Römheld, Carl Julius - Predigt am ersten Sonntage des Advents.
Sei uns willkommen, Herr, unser Heiland, der du heißt Wunderbar, Rat, Kraft, Held, Ewig-Vater, Friedefürst. Dein wollen wir sein und bleiben, du treuer Gott und Herr, von dir lass uns nichts treiben, halt uns bei reiner Lehr! Amen.
Text: Ev. Matth. 21,1-9.
Da sie nun nahe bei Jerusalem kamen gen Bethphage an den Ölberg, sandte Jesus seiner Jünger zwei, und sprach zu ihnen: Geht hin in den Flecken, der vor euch liegt, und bald werdet ihr eine Eselin finden angebunden und ein Füllen bei ihr; löst sie auf und führt sie zu mir. Und so euch jemand etwas wird sagen, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer; so bald wird er sie euch lassen. Das geschah aber alles, auf dass erfüllt würde, das gesagt ist durch den Propheten, der da spricht: Sagt der Tochter Zion: siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen der lastbaren Eselin. Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte; und brachten die Eselin und das Füllen, und legten ihre Kleider darauf, und setzten ihn darauf. Aber viel Volks breitete die Kleider auf den Weg; die andern hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Das Volk aber, das vorging und nachfolgte, schrie und sprach: Hosianna dem Sohne Davids; gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!
Geliebte in dem Herrn! Es ist ein in mancher Beziehung rätselhaftes Ereignis, von welchem wir eben gelesen haben. Über ein großes Volk kommt plötzlich eine Begeisterung, ein Freudenrausch, sie begrüßen den armen Jesus von Nazareth, den sie doch schon oft gesehen, aber wenig geachtet hatten, mit einem wahren Enthusiasmus, mit tausendstimmigem Jubel. Sie streuen ihm nicht bloß Palmen auf den Weg, den er reitet, sondern sie nehmen sich sogar die Kleider vom Leibe und breiten sie statt der Teppiche aus, damit er als ein König und Herr darüber hin reite. Und als er nun zu Jerusalem hinein reitet, da ist die ganze Stadt in Bewegung, es ist ein Getümmel, ein Laufen und Rennen, dass sich die Menschen fast erdrücken. Alle Fenster nach den Straßen sind besetzt, auf vielen Dächern stehen die Leute Kopf an Kopf, und lautes Jauchzen erfüllt die Luft.
Weil wir nun denkende Menschen sind, so lesen wir diese Begebenheit nicht, um sie dann auf sich beruhen zu lassen, sondern wir geben uns Rechenschaft darüber, woher das ungewöhnliche Ereignis kam, wir suchen uns das Rätselhafte so viel als möglich zu erklären. Wir fragen nach Grund und Ursache der Begebenheit, wir fragen aber auch nach ihrer Wirkung, wir suchen in das Wesen dieser Geschichte und in das innere Leben des Volkes bei seinem Freudenrausche einzudringen. Aber wir wollen noch mehr wissen, als das. Wir fragen auch: Ist denn diese Geschichte bloß damals vorgefallen, ist sie eine alte und für immer vorübergegangene Geschichte? Oder ist sie vielleicht eine lebendige Geschichte und Begebenheit? ein Zustand, der auch in andern Völkern fortgelebt hat und vielleicht heute noch fortlebt? Will uns und unserem Volke vielleicht Gott etwas an diesem ersten Adventssonntage mit dieser Geschichte sagen?
Meine Lieben, was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben. Lasst uns betrachten
Die letzte göttliche Begeisterung des Volkes Israel.
Wir reden 1) von der Huldigung, 2) von ihrer Veranlassung, 3) von ihrer Wirkung.
I. Die Huldigung.
Achten wir vor allen Dingen auf den Jubel des Volkes, auf sein Zujauchzen. Das war ein zweifaches. Erstens jubelten sie ihm zu: Hosianna dem Sohne, dem Nachkommen Davids! Damit sagten sie: Du bist unser rechtmäßiger König, der Nachkomme des einst von Gott erwählten und eingesetzten Königs David.
Zweitens jauchzten sie ihm zu: Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! „Gelobt“ heißt soviel, wie gepriesen, angebetet. Der Herr, das ist Jehova, der geoffenbarte Gott, Gott der Sohn, der sich im alten Bunde geoffenbart hatte als den, der da ist und der da war und der da kommt. Und das heißt Jehova. Sie begrüßten ihn also: Du bist der, der da kommt, und zwar kommst du im Namen des Herrn, du bist der Jehova, unser ewiger König, der Bundesgott Israels.
