Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Markus.

Es ist nicht auffällig, daß ein Mann wie Markus sich aufgefordert sah, ein Evangelium zu schreiben. Wir lernen ihn aus der Apostelgeschichte als ein Glied der ersten Gemeinde in Jerusalem kennen. Sein jüdischer Name war Johannes. Im Hause seiner Mutter Maria gingen Petrus und die ersten Christen aus und ein. Er half dann selbst an der Verkündigung des Evangeliums mit und wurde von seinem Oheim Barnabas in die Gemeinde von Antiochien gezogen. Barnabas und Paulus hielten ihn für tüchtig, ihre erste Missionsreise mit ihnen zu unternehmen, und wenn sich auch Markus hier noch nicht bewährt hat, so hat er doch die Schwäche dieses Anfangs wieder gut zu machen gesucht und war bei der zweiten Reise wieder willig mit zu gehen. Doch Paulus schlug ihm dies ab. So ging er zunächst mit Barnabas nach Cypern, und erwarb sich durch seine Arbeit auch das Vertrauen des Paulus auf's neue, so daß er wieder unter der Zahl seiner Gehilfen erscheint. Auch mit Petrus blieb er in bleibenden Beziehungen. 1) Die spätern griechischen Lehrer sagen, er habe Petrus nach Rom begleitet und sei hernach der Gemeinde in Alexandrien vorgestanden. Diese Angaben mögen auf richtigen Traditionen beruhen, bieten freilich keine Sicherheit. Markus stand somit von Anfang an in besonderer Weise im Mittelpunkt der Kirche. Er hat die Erstlingsgestalt der jüdischen und diejenige der heidnischen Kirche gesehen, hat mit Petrus und mit Paulus längere Zeit in engem Verkehr gelebt, und war so Zeuge der apostolischen Predigt in besonderem Maß geworden. Sodann hat er selbst eine umfangreiche Lehrthätigkeit in der Kirche ausgeübt. Deshalb konnte sich ihm die Abfassung eines Evangeliums leicht als seine besondere Aufgabe darstellen.

Die Anfänge Jesu. 1,1-20.

Die Thaten, die Jesu Wirksamkeit einleiten, sind bei Markus das Auftreten des Täufers, die Taufe Jesu mit dem Zeugnis Gottes über ihm und sein Sieg in der Versuchung. Sodann sagt er uns, daß Jesus in seiner Predigt das Reich Gottes verkündigt und deshalb die Leute zur Buße und zum Glauben berufen habe, und daß er vier Jünger zu sich nahm.

Diese Einleitung hat, wenn wir an Matthäus denken, eine sehr gedrängte Gestalt. Auf Jesu Geburt wird nicht zurück geblickt. Aus der Predigt des Täufers werden die Buß- und Strafworte weggelassen und nur das Wort der Verheißung wird aufgenommen, welches die Erhabenheit Christi und die höhere Art seines Taufens anzeigt. Auch die Versuchung Jesu wird nicht im einzelnen dargestellt. Markus bleibt in der Weise der apostolischen Predigt, welche das Auge gleich auf das Ende und Ziel des Lebens Jesu richtete, und nicht das erörterte und klar machen wollte, wie Jesus geworden und herangewachsen sei, sondern uns den vollendeten Christus zeigt mit seiner Kraft und Gnade, auf die der Glaube der Gemeinde sich gründen soll. Ähnlich führt uns Markus rasch zum eignen, männlichen Wirken Jesu hin, durch welches er Israel seine Sendung von oben erwiesen hat.

Sodann zeigt schon dieser Eingang, so gedrängt er ist, daß Markus das, was er berichtet, ausführlich und farbenreich uns vor das Auge stellt. Er gibt nur ein einziges Wort des Täufers; dieses drückt aber die Demut des Täufers anschaulicher aus als das entsprechende Wort bei Matthäus.2) Die einzelnen satanischen Anforderungen an Jesus zählt er nicht auf, aber seinen Sieg zeigt er uns in einem bedeutsamen Bild: er war bei den wilden Tieren und die Engel dienten ihm, im Unterschied vom Menschen, welcher der Versuchung unterlegen ist und deshalb die Tiere der Wüste fürchten muß und von den Engeln geschieden ist. Bei der Berufung der Söhne des Zebedäus erwähnt er nicht nur ihren Vater, sondern auch die Taglöhner, damit die Zeichnung der Situation vollständig sei. Diese farbige, etwas ins Breite gehende Erzählungsweise, die auch die Außenseite der Ereignisse in's Auge faßt, erstreckt sich über das ganze Evangelium und bildet das, was man den besonderen Styl des Markus nennen kann, im Unterschied von Matthäus mit seiner knappen Art, die kein Wort gibt, das nicht direkt dem innern Ziele der Erzählung dient.

