sie uns zeigt, und empfangen, was sie uns gibt. Aber daraus soll eine helle und feste Überzeugung in uns erwachsen und aus der Betrachtung der Schrift der Strahl der Erkenntnis hervorbrechen, die ein geschlossenes Urteil in sich hat.

Ist die Schrift Gottes Wort? Wie wir diese Frage beantworten, hängt davon ab, ob uns die Schrift Gott wahrnehmbar gemacht hat, so daß wir seiner gewiß geworden sind. Darüber sind wir alle im klaren, daß uns Erkenntnis Gottes nur durch Gott selber gegeben werden kann. Gott wird nur soweit erkannt, als er selbst sich zu erkennen gibt. Der Mensch steht nicht über Gott, so daß er ihn vor sein Auge stellen und mit seinem Geist durchdringen könnte. Alle Erkenntnis Gottes ist Gottes eigene Gabe. Giebt uns die Schrift ein helles, deutliches Bild von Gott, dann ist gewiß, daß sie aus Gott stammt und in ihm ihren Ursprung hat. Was uns Gott offenbart, das ist Gottes eigenes Wort.

In allen ihren Teilen legt uns die Schrift den Blick zu Gott mit wunderbarer Kraft nahe. Achten wir auf den Gott des Gesetzes, der in der Allmacht des Wunders sein Volk nach Kanaan führt als dessen gerechter Richter und gnädiger Versorger, oder auf den Verkehr der Propheten mit Gott, wie sie Gottes Zorn über Israels böse Dinge empfinden und ins Bußwort fassen, und an seiner Treue ihre Hoffnung nähren, so daß sie zur herrlichen Verheißung wird, oder erwägen wir, wie Gott in dem wohnte, der das Kreuz getragen hat und ihn mit seiner Gegenwart erfüllte, so daß er wußte: er ist der Vater und ich der Sohn, oder achten wir auf den Gott des Friedens und den Vater aller Barmherzigkeit, vor welchem Paulus gerechtgesprochen und versöhnt sein Leben führt, überall finden wir nicht nur helle, reiche Gedanken über Gott, nein! ein Haben Gottes, ein bei Gott sein und mit Gott leben, das jeden Leser der Bibel mit Macht unter den Eindruck der Nähe Gottes stellt. Was an hellen, reinen Gedanken über Gott und an freudigem, dankbarem Glauben, der in Gottes Güte und Vollkommenheit ruht, unter uns vorhanden ist, stammt aus der Bibel. Solche geschichtliche Betrachtungen geben uns freilich noch keine ausreichende Antwort auf die Frage: ist die Bibel Gottes Wort? Unsere eigene Seele muß sich bewegen, soll irgend eine Erkenntnis entstehen. Das was uns von außen gegeben wird, muß sich mit dem einigen, was in uns selber ist. Zur Speise gehört ein Hungriger; ihn nährt sie. Erweist sich uns Gott, wie ihn uns die Bibel zeigt, als unser Gott, den wir nach der eigenen Gestalt unseres inneren Wesens und Lebens fassen können und ehren müssen, so daß wir ihm zu glauben und ihn anzubeten im Stande und getrieben sind, dann ist die Gewißheit da, daß die Bibel das Wort Gottes ist. Diese Erkenntnis kann kein Dritter für uns besorgen. Das Bekenntnis zur Schrift als zum Worte Gottes ist überall, wo es Wahrheit ist, eine freie That, die Frucht eines inneren Erlebnisses, durch welches der Gott der Schrift zu unserem Gott geworden ist.