Diese zweifache Begrüßung war eine Huldigung. Einem König, wenn er den Thron besteigt, huldigt sein Volk. Was heißt das? Das heißt: Es begrüßt ihn mit Freuden als seinen neuen rechtmäßigen Herrscher und Regierer und verspricht ihm Gehorsam. Das Versprechen des Gehorsams kann in ausdrücklichen Worten, es kann auch durch das ganze Verhalten geschehen. Das Volk Israel huldigte mit diesem zweifachen Rufe dem Herrn Jesu als seinem nunmehrigen Regierer und König.
So lange die Welt steht, hat es eine solche Huldigung nicht gegeben. Auch heutzutage huldigt wohl ein großes Volk einem edlen Beherrscher freiwillig und mit Begeisterung. Als z. B. im Jahre 1870 unser Kaiser mitten im französischen Lande und in der französischen Königsstadt die Zügel der Regierung über ganz Deutschland ergriff, da erfüllte inniger Jubel und heißer Dank unser Volk, soweit es drüben in Feindes Land stand; und durch unser Volk hier im Vaterlande ging eine gottgewirkte Begeisterung und Freude darüber. Und noch heute, wenn er persönlich irgend wohin kommt, so begrüßt ihn das Volk mit tausendstimmigen Freudenrufen. Das ist auch eine Huldigung, und zwar eine freiwillige und von Herzen kommende.
So freiwillig und von Herzen war auch die Huldigung, welche hier das jüdische Volk dem Herrn Jesu darbrachte. Aber was sich sonst bei keiner Huldigung eines Volkes auch gegen seinen besten Herrscher findet, was hier einzig in seiner Art war, das ist das: Das Volk Israel huldigte dem Herrn Jesu nicht nur als seinem menschlichen und irdischen Könige in den Worten: Hosianna dem Sohne Davids! sondern es huldigte ihm auch als seinem göttlichen, ewigen und himmlischen Herrn und König in dem Freudenruf: Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! und in dem weiteren Rufe: Hosianna in der Höhe! Denn diese letzteren Worte waren eigentlich ein Gebet, welches das Volk an den Herrn Jesum richtete, und sie bedeuten: Gib doch Heil in der Höhe!
Offenbar war bei diesem unvergleichlichen Einzuge des Herrn Jesu ein helles Licht richtiger Gotteserkenntnis über das Volk gekommen, dass sie in diesem Manne, der so sanftmütig, niedrig und demütig in die Hauptstadt und ehemalige Residenzstadt des ganzen Volkes hineinritt, den Herrn Messias, den König über die ganze Welt, und zugleich den Menschen, den König über ihr Volk, erkannten.
Hier muss ich etwas weiter zurückgreifen. Das Volk der Juden ist nun in allen Ländern und Erdteilen zerstreut, hat kein Vaterland und ist kein eigentliches Volk mehr. Aber es war einst ein blühendes, glückliches und mächtiges Volk gewesen; unter David hatte es seine höchste Blütezeit gehabt. Dieser David war aber auch der Mann nach dem Herzen Gottes gewesen. Seitdem war's mit dem Volke von Jahr zu Jahr und von Jahrhundert zu Jahrhundert zurückgegangen. Erst hatte sich das ganze Volk in zwei Reiche gespalten. So hat es einige hundert Jahre lang gelebt, aber sein Leben war nur ein allmähliges Hinsterben. Glaube, Gottesfurcht, Sittlichkeit, Sicherheit, Wohlstand waren stets mehr in Verfall geraten. Oft und schrecklich hat sie Gott der Herr gezüchtigt. Dann bekehrten sie sich wohl zu ihm und Gott half ihnen wieder. Aber noch schneller verließen sie den Herrn wieder und lebten ihren Lüsten. Endlich kamen die Eroberer von außen, unterjochten das Volk und führten es zum großen Teil in andere Länder gefangen. Nun hatten sie gar keine Könige mehr. Zuletzt kamen sie noch ganz unter fremde Herrschaft, wie etwa das ehemalige Königreich Polen. O, es wurde ein unglückliches Volk!