An den Eingang hat Markus zwei prophetische Worte gestellt, die das Kommen des Propheten verheißen, der Jesus den Weg bereitet hat. Er macht so zuvörderst auf die innere Verbindung aufmerksam, die zwischen Christus und dem Alten Testament besteht. Später flicht Markus selbst keine Anführung aus der Schrift in seine Darstellung mehr ein. Auch dies ist ein merkwürdiger Unterschied von Matthäus, welcher häufig an die Erfüllung der Weissagung erinnert. Wir werden darin ein Zeichen sehen dürfen, daß Markus zur heidenchristlichen Kirche spricht, in welcher er ja seine Missionsarbeit verrichtet hat. Dadurch wird auch die Auswahl, die Markus trifft, durchsichtig. Vieles von dem, was aus Jesu Leben zu erzählen war, war dem Verständnis eines Griechen nicht leicht zugänglich und auch für sein Gewissen von geringerer Bedeutsamkeit. Wer in Jerusalem gelebt hatte und sich selbst mit einem ernsten Riß vom Einfluß der Schriftgelehrten losringen mußte, für den war es eine wichtige und heilsame Sache, zu hören, wie schon der Täufer den Pharisäismus gescholten und gerichtet hat. Dem Heiden, der mit demselben innerlich nicht verflochten war, gibt Markus nur dasjenige Wort des Täufers, welches die Ankunft Christi verheißt. Was für eine Gewalt der Versuchung in den einzelnen satanischen Zumutungen an Jesus lag, wie sie Matthäus erzählt, war dem Juden leicht deutlich, der sich mit dem messianischen Beruf sofort alle Herrlichkeit des Himmels und der Erde verbunden dachte. Der Heidenchristenheit stellt Markus Jesus einfach als den Sieger über den Satan vor in seiner Erhabenheit über alle Kreise der Kreatur. Darum stellt Markus auch die Bergpredigt zurück, aus der er nur wenige Worte mit anderen Redestücken verwoben hat. Von dieser Warnung Jesu vor den bösen Schäden Israels war einem Manne aus Jerusalem jedes Wort durchsichtig und jedes Wort ein Quell neuen Lichts und ein Ruf zur Umkehr auf eine neue Bahn. Er war ja von Jugend an erzogen und abgerichtet zu al dem, was dort Jesus straft. Für einen heidnischen Mann war nicht das die Gabe, die ihm am leichtesten und tiefsten das Verständnis Jesu öffnete.

Seine erste Erzählungsreihe zeigt:

wie Jesus Galiläa in Bewegung bringt. 1,21-45.

Markus beginnt mit den Ereignissen am ersten Sabbath in Kapernaum; denn diese lassen uns Jesu königliche Hoheit erkennen. Der Geist eines Besessenen ruft ihn als den Heiligen Gottes aus und Jesus offenbart an ihm seine erlösende Macht. Hernach erfährt sie Petrus an seiner Schwiegermutter und nach dem Schluß des Sabbaths ganz Kapernaum. Allein Jesus entzieht sich dem staunenden Suchen der Menge, und wandert mit den Jüngern durch Galiläa. Der Aussätzige wird geheilt und solche Zeichen nötigen Jesus, wegen des Zudrangs des Volks in der Einsamkeit zu bleiben.

Hier sind die Stoffe und die Anordnung nur noch teilweise mit Matthäus in Übereinstimmung. Neue Erzählungen sind die Heilung des Besessenen in Kapernaum und der Aufbruch aus der Stadt. Durch diese neuen Stoffe wird das Bild jenes ersten Sabbaths völlig deutlich und lückenlos. Auch bei Matthäus heißt es, daß die Leute von Kapernaum ihre Kranken erst am Abend brachten, 8,16; aber man sieht dort nicht, weshalb. Denn er hat uns nicht gesagt, daß es Sabbath war, und nicht erzählt, was in der Synagoge geschehen war. Hier gibt Markus das Ganze zu dem, was bei Matthäus Bruchstück ist.