Aber wir hören ja Menschen in der Schrift! Als wäre dies ein Einwand gegen ihren Ursprung aus Gott. Gott hat so mit uns geredet, daß er Menschen machte, Menschen begabte, Menschen erfüllte mit seiner Wahrheit und Kraft. Man hat sich freilich in der Kirche oft bemüht, die Menschen in der Bibel auszulöschen, damit Gott in ihr erscheine, und es regte sich auch in dieser Schriftbetrachtung ein reiner und richtiger Trieb. Dieselbe will Gott und die Menschen nicht zusammenzählen. Sie schärft uns ein, daß es uns allein daran liegen muß, Gott zu hören, Gott zu erkennen, Gott zu gehorchen, daß wir nichts gewonnen haben aus der Schrift, wenn wir in ihr nur alte Juden finden oder psychologisch interessante Charakterköpfe, geniale Geister u. dgl. mehr. Wahr ist's, daß, wo Gott erscheint, der Mensch eine verschwindende Kleinigkeit und Nebensache wird. Was liegt an den alten Juden, an Mose und Jesaja, Johannes und Paulus? Hier gilt des Apostels Wort: welcherlei sie gewesen sind, daran ist mir nichts gelegen. Aber daß wir den allein wahrhaftigen Gott durch die Schrift erkennen, daran muß uns alles gelegen sein. Wir haben aber mit diesem Gedanken Gottes Weise und Weg noch nicht vollständig erfaßt. Wir haben nur auf Gottes Macht geachtet, die den Menschen in die Tiefe stellt, weit unter die Erhabenheit Gottes hinab. Aber Gott will uns in der Schrift noch etwas anderes zeigen, als seine Macht. Darum hat er sich nicht dadurch kundgethan, daß er den Menschen erniedrigte, beiseite schob und verschwinden ließ, sondern dadurch, daß er die Menschen erweckte, zu ihm emporhob, in die Gemeinschaft mit ihm versetzte und ihnen dadurch das Amt und den Dienst übertrug, seine Zeugen in der Welt zu sein. Das erst gibt eine rechte Offenbarung Gottes und ein göttliches Wort, das ihn ganz kundthut; denn dies ist der Weg der Gnade. Gott macht Menschen zu seinen Zeugen, durch welche wir ihn erkennen und hören, das ist nicht die Schwäche, sondern die Herrlichkeit der Schrift.

Ist die Bibel inspiriert? d. h. hat Gottes Geist den Sinn und das Wort der Schrift erzeugt? Auch diese Frage lenkt unsern Blick nach innen. Was heißen wir bei uns selber Geist? Geist haben, heißt helle und gewisse Erkenntnisse besitzen, welche die Majestät der Wahrheit und Ewigkeit an sich haben und die sich als belebende Kräfte in uns wirksam erweisen, so daß ein starker und reiner Wille aus ihnen entspringt, der unserm Leben freudige Regsamkeit und unerschöpfliche Bewegung verleiht. Nichts, was in unserm Inwendigen ist, werden wir im selben Sinn „Geist“ heißen dürfen, wie die Gewißheit Gottes und die Liebe, die aus ihr geboren wird. Was die Schrift uns gegeben hat, das ist Geist. Erhebt uns die Schrift zum Geist, macht sie, daß wir Geist empfangen, so stammt sie auch aus dem Geist.

Aber wie wir eine Offenbarung Gottes träumen, bei welcher der Mensch zu nichte wird, so denken wir uns auch des Geistes Walten gerne so, daß der Mensch darob in Schlaf versinkt und in seiner Thätigkeit gebunden wird. Gottes Geist zerstört nicht, sondern schafft. Er ist der Erzeuger der wahrhaftigen, ihrer selbst bewußten Erkenntnis und des reinen, seiner selbst mächtigen Willens. Er zerbricht die natürliche Gestalt der Seele nicht, sondern erfüllt sie mit Gottes Gaben, und erweckt und kräftigt sie dadurch zu dem, was der Mensch in sich selber nicht vermag. Auch jener trübe Gedanke will eine Wahrheit ausdrücken. Er betont, daß was vom Geiste kommt, nicht aus uns selber stammt. Aber es bleibt uns deshalb nicht fern und fremd. Es ist nicht von uns, aber in uns. Gerade, weil Gott im Geiste zu den Menschen tritt, sind seine Gaben ernst gemeint, wirkliche Gaben, die ihr völliges Eigentum werden, welches sie haben und besitzen als ein Stück ihrer eigenen Person. Deshalb werden Gottes Boten durch des Geistes Wirken ihrer charaktervollen Eigenart nicht entkleidet, sondern der Geist schafft, erhöht und vollendet dieselbe und macht sie zu Menschen aus einem Guß, bei denen Gedanke und Wille, Wort und Werk aus demselben Trieb entspringen und von Licht und Wahrheit durchdrungen sind.