Als nun Jesus aus dem Geschlechte und der Familie Davids erschien, da hatte das Volk schon mehrere hundert Jahre keine angestammte Könige und keine feste Regierung mehr, und sie waren ein unterjochtes Volk. Wie aber die Polen bis heute die Hoffnung nicht aufgegeben haben, wieder ein vereinigtes und selbständiges Reich zu werden, so hatte auch das Volk Israel diese Hoffnung nach so langer Zeit noch nicht aufgegeben. Nun war Jesus als Menschensohn, als Davidssohn, wirklich der rechtmäßige Thronerbe über Israel. Er war aber als Gottes Sohn zugleich der höchste Herr über die ganze Welt. Und dieser Gedanke, diese Gewissheit blitzte dem Volke eben, da sie ihn auf einem Esel zu Jerusalem hineinreiten sahen, auf einmal durchs Herz, und sie wurden gewiss: Er ist's, er ist der Jehova Christus, der längst von den Propheten verheißene Davidssohn und Messias!
Zugleich erfasste sie mit Macht die Hoffnung: Jetzt wird das Reich Israel wieder aufgerichtet, jetzt werden wir wieder ein freies, großes, selbständiges Volk! Und daher auf einmal der Freudenjubel, diese Huldigung in zweifachem Sinn.
Dabei ist noch zu bemerken, dass damals nicht bloß die Bewohner der großen Hauptstadt in Jerusalem versammelt waren, sondern viel Volk aus dem ganzen Lande. Denn das hohe Osterfest war vor der Tür, und da sammelte sich das Volk aus dem ganzen Lande in der Stadt des Tempels. Es war das also eine Huldigung des gesamten Volkes gegen Jesum. Wir reden
II. Von der Veranlassung zu dieser Huldigung.
Wie kam das Volk so plötzlich zu dieser Erkenntnis, zu diesem Lichte, zu dieser Hoffnung, zu dieser Huldigung? Drei Jahre war es nun, dass Christus durch Wort und Tat seine Herrlichkeit im Volke offenbart hatte. Am meisten zwar in Galiläa, doch auch in anderen Teilen des Landes hatte er unerhörte Gotteswerke vollbracht. Das Volk staunte sie zwar an, zog Nutzen daraus, befriedigte seine Neugierde und Wundersucht, aber es blieb, wie es war, ungöttlich und gott-los. Indessen wurden die Taten immer gewaltiger, es standen sogar Tote auf durch Jesu Wort. Da ging denn doch eine tiefere Bewegung durchs Volk, im ganzen Lande rumorte es, und man fragte vielfach: Wer ist der Jesus von Nazareth? Von wannen ist er? Sollte er nicht der Christus vom Himmel sein?! Endlich erfolgte die Auferweckung des Lazarus, dessen Leiche schon vier Tage in Verwesung begriffen war. Das ging denn doch über alles, was man selbst vom größten Propheten erwarten konnte, das wirkte durchschlagend nach zwei Seiten hin. Bei vielen war seit der Auferweckung des Lazarus die Ermordung Jesu eine beschlossene Sache. Denn durch das Volk ging nun die Ahnung: Er ist's! Und das mag wohl die äußere Veranlassung zu der jauchzenden Huldigung des Volkes gewesen sein.
Die Hauptsache ist und bleibt aber die innere Anregung. Es ist nicht zu bezweifeln, dass Gott der Herr selbst ihnen auf einmal die Augen öffnete, es kam eine Anregung des Heiligen Geistes, eine innere Erleuchtung über sie. Noch einmal kam Gott der Herr dem Volke, das zum Gerichte und Untergang reif war und fast schon in den letzten Zuckungen lag, zu Hilfe durch ein Licht von oben, durch ein Aufwecken und Aufrütteln des Heiligen Geistes, damit sie noch in der letzten Stunde Jesum Christum erkennen, sich ihm hingeben, sich von Sünden erlösen, mit Gott vereinigen und vom Untergang retten lassen sollten.
Dazu kam endlich noch eine dritte Veranlassung. Der Heilige Geist wirkt nicht unmittelbar, sondern er ist für uns Menschen an Gottes Wort gebunden. Ein solches Gotteswort hatte das Volk im Propheten Zacharia. Schon vor einigen hundert Jahren hatte der Herr Jehova dem Volke durch diesen Propheten gesagt: Du Tochter (d. h. Stadt) Zion, freue dich sehr, und du Tochter Jerusalem, jauchze; siehe, dein König kommt, er kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm, und reitet auf einem Esel und auf einem jungen Füllen der Eselin!