Neben die Bewunderung des Volkes stellt Markus den

Widerstand der Pharisäer. 2,1-3,6.

Jesus muß sein Recht Sünden zu vergeben, seinen freundlichen Verkehr mit den Zöllnern, die Freiheit, mit der er den Jüngern kein Fasten auferlegt, und den Sabbath sich nicht zum Hindernis seiner heilsamen Werke machen läßt, verteidigen. Die Zusammenstellung dieser Geschichten hängt deutlich mit ihrer innern Gleichartigkeit zusammen. Sie sollen zeigen, wie Jesu Gnade und Freiheit die Pharisäer wider ihn erregt.

Die beiden ersten Abschnitte haben die Bahn bestimmt, in der Jesu Wirksamkeit fortschreiten mußte. Er ist umringt von einer bewundernden Volksmenge und hat die Pharisäer als seine erbitterten Feinde wider sich. Jener gibt er seine großen Zeichen; diesen antwortet er mit dem schlagenden Wort.

Die großen Zeichen und Worte Jesu in Galiläa. 3,7-8,26.

Es wird ein allgemeines Bild vorangestellt. Jesus, vom Volke umdrängt, pflegt im Schiffe zu lehren. Auf dem Berg beruft er die Zwölfe als seinen geschlossenen Jüngerkreis. Die Seinigen nehmen an ihm Anstoß und die Pharisäer lästern ihn. Jesus warnt die Pharisäer vor der unverzeihlichen Versündigung und nennt den Seinigen den Kreis, dem er verbunden ist; das sind die, welche den Willen Gottes thun. Dem Volk gibt er den Unterricht über Gottes Reich nur in Gleichnissen. Markus gibt dasjenige vom Samen, der nicht überall aufgeht, von der Saat, welche die Erde von selbst zur Reife bringt, ohne des Menschen Bemühen, und vom Senfkorn, aus welchem das große Gewächs entsteht. Das mittlere ist bei Markus neu. An die Predigt auf dem See schließt sich die Überfahrt über denselben mit der Stillung des Sturms und der Heilung des Besessenen an. Dann folgt der Erweis der Macht Jesu über den Tod an der Tochter des Jairus und die Heilung des blutflüssigen Weibes, der Besuch in Nazareth, die Aussendung der Zwölfe und die Angst des Herodes vor Jesus mit den Bericht über des Täufers Tod. Während bisher die Ordnung des Markus sich mehrfach mit derjenigen des Matthäus kreuzte, bleibt sie von nun an ohne Ausnahme dieselbe. Nachdem der Evangelist die Rückkehr der Jünger zu Jesus erzählt hat, geht Jesus mit ihnen in die Wüste und speist dort die Tausende. Den Gang Jesu zu den Seinigen über den See erzählt er ohne das Wagnis des Petrus. Darauf folgt die Aufhebung der Reinigkeitsordnung durch den Herrn, die einzige Streitrede Jesu mit den Pharisäern, die er ausführlich wiedergibt, weil dies eine Frage betraf, die auch in der Heidenchristenheit viel besprochen wurde und für sie von großer Bedeutung war. Nach der Geschichte von der bittenden Heidin erzählt er neu die Heilung eines Taubstummen durch Jesu Gebet. Darauf folgt die zweite Speisung der Tausende, die Abweisung der Pharisäer, die ein Zeichen fordern, und die Sorge der Jünger der vergeßnen Brode wegen, und nochmals eine neue Heilungsgeschichte: Jesus bringt einen Blinden in allmählicher Heilung zum Sehen.

Von den Zeichen Jesu, die Matthäus in der ersten Hälfte des Evangeliums erzählt, fehlt bei Markus somit nur ein einziges: die Heilung des Knechtes des Hauptmanns von Kapernaum.3) Dagegen werden und die Reden Jesu weit weniger reichlich mitgeteilt. Ganz fehlt neben der Bergpredigt die Klage Jesu über den Stumpfsinn Israels im Anschluß an den Zweifel des Täufers, Mat. 11, und von der Aussendungsrede, der Antwort Jesu auf die Lästerung der Pharisäer und der Abweisung ihres Begehrens nach einem Zeichen wird nur der Grundgedanke gegeben. Von den Gleichnissen des Matthäus fehlen fünf und auch in der ausführlich erzählten Rede über die Reinigkeit werden die Worte übergangen, mit denen Jesus die Furcht des Petrus vor den Pharisäern niederschlägt. Das Buß- und Gerichtswort an Israel ist überall zurückgestellt.