Was aus Gott stammt, hat sein Siegel darin, daß es sich selber gleich bleibt, und das Kennzeichen der Wahrheit besteht in der Einigkeit, zu der sie unsere Gedanken bringt. Wir stehen darum weiter vor der Frage: ist die Bibel mit sich einstimmig? Aber auch hier liegt uns ein trüber Gedanke nahe, durch den wir die Einheit der Schrift in's Äußerliche verkehren, wie sie etwa durch Formeln und Gesetze erzeugt werden kann, denen alles von außen her unterworfen wird. Die Einheit, die wir wünschen, gleicht oft einem leeren, öden Einerlei. Gott schuf Menschen, die ihn kennen: keiner unter diesen seinen Zeugen ist dem andern gleich. Jeder empfängt eine besondere Gabe und Gott ist ihm in besonderer Weise faßlich und nah. Gott ist unerschöpflich reich an Gestaltungen. Der Geist erzeugt, je reicher er wirkt, umsomehr ein personhaftes Leben. Aber das Personhafte ist in allem eigenartig. Darum ist das Wort, das aus dem Geiste stammt, immer wieder anders und neu. Welch ein Reichtum geistiger Gebilde liegt uns in der Bibel vor. Wir sehen die Geschlechter einander folgen und jedes hat seinen eigenen Gedankenkreis und seine besondere Frömmigkeit und dient Gott in seiner Weise. Jeder Prophet hat seine unterscheidenden Eigenschaften und jeder Apostel eine eigene Form des Evangeliums. Stellen wir die kluge Überlegung der Sprichwörter, mit der sie den geselligen und geschäftlichen Umgang mit den Menschen überdenken und ordnen, und die Offenbarung des Johannes zusammen, wo Johannes nur himmlische Gestalten vor sich sieht, nichts in seiner natürlichen Figur uns vorgeführt wird und alle irdischen und zeitlichen Anliegen begraben sind, oder vergleichen wir die Sorgfalt, womit die priesterlichen Theile des Gesetzes den Opferdienst pflegen, wo jeder kleine Opferbrauch unermeßlich heilig und absolut notwendig wird, und unter der Androhung des göttlichen Zorns und der Todesstrafe befohlen wird, mit der Freiheit des Apostel Paulus, der zu allen Dingen Macht hatte, nur daß er nichts über sich selbst zur Macht werden ließ. dessen Gottesdienst darin bestand, daß er im Geist mit Glauben auf die Gerechtigkeit hoffte, oder gehen wir von der tiefen Beugung, mit welcher der Prediger alle hohen und herrlichen Dinge, welche die Menschen rühmen, vor seinem Auge versinken sieht, hinüber zu Johannes, der im Licht des Lebens wandelt, die Welt überwunden hat, trinkt, so oft er dürstet, und Ströme lebendigen Wassers von sich ausgehen sieht auf den dürren Boden um ihn her: so haben wir vor Augen, in welche weite Abstände das innere Leben der heiligen Männer sich entfaltet hat, wie ausgedehnte Bahnen das Wort der Schrift durchmißt. So lange wir das göttliche Wort nur noch in des Gesetzes Weise fassen, wird uns diese Mannigfaltigkeit und Fülle vielleicht verwirren. Für unsern Gesetzesdienst mag uns die Mühe kleiner und der Erfolg sicherer erscheinen, wenn die Schrift weniger mannigfaltig wäre und keine Unterschiede aufzeigte, sondern überall dieselbe deutliche Formel hören ließe. Anders lernen wir vom Reichtum der Schrift denken, wenn wir Gottes Gabe in ihr erkannt haben, durch die Gott uns speist mit Wahrheit und Gerechtigkeit, damit wir selbst ein Werk seines Geistes würden in seiner Erkenntnis und Gemeinschaft. Dann dient der Reichtum der Schrift der göttlichen Gnade und Größe zur Verherrlichung.