Wie es nun mit vielen gehörten und gelernten Worten aus der Bibel geht: sie werden vergessen, man weiß keinen Gebrauch davon zu machen, und mancher denkt: Wozu habe ich doch diesen und jenen Spruch gelernt? das hat doch gar keinen Nutzen. Da auf einmal kommt ein Ereignis im Leben und weckt den Spruch, der längst vergessen war, der aber in der Tiefe der Seele noch vergraben lag. Und nun wird das längst vergessene Bibelwort lebendig, und es zeigt sich, dass es nicht vergeblich gehört und gelernt war; jetzt sieht man ein, wozu man es brauchen kann. Das Leben muss die Bibel auslegen, muss das gelernte Bibelwort wecken und lebendig machen. Die Anfechtung, das Kreuz und allerlei sonstige Ereignisse lehren aufs Wort merken.
So ging es auch hier. Im nationalen Unglücke des Volkes, bei seinem zunehmenden Rückgang und Verfall wurden von vielen noch besonders die Stellen und Abschnitte der heiligen Schrift gelernt und getrieben, in welchen Gott von dem zukünftigen Erlöser und Retter des Volkes geweissagt hatte. Denkt nur, wie's uns geht, wenn wir im Unglück sind. Da hören wir auch am liebsten die Worte und Reden, die uns wieder bessere Zeiten und Glück verheißen. So geht's auch einem ganzen Volke, wenn's im Unglück ist.
Unter diesen Stellen befindet sich auch die Weissagung: Du Tochter Zion und du Stadt Jerusalem jauchze; siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm, und reitet auf einem Esel und auf einem jungen Füllen der Eselin! Das hatte wohl mancher gelernt. Aber der König, der Gerechte und Helfer, kam nicht und kam nicht; und so wurde das Wort vergessen, oder wenigstens nicht beachtet, es blieb ein totes Wort. Niemand dachte daran.
Da sah auf einmal das Volk den, der so oft von sich gesagt: Ich bin vom Himmel gekommen, ich bin der Sohn Gottes, ich bin das Leben, den, der so große göttliche Taten getan, der den verwesenden Leichnam des Lazarus wieder lebendig gemacht, den sah es auf einmal im sonderbarsten Aufzug von der Welt. Auf einem Esel reitend und ein Eselsfüllen nebenher führend, zog er in Jerusalem ein. Und grade das Absonderliche seines Aufzuges rief ihnen augenblicklich das alte, bisher nicht beachtete weissagende Gotteswort ins Gedächtnis und Bewusstsein. Und einer sagte zum andern: Du, das ist ja grade so, wie im Propheten steht, sieh nur den Esel, auf dem er reitet, und das Eselsfüllen daneben! Und einer oder der andere führte den Spruch an: Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm, und reitet auf einem Esel und auf einem jungen Füllen der Eselin! Wahrhaftig, sagte ein anderer, das ist ja buchstäblich so, wie der Prophet vor Jahrhunderten geweissagt hat, das ist bisher noch nie geschehen, der ist's, in dem ist die Weissagung erfüllt, der ist unser König, der ist's, der da kommen soll!
Und unter dem inneren Lichte, unter dem Anregen des Heiligen Geistes wurde die Ahnung zur Gewissheit: „Er ist's!“ Und damit war auch die Hoffnung gewiss: Jetzt ist die Zeit des nationalen Elendes vorbei, der ist der Gerechte und Helfer. Und nun brach sich der Jubel und die jauchzende Huldigung Bahn und pflanzte sich fort von Mund zu Mund und wurde zu einem allgemeinen Freudenrausch. Und an diesem Jauchzen erkannten sie um so gewisser, dass sie sich nicht irrten. Denn in dem alten weissagenden Gottesspruch stand auch das Jauchzen des Volkes geweissagt.
III. Was war denn nun die Frucht und Wirkung dieser Erkenntnis und Huldigung?
Meine Lieben, wenn ich daran denke, dann könnte ich Tränen vergießen. Denn wir sind und haben auch ein von Jesu hoch begnadigtes Volk. Jesus ist zwar nicht unser nationaler König, wie er es von seinem Leibvolke ist, aber er ist unser ewiger und göttlicher König. Und er will uns und unser Volk so gern vor der Zersetzung, der Auflösung und dem Untergang bewahren, und er ist der einzige, der es davor bewahren. kann. Ach, unsere Text-Geschichte ist eine wehmütige Geschichte. Denn wie ging's dort? So schnell die Erkenntnis und der Freudenrausch kam, so schnell verflog beides auch wieder. Das Volk war zu leicht, leichtsinnig und leichtlebig geworden; es war zu sehr demoralisiert. Im Volk als Ganzem war kein göttlicher Gehalt, keine feste göttliche Zucht und Sitte mehr, es war durch das lange Parteitreiben schon ganz in Zersetzung gekommen, und kein Eindruck ging bei ihm tief, keine Einwirkung blieb nachhaltig. Das Volksgewissen hatte in früheren Zeiten über die einzelnen eine überwältigende Macht und bot jedem einen starken Halt. Aber jetzt war das Volksgewissen lose und lax. Darum fiel es dem Volke nicht ein, das von Gott ihm geschenkte Licht, die gewonnene Erkenntnis festzuhalten und sie in ernstes, geheiligtes Leben zu verwandeln. Gott bewahre! Sondern das war einmal etwas Neues, eine Abwechslung gewesen. Und Abwechslung, Zerstreuung und jeden Tag wieder etwas Neues, das wollte das Volk sehen und haben.
Es war kein Halt, kein göttlicher, sittlicher Grund und Boden mehr im Volke. Darum kümmerten sie sich schon am anderen Tage nicht mehr um denselben Jesus, dem sie heute jauchzend gehuldigt hatten. Auch waren ihnen die Forderungen, welche Jesus an sein Volk, an seine Jünger und Kinder stellte, viel zu ernst. Ernst und strenge leben, Lust und Genuss fahren lassen, sich selbst verleugnen und der Freiheit von Sünde nachstreben, o, das wollten sie nicht. Ihr Privatleben und Volksleben nach Jesu Sinn und Willen einrichten, das wollten sie nicht. Lieber wollten sie von diesem König und seinem Reich nichts wissen. Sie wollten eine ganz andere Freiheit, die Freiheit von allen heiligen Schranken und Banden, die Freiheit des Fleisches wollten sie. Darum gaben sie Jesum nicht bloß wieder preis, nein, nach einigen Tagen forderten sie selbst seine Beseitigung und Hinrichtung, als ein neues Schauspiel, als eine neue Aufregung und Zerstreuung. Das Licht war wieder zur Finsternis geworden, der Zug der Gnade war in ihnen zur Verstockung geworden. Die Erweckung war aufs neue zum geistlichen Schlafe geworden, das kaum entstandene Leben war zum Tode geworden.
So blieb dem göttlich liebenden Herzen des Heilandes nichts übrig, als sein heiß geliebtes Volk, wiewohl unter Tränen, aufzugeben und das Gericht über sie zu führen. Denn wer sich nicht zu Jesu ganz und wahr bekehrt, den kann selbst der Allmächtige nicht retten. Warum nicht? Weil der Allmächtige auch der Heilige ist.
Das war die letzte Erweckung, das war die letzte göttliche Begeisterung, welche das Volk Israel bis heute erfahren hat. Es war das letzte Mal, dass Jesus sich dem Volke zum Heiland und Retter und zugleich zum König und Herrn anbot. Das Volk ging, wie ihr wisst, unter, zum warnenden Exempel für alle Völker und für alle Menschen, welche Jesum verwerfen. Nun steht über dem Eingang eines jeden neuen Kirchenjahres die Schrift Gottes: Sage der Tochter Zion, sage jedem Volke, welches die Offenbarung Gottes in Jesu kennt und hat, sage jedem Volke, welches die Kirche Christi und sein Evangelium hat, sage ihm: Siehe! noch kommt dein König zu dir und will dich retten und selig machen!
Meine Brüder und Schwestern! Die Geschichte dieses unglücklichen, von Gott so schrecklich gerichteten Volkes ist der Spiegel für alle die Völker und Menschen, zu welchen Jesus Christus gekommen ist. Überhaupt ist die Geschichte des Volkes Israel der Schlüssel zum Verständnis der Welt- und Völkergeschichte in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart. Und die Begebenheit, welche unser heutiger Text erzählt, sagt es nicht bloß mit Worten, sie sagt es mit einer weltgeschichtlichen Tatsache: Einmal bietet sich der Heiland Jesus den Völkern, die ihn bisher hatten, zum letzten Mal an, und wenn sie ihn nicht in sich und ihr Volksleben aufnehmen, sondern aus demselben ausstoßen, dann werden sie gerichtet und gehen unter.
Ach Herr, gib uns Licht und Heil. Hosianna in der Höhe!
Amen.