Die Vorbereitung der Jünger auf Jesu Leiden bis zu seinem Einzug in Jerusalem. 8,27-11,11.

Das Bekenntnis der Jünger zu Jesus erzählt Markus ohne die Verheißung an Petrus, mit der Jesus bei Matthäus dessen Bekenntnis beantwortet, und bei der Heilung des mondsüchtigen Knaben hat er das Wort von der Berge versetzenden Macht des Glaubens nicht, das auch Matthäus beim Feigenbaum noch einmal bringt. Dafür erzählt er, wie Jesus den Vater des Knaben zum Glauben aufzurichten suchte. Es fehlt weiter das Zeichen bei der Einforderung der Tempelsteuer, das die Stellung der Jünger zum Gesetz regelte, und der größte Teil der Sprüche, die sich an ihren Streit untereinander anschließen. Dafür gibt er die Mahnung Jesu wegen des unzeitigen Eifers des Johannes, und im Zusammenhang mit den Sprüchen über das Ärgernis und die Verderbnis des Salzes das Wort vom Wurm, der nicht stirbt, und vom Opfer, das mit Feuer gesalzen wird. Die Belehrung über die Ehe wird ohne das Wort über die reine Ehelosigkeit gegeben und die Lohnverheißung an Petrus ohne die warnende Beschränkung derselben durch das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg.

Im Bericht über

den letzten Kampf im Tempel und die Abschiedsworte an die Jünger, 11,12-13,17,

scheidet Markus die Tage genauer als Matthäus und erzählt, nachdem er nur den Grundgedanken der Gerichtsrede über die Pharisäer angedeutet hat, wie sich Jesus nicht an den großen Gaben der Reichen, sondern am Scherflein der Witwe freute. Dagegen fehlen Jesu Freude am Ruf der Unmündigen, das Gleichnis von den beiden Söhnen, vom Gastmahl, von den Thörinnen, vom Schalksknecht, und das große Gerichtsbild, wo Jesus denen, die ihm Gutes thaten, mit dem Himmelreiche dankt. Auch im

Kreuzigungsbericht, 14,1-16,8,

finden sich einige Abschnitte des Matthäus bei Markus nicht: der Tod des Judas, die Besorgnis der Frau des Pilatus, die feierliche Erklärung des Pilatus von der Unschuld Jesu, indem er die Hände auf dem Richtstuhl wäscht, die Auferstehung der Heiligen bei Jesu Tod, die Grabeswache, und die Erscheinung Jesu vor den Frauen bei ihrer Rückkehr vom Grab. Eigentümlich ist Markus der Jüngling in Gethsemane, der lieber sein Gewand fahren, als sich mit Jesus greifen ließ4).

Der Schluß des Evangeliums enthält noch ein seltsames Rätsel. Der Evangelist erzählt, wie die Frauen am leeren Grabe aus dem Munde von Engeln die Botschaft der Auferstehung hören und den Auftrag erhalten, den Jüngern zu sagen, sie sollten nach Galiläa gehen. Und nun hört in den ältesten Bibeln das Evangelium auf mit den Worten: „sie flohen vom Grabe weg, denn sie waren von Zittern und Entsetzen ergriffen, und sie sagten niemand etwas, denn sie fürchteten sich,“ V. 8.

In andern Bibeln steht freilich noch der Schlußabschnitt, den auch unsre deutschen Bibeln haben, V. 9-20. Allein derselbe ist sicher nicht von der Hand des Markus, nicht nur deshalb, weil er in vielen alten Bibeln gefehlt hat, sondern auch darum, weil er eine kurze Zusammenstellung aus den Ostergeschichten der andern Evangelien enthält. Dieser Schluß wurde beigefügt, weil man das abgerissene Ende störend fand. Es ist in der That wenig glaublich, daß Markus seine Erzählung mit jenen Worten aufhören ließ. Es sind zwar dem Evangelisten nicht die einzelnen Ostererscheinungen, sondern Christi Auferstandensein die eine große Hauptsache, die das Ziel und Ende seines Berichts bilden sollte, und diese wird schon durch das, was wir noch von der Hand des Markus haben, unzweifelhaft bezeugt. Aber auch durch diese richtige Bemerkung wird nicht wahrscheinlich, daß Markus damit geschlossen haben soll, daß der Auftrag der Engel durch die Frauen verschwiegen wird und die Osterbotschaft gar nicht zu den Jüngern dringt. Der ursprüngliche Schluß des Evangeliums muß irgendwie verloren gegangen sein, etwa so, daß dem Exemplar, von dem die in der Kirche verbreiteten Abschriften stammen, die letzten Zeilen fehlten. Wahrscheinlich erzählte Markus noch eine Erscheinung Jesu vor den Aposteln, die das, was die Furcht der Frauen zuerst verschwieg, an den Tag brachte und gewiß machte.

Durch die verschiedene Auswahl des Stoffes erhält Jesu Bild bei Markus eine etwas andere Gestalt als bei Matthäus. Bei Markus überwiegt Jesu freundliche Milde die ernste, erschütternde Majestät, die uns Matthäus in Jesus zeigt. Matthäus beginnt Jesu Wirksamkeit mit der Bergpredigt, Markus mit dem Sabbath in Kapernaum. Jene fordert die Umkehr von den bösen Wegen Israels; hier offenbart sich Jesus als der Erlöser aus des Satans Banden. Lehrreich ist auch die Predigt in Gleichnissen. Während das zweite dem Acker entnommene Bild bei Matthäus warnender Art ist und den Jüngern vorhält, daß sich gerade in ihrem Kreise das Unkraut finde, welches bei der Ernte verbrannt werden wird, gibt uns Markus das Bild von der Saat, die von selber wächst, ein Wort, das zum ausharrenden Hoffen und Vertrauen mahnt. Markus hat den Bußprediger und Richter aller menschlichen Bosheit, den uns Matthäus in Christo zeigt, nicht verleugnet und begraben; er findet sich auch bei ihm. Aber vor allem stellt er uns Jesus dar in seiner Heilandsmacht, wie er in der Kraft Gottes jede Bitte erfüllt, die Hilfe gewährt und uns zum Glauben beruft. Der Blick ist nicht mehr in derselben Weise wie bei Matthäus auf Jesu Erniedrigung und Verborgenheit, auf Israels Unglaube und Fall gerichtet. Markus zeigt uns freudig die Offenbarung der Macht Gottes in ihm, wie sie das Volk in Scharen zu ihm zog, und wenn sich die Pharisäer an ihm ärgerten, so war es eben diese Macht und Güte, gegen die sie sich erbitterten.

Dadurch steht Markus gegen Matthäus zugleich im Nachteil und im Vorteil. Der Nachteil besteht darin, daß der Reichtum und innere Aufbau des Lehrworts Jesu, den uns Matthäus erkennbar macht, bei ihm nicht in derselben Weise wahrgenommen werden kann, weil er die großen Reden nicht aufgenommen hat. Matthäus öffnet den tieferen Zugang zur Erkenntnis Christi. Wiederum ist des Markus Vorzug sein heller, faßlicher Überblick über den äußeren Gang der Wirksamkeit Jesu und mehr innerlich die Einfachheit, mit der er uns in Jesus den großen Helfer zeigt, den uns Gott gegeben hat als unsers Glaubens Grund.