Die Einheit, welche die Schrift bedarf und hat, besteht darin, daß alle ihre Weisungen sich gliedlich zu einem Ganzen zusammenfügen, an dem ich keinen Punkt verschieben kann, ohne daß das Ganze bewegt wird, keinen Teil wegwerfen kann, ohne daß ich das Ganze verliere, aber auch kein Stück ergreifen kann, ohne daß ich damit das Ganze an mich ziehe und in's Ganze geleitet werde. Diese Einheit ist uns äußerlich dadurch dargethan, daß alle Teile der Schrift aus einer festgefügten Geschichte hervorwachsen, die nirgends bricht und zerreißt. Sie treten aus einer einheitlichen Gemeinde hervor, deren Entwicklung einen genau zusammenhängenden Lebenslauf ergibt. Der größte Schritt ist der vom Alten zum Neuen Testament; aber wie stark sind hier die Klammern. Jesus, der das Neue schafft und die Freiheit der Gnade gibt und die Völker zu Gott beruft, stellt sich zugleich ernst und völlig unter die alte Schrift, bejaht sie unbedingt und macht sie zur heiligen Regel, welche seinen Gang auf Erden geleitet hat. Und Paulus, der die Eigenart des neutestamentlichen Worts am schärfsten hervorhebt, ergreift gerade das scheinbar entfernteste Glied des Alten Testaments, das Gesetz, mit höchster Energie. Indem er das, was das Gesetz will und wirkt, mit neuer Kraft erlebt, tritt er in die Fülle und Freiheit des Glaubens empor.

Was uns die Geschichte der Bibel von außen zeigt, das bewährt sich auch inwendig in unser aller Lebensgang. Das eine Wort der Schrift führt zum andern; sie zieht als ein Ganzes in uns ein. Man kann nicht Paulus verstehen, ohne auch Jakobus zu begreifen, nicht im Neuen Testament leben, ohne daß uns das Alte faßlich und heilig wird. Wer mit den Sprüchen denken lernt, der lernt auch mit den Psalmen beten und mit den Propheten hoffen und mit den Aposteln glauben. Können wir mit Hiob ergeben vor Gott schweigen, dann können wir auch am Evangelium uns freuen und danken, jetzt, nachdem uns Jesus vor Augen steht. Wer von Mose den Ernst des göttlichen Gebotes lernt, ist damit auch auf den Weg der Freiheit gestellt, die ihm anbrechen wird, wenn Gott in seiner Güte ihm erscheint. Das mag sich im Lebenslauf der Einzelnen oft seltsam dehnen und strecken, es wird sich dennoch bewähren, daß der Einklang mit der Schrift, wenn er an einer Stelle gewonnen ist, in's Ganze derselben führt.

Der Wechsel und die Mannigfaltigkeit des Schriftworts bringt darum in dasselbe keine Unsicherheit. Wir dürfen es auch in seiner besonderen Ausprägung scharf in's Auge fassen und es uns völlig aneignen. Die Schranke, die dem einzelnen Spruch und Buch anhaftet, kann uns nur dann gefährlich werden, falls wir die Willigkeit in uns ersterben lassen, auch das zu hören, was die Schrift daneben sagt. Jesus hat uns die richtige Stellung zur Bibel in einer bedeutsamen Stunde an sich selbst gezeigt. Die dem Glauben gegebene Verheißung, die unter Gottes Schutz keine Gefahr mehr kennt und keinen Schaden fürchtet, wurde ihm mit verführerischer Kraft vorgehalten. Dieselbe ist unzweifelhaftes, echtes Gotteswort und Jesus hat sie mit ungeteilter Zuversicht ergriffen. Allein: „wiederum steht geschrieben.“ In derselben Weise, wie er die dem Glauben erteilte Zusage ergriff, war sein Ohr auch für die Warnung und Furcht Gottes offen. Er schaute mit dem gleichen hellen Blick und demselben Gehorsam in's Ganze der Schrift. Auf diesem Wege werden wir durch die vielen Wahrheiten, in welche die Bibel sich teilt, nicht verwirrt, sondern in die ganze Wahrheit geführt.

Haben wir auf jene drei ersten Fragen die rechte Antwort erlangt, so werden wir auch bei unserer letzten Frage uns zurechtfinden: ob die Schrift Glauben verdient. Jede lebendige Erinnerung an Gott hat den Antrieb zum Glauben bei sich. Denn in ihm wird uns der feste Stützpunkt sichtbar, auf den wir uns verlassen können in Ruhe und Sicherheit. Zeigt uns die Schrift Gott und ist sie des Geistes Frucht, so ist sie auch die große Erweckerin zum Glauben und wird uns zum Grund und Ziel einer festen und gewissen Zuversicht.