Beide Evangelien sind nicht unabhängig von einander entstanden. Die wörtliche Übereinstimmung ist zwischen beiden an vielen Stellen auch in den kleinen Einzelheiten des Ausdrucks und der Darstellung sehr groß, und die Abweichungen lassen sich nicht immer, aber oft nach ihrem Grund verstehn. Nun könnte man zunächst das Band zwischen beiden in der Erinnerung und mündlichen Überlieferung suchen. Aber auch die Reihenfolge der Abschnitte ist bei beiden Evangelisten dieselbe.5) Auch diese war den Evangelisten teilweise durch den Gang des Lebens Jesu vorgeschrieben. Ferner ist wohl denkbar, daß schon in der mündlichen Lehrweise einzelne Erzählungsreihen nach sachlichen Gesichtspunkten fest aneinander gefügt worden sind. Man mag z. B. die drei Einwürfe der Pharisäer, wegen der Sündenvergebung, wegen der Aufnahme der Zöllner und wegen der Aufhebung des Fastens, oder Jesu Belehrung über die Ehe, die Kinder und den Reichtum von jeher und stets in dieser Ordnung erzählt haben. Das alles hebt jedoch nicht auf, daß die Gruppierung und Zusammenfügung der einzelnen Erzählungsstücke vor allem das Werk des Evangelisten war. Und da sie hierin übereinstimmen und zwar durch das ganze Evangelium hindurch, so läßt sich aus dieser Beobachtung das Ergebnis gewinnen, daß unsre beiden ersten Evangelien zwei Bearbeitungen eines und desselben Berichte über Jesus sind.

Mit diesem Resultate müssen wir uns vorerst begnügen. Es wäre nicht ohne Interesse, wenn sich genauer ermitteln ließe, wie sich die beiden Darstellungen zu einander verhalten. Aber die Arbeit, die auf diese Frage verwandt worden ist, hat noch zu keinem deutlichen, festen Abschluß geführt. Der Hergang läßt sich in verschiedener Weise denken. Manches läßt sich dafür sagen, daß uns Matthäus den ersten, ursprünglichen Bericht über Jesus gebe. Dann hat ihn Markus zum Gebrauch der Heidenchristenheit vereinfacht, doch so, daß er seine Darstellung mit manchen anschaulichen Zügen nach seiner eigenen Kenntnis der apostolischen Erzählungen vermehrte. Oder die Evangelienschreibung hat auf dem Gebiet der heidenchristlichen Kirche begonnen. Ihr wurde zuerst neben der mündlichen Erzählung von Jesus ein schriftliches Evangelium dargeboten, damit ihre Kenntnis Jesu rein und sicher sei. So wäre das Evangelium des Markus die selbständige und erste Arbeit, die Matthäus hernach erweitert hat, um das Wort Jesu reicher aufzubewahren, namentlich im Blick auf das, was Jesus Israel zu sagen hatte. Aber auch noch eine dritte Möglichkeit muß in Erwägung gezogen sein. Beide Evangelien können gleichzeitig mit einander aus einem dritten Bericht erwachsen sein, der nunmehr in den Gemeinden nicht mehr gebraucht wurde und deshalb nicht auf uns gekommen ist. „Viele“, sagt uns Lukas, „haben es unternommen, einen Bericht über die Dinge abzufassen, die unter uns zur Vollendung gekommen sind, Luk. 1,1.6) Und es ist sehr begreiflich, daß mancher Mann zur Feder griff, um das, was er von Jesus wußte und hörte, für sich und diejenigen, mit denen er zusammenlebte, aufzuzeichnen. Das Verlangen nach einer hellen und reichen Darstellung Christi war in der auf Jesu Namen gegründeten Gemeinde überall lebendig. Auf eine unseren Evangelien vorangehende Aufzeichnung scheint eine alte Nachricht zu weisen, die uns Papias, der in jenem Hierapolis in Kleinasien, welches auch im Kolosserbrief erwähnt wird, gegen die Mitte des zweiten Jahrhunderts als alter Mann Bischof war, übermittelt hat. Er berichtet: „Matthäus hat in hebräischer Sprache die Aussprüche Jesu zusammengestellt, die dann jeder, so gut er konnte, übersetzte“.7)

Wenn sich hier, was freilich sehr zweifelhaft ist, eine richtige Erinnerung erhalten hat, so käme unserm Evangelium der Name des Matthäus deshalb zu, weil es sich an die ältere Schrift dieses Apostels anlehnte. Gewiß ist, daß der Verfasser des ersten Evangeliums ein hebräischer Mann gewesen ist, der nicht nur mit der griechischen, sondern auch mit der hebräischen Bibel bekannt und mit der frommen Art und Unart Jerusalems genau vertraut war. Weiter ist gewiß, daß hinter dem ersten Evangelium eine gewaltige Persönlichkeit steht, die eine helle, reiche Erkenntnis Jesu mit fester Zeichnung in sehr bestimmten Linien zum Ausdruck bringt. Er ist unter den drei ersten Evangelisten die gewaltigste Gestalt. Was er sagt, führt uns in die erste Christenheit, in ihr Ringen mit dem Pharisäismus, in ihr Leid um die Verderbnis der Judenschaft, in den thatkräftigen Ernst, mit dem sie sich zum Anbruch des Reiches Christi rüstete. Würden wir die eigene Predigt des ersten Evangelisten hören, so wäre sie von der Art des Jakobusbriefs.

Auch über Markus ist uns von Papias eine Nachricht aufbewahrt. Er hat in seinen jüngern Jahren noch mit Männern verkehrt, welche nicht bloß die Apostel, sondern auch Jesus selbst gesehen hatten. Er nennt unter ihnen namentlich einen Johannes, wobei es freilich nicht zweifellos ist, ob er den Apostel Johannes meint. Diesen „Alten“ hat er über das Evangelium des Markus folgendes sagen hören: „Markus, der des Petrus Dolmetscher gewesen ist, hat, was ihm von den Worten oder Thaten Christi bekannt war, genau aufgeschrieben, jedoch nicht der Ordnung nach. Denn er hat den Herrn nicht gehört und ist ihm nicht nachgefolgt, wohl aber folgte er später dem Petrus nach, der sein Lehren nach den Umständen einrichtete und nicht in der Absicht, um eine Zusammenstellung der Worte des Herrn zu veranstalten. Daher hat Markus nicht gefehlt, wenn er einiges in der Art schrieb, wie er es im Gedächtnis hatte. Denn er war auf eins bedacht, nichts von dem, was er gehört hatte, zu übergehen und nichts davon zu verfälschen.“8)

Die Nachricht ist darum wertvoll, weil sie zeigt, warum man diese Evangelien und keine andern zum öffentlichen und ausschließlichen Gebrauch den Gemeinden übergab. Man fragte: wer hat sie verfaßt? bietet die Person des Verfassers Sicherheit für eine richtige Darstellung von Jesu Wort und Werk? Der alte Jünger wurde gefragt, was er von Markus halte, eben weil Markus kein Apostel war. Aber man prüfte auch den Inhalt des Evangeliums. Der alte Jünger hebt an Markus einen doppelten Mangel hervor, daß ihm manches von dem, was Jesus gesagt und gethan habe, nicht bekannt gewesen sei und daß er nicht der Ordnung nach erzähle. Der Mangel an Vollständigkeit und an Ordnung mußte freilich jedem Jünger, der den Herrn noch selbst begleitet hatte, lebhaft entgegentreten. Er fand hier vieles nicht wieder, was er aus Jesu Mund gehört hatte, und manches nicht mehr an seinem ursprünglichen Ort. Aber der Jünger erklärt und entschuldigt diese Mängel, weil sie für Markus unvermeidlich waren und daher rühren, daß er seinen Stoff der apostolischen Predigt entnahm. Er hat deshalb dennoch das Büchlein des Markus empfohlen, weil das, was er gebe, richtig sei, wirklich Jesu Wort und That.

1)
Vgl. über Markus: Ap. 12,12.25. 13,5.13.1 5,37.39. Kol. 4,10. 2 Tim. 4,11. Philem. 24. 1 Petr. 5,13.
2)
Während der Täufer Mt. 3,11 sagt: ich bin nicht geschickt, ihm die Schuhe wegzutragen, sagte er bei Mark. 1,7: ich bin nicht geschickt mich zu bücken und den Riemen seiner Schuhe zu lösen. Die demütige Dienstleistung des Knechts ist in aller Anschaulichkeit dargestellt.
3)
Außerdem die beiden Blinden und der Besessene, Matth. 9,27-34, wozu aber auch bei Matthäus sich noch Parallelen finden, und diese letzteren fehlen bei Markus nicht.
4)
Die Vermutung hat einige Wahrscheinlichkeit, daß uns Markus hier erzähle, wie er selbst mit Jesus und seiner Passion in Berührung kam.
5)
Die Abweichungen in der Ordnung gehen nur darauf zurück, daß diejenigen Geschichten, die Math. Kp. 8 u. 9 zusammenstellt, bei Markus in drei Gruppen gesondert sind. Er beginnt mit dem Auftreten Jesu in Kapernaum und schließt hieran die weitern Ereignisse in dieser Stadt nebst der Heilung des Aussätzigen. Eine zweite Gruppe bilden die Erzählungen, die den Widerspruch der Pharisäer zeigen; aus diesen hat Markus zusammen mit den beiden Sabbathgeschichten eine einheitliche Reihe gebildet. Endlich hat er die Überfahrt über den See mit der Stillung des Sturmes und der Heilung des Besessenen, Jairus und das blutflüssige Weib, hinter die Predigt auf dem See gestellt. Nun bleibt nur noch eine einzige Abweichung übrig: die Aussendung der Jünger hat er nicht vor, sondern hinter den Gleichnissen und dem Besuch in Nazareth erzählt.
6)
In den Worten des Lukas liegt kein Tadel gegen die, die vor ihm ein Evangelium geschrieben haben. Lukas rechtfertigt ja durch ihr Beispiel sein eigenes Werk. Das Wort, das er braucht und das Luther kräftig mit „sich unterwunden haben“ übersetzt, deutet allerdings an, daß die Aufgabe, Jesus zu beschreiben, eine unendlich große sei, die keinem ganz gelinge. Eben darum stützt sich Lukas auf das Beispiel der andern, wenn auch er Hand an diese große Sache zu legen wagt.
7)
Mit dem zweiten Satz scheint Papias an die andern Evangelien zu denken, so daß er die Verwandtschaft derselben dadurch erklärt, daß sie alle die hebräischen Aufzeichnungen des Matthäus benützten und übersetzten. Man hat oft großes Gewicht darauf gelegt, daß Papias nur von den Aussprüchen Jesu redet, als wäre dies ein Wink über die Art des ältesten Evangeliums, das nur eine Sammlung von Worten Jesu gewesen sei, während man denselben erst später auch Geschichten beigegeben habe. Daß Papias das sagen wollte, ist höchst unwahrscheinlich. Er denkt, wie man in der Kirche seiner Zeit in weiten Kreisen dachte, und sieht in Jesus vor allem den göttlichen Lehrer. Deshalb sucht er im Evangelium zumeist eine Sammlung seiner Worte, ohne daß er damit die Geschichten von demselben ausschließen will. Übrigens wird die ganze Angabe deshalb unsicher, weil eine Verwechslung mit dem sog. „Hebräerevangelium“ vorliegen kann. Es gab auch nach den jüdischen Kriegen und der Umwandlung Jerusalems in eine heidnische Stadt jüdische Christengemeinden, welche beim Gesetz blieben und ihre heimische Sprache redeten. Zwischen ihnen und der griechischen Kirche bildete sich aber eine tiefe Kluft. Diese ertrug ihre Besonderheiten nur mit Widerwillen, und sie selbst schlossen sich völlig ab und verkümmerten teils im Dienst leerer religiöser Formen, teils dadurch, daß sie phantastischen Träumereien über Gott und Christum bei sich kaum verstatteten. Auch lebten sie abseits vom Verkehr jenseits des Jordans und in den anstoßenden Gegenden Syriens und Arabiens. Diese jüdisch-christlichen Gemeinden brauchten ein Evangelium in ihrer heimischen Sprache, von dessen Existenz man auch bei den Griechen einige Kenntnis hatte; man nannte es dort das Evangelium der Hebräer. Diese Schrift war jedoch nicht die ursprüngliche Gestalt, sondern eine Verunstaltung des Matthäus, teils durch legendenhafte Ausmalungen, teils durch Eintragung trüber Spekulationen. Da aber die griechischen Lehrer die Beschaffenheit dieser Schrift nicht kannten, lag ihnen die Vermutung nahe: dieser hebräische Matthäus werde das Original des griechischen Evangeliums sein.
8)
Papias hat hiebei freilich seine eigenen Meinungen über die apostolische Zeit, die schon sehr trübe und verkehrt gewesen sind, mit dem gemischt, was der alte Jünger gesagt hat. Daß Petrus einen Dolmetscher bedurft habe und Markus ihn deshalb beständig begleitet habe, das ist des Papias irrige Vorstellung, und das Bestreben, das Ansehen des Markus dadurch zu vergrößern, daß seine Schrift indirekt mit dem Ansehen des Petrus bekleidet wird, zeigt die hierarchische Art der spätern Bischöfe. Aber ganz erfunden ist der Bericht sicherlich nicht.
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