Wir müssen aber hiebei sorgfältig erwägen: was gilt uns als Glaubensgrund? Ist's die Macht? Und zur Macht gehört auch die Allwissenheit. Allwissenheit ist geistige Macht, über jede Schranke emporgehobenes Vermögen des Erkennens. Man hat zur Glaubwürdigkeit der Schrift oft dies gezählt, daß sie in jedem Wort vollständig richtig sei, daß nirgends ein Versehen vorliege, nirgends eine Dunkelheit, nirgends eine Differenz zwischen dem Sachverhalt und der Darstellung. Diese Fehllosigkeit besitzt die Bibel nicht, weder in ihrer Geschichtsschreibung, noch in ihrer Weissagung. Öfter, wenn der Erzähler aus der Ferne auf die Ereignisse zurückschaut, löst sich das geschichtliche Bild vom wirklichen Hergang der Sache deutlich ab. Und die Weissagung erfährt durch die Erfüllung nicht bloß Bestätigung, sondern auch Berichtigung. Dergleichen Beobachtungen kann man keinem Bibelleser ersparen. Und jetzt, wie steht's mit unserem Glauben an die Bibel? Fällt er oder hält er Stand?

Indem Gott durch Menschen spricht, macht er sie auch in ihrer Schwachheit zu seinem Organ. Der Glaubensgrund ist dadurch nicht verletzt. Läge uns in der fehllosen Richtigkeit der Bibel ein Meisterstück der göttlichen Macht vor Augen, wenn sie uns bloß die Macht Gottes zeigen würde, so wären wir dadurch noch nicht zum Glauben ermächtigt und berufen. Gottes Macht beugt uns und stellt uns in die Ferne und deckt die Kluft auf zwischen ihm und uns. Der Grund zum Glauben wird dadurch gelegt, daß die Gnade Gottes sich zu uns herniederläßt und uns zu ihm erhebt und die gütige, freundliche innige Beziehung zu uns stiftet, die uns an seiner Liebe und Gabe Anteil gibt. Hiefür ist die Schrift das vollgültige Zeugnis auch ohne allwissende Geschichtsschreibung und lückenlose Weissagung, und die Herablassung Gottes, welche die Männer der Bibel in seinen Dienst zog mitsamt den Schranken ihres Wesens, in welchen ihre persönliche Art und geschichtliche Lage sie festhielt, und gerade so seinen Namen durch sie verkündigen und preisen ließ, macht jenes Zeugnis nur um so kräftiger.

Etwas von der Kraft Gottes müssen wir freilich sehen, damit der Glaube in uns entstehen kann. Dieser getröstet sich der Gnade, weil sie allmächtig ist, und an der Gabe, die wir empfangen, erwacht der freudige Mut, der auf das vollkommene wartet. Würde die Schrift nur Dunkelheiten, Schwächen der Auffassung und Lücken des Wissens enthalten, so wäre sie nicht mehr Glaubensgrund. Allein wenn wir über dem, was etwa zur Schwachheit der biblischen Männer zu rechnen ist, übersehen, wie Großes ihnen gegeben war, so ist das unsre Schuld. Der Rückblick der biblischen Erzähler auf den Auszug Israels aus Ägypten ist nicht mehr in jeder Hinsicht sicher und richtig; dafür ist's aber eine große Wirkung Gottes, daß die Hauptsache an jenem Ereignisse so mächtig in Israel fortlebte, daß Gott selbst mit seinem gewaltigen Arm Israel nach Kanaan gebracht habe. Die Sprüche Jesu sind in der evangelischen Überlieferung mehrfach gruppiert und wir können nicht überall ihren ursprünglichen Wortlaut verbürgen. Aber was ändert das an dem großen Wunder, daß ein so helles und reines Bild Jesu in der Seele der Apostel entstand, und in der Gemeinde sich forterhielt? Wer Grund zum Glauben sucht, der findet ihn in der Schrift in reicher Fülle; denn wir stoßen in ihr überall auf ein großes Wirken Gottes und das ewige Licht seiner Wahrheit glänzt in ihr.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/s/schlatter_a/einleitung_in_die_bibel/schlatter_eidb_und_nun.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain