Riggenbach, Christoph Johannes - II. Die Erbsünde.

Riggenbach, Christoph Johannes - II. Die Erbsünde.

Von Gottes Zorn handelte der letzte Vortrag; von des Menschen Sünde soll heute die Rede sein. Das ist ja der Gegenstand, worüber der heilige Zorn ergeht mit seinen Gerichten. Doch nicht von der Sünde überhaupt und nach allen Beziehungen habe ich mir vorgesetzt zu sprechen. Ich würde damit zu sehr nur wiederholen, was an dieser Stelle früher schon einmal ist entwickelt worden. Ein Punkt aber in der christlichen Lehre von der Sünde, der damals bei der Kürze der Zeit fast nur wie im Vorbeigehn berührt werden konnte, verdient um so mehr eine einläßlichere Besprechung, als es gerade dieser Punkt ist, der Vielen in unsrer Zeit als ein Gegenstand des Bedenkens, der Ungewißheit, des Anstoßens und Widersprechet erscheint; ich meine was in der Lehre unsrer Kirche die Erbsünde heißt.

In der That, wenn Sie nicht selber sich daran aufhalten, so wissen Sie doch, wie manche es giebt, die also urtheilen: es sei das eine unerträgliche Lehre, daß Gott aus keiner andern Ursache als wegen des einzigen Ungehorsams der ersten Eltern ihre ganze Nachkommenschaft unerbittlich in Sünde und Verderben gestürzt habe. Das würde ja der Weisheit Gottes widersprechen, sein Ebenbild so unvollkommen zu erschaffen, daß ein so geringer Anlaß genügte, dasselbe zu zerstören, und somit Gottes Absichten zu vereiteln. Nicht minder wäre es gegen seine Gerechtigkeit, um Eines Paares willen tausend mal tausend Unschuldige zu strafen. Und was sollten wir von seiner Güte denken? wenn doch wir unvollkommene Menschen den Blick des unschuldigen Kindes lieben, seines Lächelns uns freuen, den Frieden, die Freude, die Offenheit und Arglosigkeit desselben mit Rührung bemerken, so sollte dagegen der liebreiche Gott eben dieselben Kinder um der Sünde Adams willen als verdammt ansehen, somit um einer That willen, daran sie nicht im geringsten selber schuldig sind? Gut, daß unsre Kirche nicht wie die römische von einer milderen Verdammniß solcher Kindlein redet, denn das wäre ja doch nicht viel besseres als eine grausame Ironie. Hart dagegen und unerträglich, wenn auch wir Protestanten annehmen sollten, die Taufe sei das unentbehrliche und unfehlbare Mittel, die Kinder dem Verlorengehn zu entreißen. Und die Glieder fremder Völker, die Bekenner fremder Religionen, tugendhafte Heiden, wird es nicht, je mehr die Bekanntschaft mit allen Nationen sich ausdehnt, je mehr unser Denken sich kosmopolitisch erweitert, um so weniger denkbar, daß sie allesammt verloren seien, überhaupt, daß Gott nach so engen und lieblosen Begriffen mit den Menschen verfahre? Aber nicht nur dem Wesen Gottes widerspräche das, sondern auch dem Wesen, der Würde, der Freiheit des Menschen. Unser Gewissen, sagen sie, wirft uns nur unser eigenes freies Thun als Sünde vor; Erbsünde aber soll etwas vor aller eigenen Verschuldung dem Menschen Angebornes sein und ihn gleichwohl verdammen? und ihn zum Bösen, so geneigt, zum Guten so unfähig machen, daß alles Sittengesetz umsonst sein würde? Das ists, rufen viele, was wir nimmermehr glauben können. Und wenns die Bibel sagte, wir könnens nicht glauben; aber am Ende sagt sie es nicht einmal. Ist doch der Name Erbsünde zugestandener Maßen nicht biblisch; und wenn uns Jesus die Kinder zum Vorbild stellt, um nur das eine Beispiel zu nennen, so redet er offenbar nicht von ihnen nach dem Sinn der Erbsündenlehre.

Wenn einem Menschen, der sich an einem Anstoß aufhält, soll zurecht geholfen werden, so muß der Anstoß offen zur Sprache kommen; der Zweifler muß sehen, daß der andre weiß, was ihn bearbeitet, unwillig oder rathlos macht. Darum habe ich diese Einwürfe zusammen und an die Spitze gestellt. Wie aber ist nun s darauf zu antworten?

Wir müssen etwas aufsuchen, von dem wir als von einer gemeinsamen Ueberzeugung ausgehen können; und das wird sein der Zustand, in dem wir alle, in dem das ganze Menschengeschlecht sich befindet. Es ist eine Wahrheit, ebenso unwidersprechlich als unerfreulich, daß dieser Zustand kein guter, gesunder, normaler, sondern ein böser, zerrütteter und verkehrter ist. Hören Sie zuerst die Aussage von Zeugen, die weder den alten Bund noch den neuen kennen. Der griechische Tragiker Sophokles sagt: den Menschen allen ist gemein zu sündigen. Sein jüngerer Landsmann, der Geschichtschreiber Thukydides, bestätigt es: das ist die Art aller Menschen, öffentlich und sonderlich zu fehlen, und kein Gesetz vermag sie daran zu hindern. Von den Greueln des Bürgerkriegs bemerkt er: solche schreckliche Dinge geschehen und werden immer wiederkehren, so lange die Menschennatur dieselbe bleibt. Das gleiche hat der Römer Tacitus aus der Geschichte gelernt: Uebelthaten, sagt er, werden sein, so lange es Menschen giebt. Und Seneca, der Erzieher Neros, fragt: Wie mancher unter den Anklägern ist frei von Schuld? Ist nicht der am schwersten geneigt, Verzeihung zu gewähren, der am häufigsten nöthig hat, sie zu erbitten? Wir haben alle gesündigt, die einen leichter, die andern schwerer; die einen durch das Verhängniß, die andern durch Zufall oder durch fremde Schlechtigkeit dahingerissen; wieder andere sind wir in guten Vorsätzen wenig festgestanden und haben die Unschuld ungern und widerstrebend eingebüßt. Und nicht nur fehlen wir, sondern werden fehlen bis ans Ende der Zeit. Wir werden immer dasselbe von uns bekennen müssen, daß. wir böse seien, böse gewesen seien, und ungern füge ich bei, es auch sein werden. Der römische Dichter Ovid aber weiß um den inneren Kampf des Gewissens, wenn er eine Heldin seines Gedichtes sprechen läßt:

Feindliche Macht reißt hin, denn andres will die Begierde,
Andres räth die Vernunft. Ich seh' und lobe das Bessre,
Schlechterem folg' ich nach.

Es drängt sich Ihnen von selber auf, wie sehr diese Aussprüche, die ich aus vielen ähnlichen herausgegriffen habe, mit den Schriftaussagen alten und neuen Bundes übereinstimmen, die es aussprechen, daß kein Mensch sei, der nicht sündige, daß kein Lebendiger gerecht sei vor Gott, daß sie allesammt arg und allzumal Sünder seien. Ja, selbst die feinere Beobachtung, wie geneigt der Mensch sei, an andern zu richten, was er doch selber thut, und wie ohnmächtig er sei, das erkannte Gute zu vollbringen, wie wenig überhaupt das Gesetz ihn vom Bösen befreien könne, selbst diese Wahrheiten finden wir durch der Heiden Gewissen bestätigt.

Hören Sie jetzt noch einen neueren Zeugen, den Philosophen Kant: „Daß nun ein solcher verdorbener Hang (er nennt es das radicale, angeborne Böse) im Menschen gewurzelt sein müsse, darüber können wir uns bei der Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung an den Thaten der Menschen vor Augen stellt, den förmlichen Beweis ersparen.“ Er weist zur Widerlegung der Meinung von der natürlichen Gutartigkeit der Menschen auf die Mordscenen hin, die unter den im sogenannten Naturstande begriffenen Völkern im Schwange gehen, und fährt dann fort: „Ist man aber für die Meinung gestimmt, daß sich die menschliche Natur im gesitteten Zustande besser erkennen lasse, so wird man eine lange melancholische Litanei von Anklagen der Menschheit anhören müssen: von geheimer Falschheit selbst bei der innigsten Freundschaft; von einem Hange, denjenigen zu hassen, dem man verbindlich ist, worauf ein Wohlthäter jederzeit gefaßt sein müsse; von einem herzlichen Wohlwollen, welches doch die Bemerkung zuläßt, es sei in dem Unglück unsrer besten Freunde etwas, das uns nicht ganz mißfällt; und von vielen andern unter dem Tugendscheine noch verborgenen, geschweige derjenigen Laster, die ihrer gar nicht hehl haben, weil uns der schon gut heißt, der ein böser Mensch von der allgemeinen Klasse ist; und er wird an den Lastern der Cultur und Civilisierung (den kränkendsten unter allen) genug haben, um sein Auge lieber vom Betragen der Menschen abzuwenden, damit er sich nicht selbst ein anderes Laster, nämlich den Menschenhaß zuziehe.“

Blicken wir aber nicht nur, wie Kant uns räth, von den andern hinweg, sondern in uns selbst hinein, und finden zu dem Aergsten, was uns zuerst an andern entrüstet oder ekelt, den verwandten Zug im eigenen Herzen, so müßte ja der Menschenhaß eine Verabscheuung unsrer selber werden, eine Verabscheuung besonders auch dieser Neigung: alle andern schlecht zu finden, als ob wir dadurch das eigene Gutsein erwiesen.

Das ists also, worin das Zeugniß der Erfahrung aller Zeiten übereinstimmt; das ist der Punkt, von dem wir ausgehn: die sündliche Verderbtheit der Menschen ist eine Thatsache, eine ungeheure Thatsache von so allgemeiner Verbreitung, daß so klein der Bruchtheil ist, den wir kennen, von so vielen Millionen, die wir nicht kennen, wir dennoch sämmtlich überzeugt sind, wir würden vergebens auf den natürlich erzeugten Menschen warten, der sich selbst davon ausnehmen dürfte. „ Der will besser sein als andere,“ dieser Vorwurf, mit dem sogar im Zuchthaus der Versuch der Umkehr auf bessere Wege verhöhnt wird, giebt bei aller heillos verkehrten Anwendung doch wenigstens die Ueberzeugung zu erkennen, daß der allgemeine Stand der Menschen keineswegs ein guter sei.

Die Ausdehnung dieses Verderbens in die Breite kann somit niemand bezweifeln; wie tief es geht, das kann sich uns länger verbergen. Die Schrift aber zeigt uns als die tiefste Wurzel des Verderbens die Zerrüttung unsrer Gemeinschaft mit Gott. Todtsein in Sünden, diese Entfremdung vom göttlichen Leben schließt vor allem auch in sich eine Vereitelung der Erkenntniß, eine Verfinsterung des Sinnes, eine Unfähigkeit die Stimme Gottes zu vernehmen. Was Kant nur vom Widerwillen gegen den Menschen sagt, dem man etwas schuldig sei, das gilt in höherm Sinn von der Beziehung auf Gott. Der Sinn, das Dichten und Trachten des Fleisches ist der Tod, weil Feindschaft gegen Gott, und dieß weil Unfähigkeit zum Gehorsam gegen sein Gesetz. Auf dieser Feindschaft aber lastet der Zorn; wir alle sind, sagt der Apostel, Kinder des Zornes von Natur.

Als Schüler der Schrift bekannten darum die Reformatoren, zum Stande des sündlichen Verderbens gehöre nicht nur die Neigung zu allerlei böser Lust, sondern vornehmlich auch, daß wir von Natur keine wahre Gottesfurcht und keinen wahren Glauben haben; und so werfen sie ihren römischen Gegnern vor: „Sie bekennen die kleinen Gebrechen an der sündlichen Natur und des allergrößten Erbjammers und Elends gedenken sie nicht; nämlich, daß wir Menschen alle also von Art geboren werden, daß wir Gott oder Gottes Werk nicht kennen, nicht sehen noch merken, Gott verachten, Gott nicht ernstlich fürchten noch vertrauen, seinem Gericht oder Urtheil feind sein. Item, daß wir alle von Natur vor Gott als einem Tyrannen fliehen, wider seinen Willen zürnen und murren. Item uns auf Gottes Güte gar nicht lassen noch wagen, sondern allezeit mehr auf Geld, Gut, Freunde verlassen.“ So die lutherischen Bekenntnißschriften, die Augsburger Confession und die Apologie derselben; und nicht anders reden die reformierten. Kannst du dies alles (das göttliche Gesetz) vollkommlich halten? fragt der Heidelberger Katechismus; und die Antwort lautet kurz und streng: nein, denn ich bin von Natur geneigt, Gott und meinen Nächsten zu hassen. Die Helvetische Confession aber bekennt, daß wir in arge Lüste versunken, dem Guten zuwider, zu allem Bösen geneigt seien, voll aller Bosheit, Mißtrauens, Verachtung und Haß wider Gott, und aus uns selbst nichts Gutes zu thun, ja auch nicht zu denken vermögen.

Ist das letztere noch zu starke Speise für solche, die in einer tiefer gehenden Erfahrung noch wenig gefördert sind, so ist damit gegen die Wahrheit dieser Bekenntnisse durchaus nichts bewiesen. Ist es doch auch bei der Leibeskrankheit oft ein Symptom gerade der höchsten Gefahr, wenn der Mensch sich selber für gar gesund hält. So kann sich im Geistlichen der Mensch über seinen eigenen Zustand täuschen, und wenn er etwa natürlich gutartig und wohlwollend ist, seine Gleichgültigkeit gegen Gott und alles Göttliche noch gar nicht als ein Unrecht empfinden; bis ihm vielleicht eine tiefer gehende Lebenserfahrung die Augen öffnet. Aber davon reden wir hier nicht weiter. Für unsern Erweis genügt jenes allseitig Zugestandene, daß nämlich die Verbreitung des Bösen eine allgemeine und ausnahmslose sei.

Woher denn auch diese furchtbare Thatsache? Vor dieser Frage müssen wir doch wahrlich stille stehen. Wer nichts von der Erbsündenlehre wüßte, oder wer von ihr nichts wissen will, der müßte ja doch eine andere Erklärung der unleugbaren Thatsache versuchen. Aber, welche denn? nun ja, sie geben uns Erklärungen. Meist soll der Mensch natürlich gut, dem Geist nach unschuldig und unverdorben, nur schwach sein im Widerstand gegen die Lockungen der Sinnlichkeit, gegen das Uebermaß der natürlichen Triebe; und außerdem soll die Macht der Verführung, des bösen Beispiels, der verkehrten Erziehung, der verderbten gesellschaftlichen Verhältnisse, diese Einflüsse von außen sollen die Allgemeinheit des Bösen erklären. Aber ein etwas ernsteres Denken muß bald darauf kommen, daß diese Erklärungen in der That nichts erklären.

Die Sinnlichkeit als Ursache des Bösen beschuldigen, das hat eine gewisse Aehnlichkeit mit der Schriftaussage, daß der Mensch Fleisch sei, dem Geiste Gottes nicht unterthan. Aber größer als die Aehnlichkeit ist der Unterschied. Denn unter Fleisch versteht. die Schrift und verstehen mit ihr die Reformatoren keineswegs bloß die Sinnlichkeit oder Leiblichkeit, sondern den ganzen Menschen im Zustand der Zerrüttung, das ist im Zustand der Knechtung seiner höhern Kräfte unter die niederen; das Dichten und Trachten, die Vernunft des Fleisches ist ebenso verkehrt als die entfesselten Leibeslüste. Und wenn nun freilich auch kein Gelüste des Herzens und auch die höchsten Gedanken nicht vor sich gehen ohne durch das Leibesorgan, das dem Geiste zum Werkzeug dient, so sind doch gerade die höchsten oder tiefsten Sünden, als Hochmuth, Ehrgeiz, Neid in Beziehung auf geistige Gaben, oder jene Sünden, welche die Reformatoren strafen, als Mißtrauen, Gleichgültigkeit, Widrigkeit gegen Gott durchaus nicht leiblichen Ursprungs und hangen nicht von sinnlichen Reizungen ab.

Aber wir brauchen das hier nicht weiter zu verfolgen. Denn wir können sogar wenn wir uns auf die Sünden der Sinnlichkeit im engern Sinn beschränken, erweisen wie wenig diese Erklärung die allgemeine Verbreitung der Sünde wirklich erklärt. Denn sollten wir daraus verstehen, warum jeder Mensch ein Sünder sei und nicht einer sich davon ausnehmen dürfe, so müßte entweder der Zwiespalt zwischen der Neigung des Leibes und der Richtung der Seele schon vorausgesetzt werden, und zudem vorausgesetzt, daß die sinnliche Neigung ohne Maß und Zucht die Uebergewalt habe, der Geist dagegen ohnmächtig sei, mit andern Worten: der böse verderbte Zustand müßte- als schon vorhanden vorausgesetzt werden, das wäre aber keine Erklärung seiner Entstehung mehr; oder aber man bildete sich ein, die Sinnlichkeit sei zwar in jedem vorhanden, aber auch eine von Natur unverdorbene Seele sei in einem jeden da, also, daß von den Millionen Menschen ein jeder für sich, und ohne, daß er müßte, der Sinnlichkeit unterläge, somit ein jeder für sich und ganz von neuem den Uebergang machte vom Guten zum Bösen; Millionen Sündenfälle statt eines einzig gen; da bliebe aber von allem andern zu schweigen völlig unerklärt, warum nun das so ausnahmslos geschehe, wie wir es doch erblicken.

Dasselbe Ergebniß würde sich einstellen, wenn wir der Meinung zufallen wollten, als sei das Böse nichts anderes als das Uebermaß eines natürlich guten Triebes; der Stolz die Uebertreibung gerechten Ehrgefühls; der Zorn ein übermäßiger Eifer; die Feigheit ein Allzuviel von Friedensliebe; die sittliche Schlaffheit eine übertriebene Geduld. Man kann das in einigen Beispielen mit einem Anschein von Wahrheit schmücken; aber lange nicht alle Sünden lassen sich auch nur scheinbar so erklären; von, welchen Tugenden sollte die grausame Bosheit, die kalte Mordgier, das verlogene Wesen eine Uebertreibung sein? Aber auch hievon abgesehen, warum denn wären auch alle Menschen unfähig, das richtige Maß festzuhalten? warum müßte sich jeder irgendwie fortreißen lassen, den Naturtrieb dahin zu übertreiben, daß aus der Tugend eine Sünde würde? Die Allgemeinheit des Bösen wäre auch auf diesem Wege keineswegs erklärt.

Nicht besser stehts auf der andern Seite mit der Erklärung, die alles Bösewerden von der Verführung ableitet. Es ist ja freilich die Macht der Verführung eine schreckliche Macht, und nicht umsonst ruft der Herr sein ernstes Wehe über den, durch, welchen Aergerniß kommt; und nicht umsonst sagt der Apostel von den bösen und verführerischen Menschen, es werde mit ihnen je länger je ärger, sie verführen und werden verführt. Wie die Häufung des Kapitals in Einer Hand zur erdrückenden Macht für die geringen Leute wird, so das Zusammenwirken der Masse von Sünden zu einer ungeheuren Versuchungsgewalt. Aber die Entstehung des Bösen ist gleichwohl damit noch nicht erklärt. Das Weib, das du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baume und ich aß; so lautet von Alters her - nicht die Erklärung, sondern die böse Selbstentschuldigung der Sünde. Und schon beim Kinde, nehmen wir denn nicht vor aller rechten oder falschen Erziehung die ersten aus ihm selber kommenden Regungen eigener Unarten wahr?

In den französischen Romanen und Schauspielen ist das ein Grundton, ein heilloser Grundton, der immer wiederkehrt, daß die Gesellschaft für alles Böse verantwortlich gemacht wird. Da werden nicht etwa die Züge des Adels, die selbst an gesunkenen Menschen und in lasterhaften Umgebungen uns noch erfreuen können, mit Liebe geschildert, sondern geschraubte, widernatürliche Charaktere werden uns vorgeführt, edelmüthige Verbrecher, Dirnen voll der erhabensten Aufopferung; der verlorene Sohn wird nicht etwa um seines Insichschlagens willen gelobt, sondern draußen bei seinen Trabern wird er als interessanter Mensch geschildert, und für sein Verlorengehen niemand als die so tief verderbte Gesellschaft verklagt. Aus wem besteht denn aber die Gesellschaft und durch wen wird sie verderbt als durch verderbte Einzelpersonen? umgekehrt, wenn diese an sich gut wären und nur die Gesellschaft schlecht, woher käme es denn, daß sogar in der günstigsten Lage sich keiner, auch nicht einer, gegen die Gesellschaft als unverletzter Sieger behauptet?

Sie sehen, jene Tiraden sind nicht nur schlecht als böse Aufreizungen zur Selbstentschuldigung und zum Murren wider Gottes Ordnung; sie sind auch völlig unzureichend, uns zu erklären, woher die allgemeine Verbreitung des Bösen stamme. Wir müssen einsehen: es haftet an allen Menschen, weil es nicht nur von außen herein kommt, sondern von innen heraus; weil es uns nicht nur anerzogen wird, sondern angeboren. Was der römische Dichter sagt:

Die Eltern, schlimmer als das Geschlecht zuvor,
Erzeugten uns, die Schlechtern, die wir
Werden verderbtere Söhne zeugen;

darin lassen wir für jetzt die Behauptung auf der Seite liegen, daß ein Geschlecht ums andere stets tiefer sinke, und heben nur das Eine hervor, daß er deutlich annimmt, die böse Art vererbe sich von Vater auf Sohn. Und thun wirs denn anders in unserer Denkweise, wie sie sich z. B. im gemeinen Sprichwort kund giebt? Wenn wir bei einer Untugend, die an dem Sohn eine Familienverwandtschaft mit derjenigen der Eltern verräth, vom Apfel reden, der nicht weit vom Stamme falle, so bezeichnen wir diese Verwandtschaft als einen Naturzusammenhang. Er hat es nicht gestohlen, sagen wir etwa, und meinen nicht das Angelernte, sondern das Angeborne, das im Blute liegt. Wir beobachten einen Zusammenhang des Bösen, nicht nur bei jedem Menschen für sich zwischen der einzelnen That und dem Niederschlag, den sie hinterläßt, dem Beitrag zum bösen Schatz des Herzens, der Mehrung des Hangs, der Neigung, der stetigen Richtung, welche dann ihrerseits wieder neue Handlungen erzeugt; sondern ebenso nehmen wir einen Zusammenhang wahr von Geschlecht zu Geschlecht. Es ist eine Erinnerung an die Wahrheit, die wir vom Spötter empfangen:

wenn sich der Mensch, die kleine Narrenwelt,
gewöhnlich für ein Ganzes hält,

daß wir vielmehr nur ein Theil des Ganzen sind, ein Glied am großen Leibe der Menschheit, solidarisch mit ihr verbunden nicht nur im Guten, wo wirs gerne leiden mögen, sondern auch im Bösen, wo es uns nicht erfreut. In allen Dingen beginnen wir nicht rein von uns aus, sondern treten ein Erbe an; nicht nur die Gesichtszüge, sondern auch die Charakterzüge zeigen oft höchst auffallend die Familienart; Temperament, Gemüthsart, Kunstfertigkeit als angeborner Trieb, aber auch schlimme Neigungen zu Leidenschaften und Lastern erweisen sich als erblicher Hang. In dem geheimnißvollen Grund, wo Leib und Seele zusammenhangen, merken wir, findet diese Verknüpfung statt zwischen Eltern und Kindern. Das sind Beobachtungen, die wir im Leben machen; hier erblicken wirs klarer, dort verhüllter, aber jedenfalls erkennen wir, daß es die eine Seite der Wahrheit ist neben der andern Seite, da wir nämlich doch wieder auf jenem Grunde des Ererbten die Eigentümlichkeit eines jeden der zahllosen Menschenkinder sich entfalten sehen. Muß jene Wahrnehmung des Zusammenhangs zwischen Eltern und Kindern, so sehr sie nur ein Bruchstück ist, unsre Vorstellungen von einer vermeintlich unbegrenzten Freiheit beschränken, so kommt sie dafür dem biblischen Wort entgegen, daß des menschlichen Herzens Dichten böse sei von Jugend auf, und warum? weil Fleisch ist, was vom Fleische geboren wird; oder wie David klagt, und nicht nur von sich allein: siehe, ich bin in Verkehrtheit geboren und in Sünde hat mich meine Mutter empfangen.

Damit verknüpfen wir ein andres Wort, den bekannten ernsten Ausspruch im Gesetz: „denn ich der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missethat an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied, derer, die mich hassen; und thue Barmherzigkeit an vielen tausenden, die mich lieb haben und meine Gebote halten.“ Der Väter Missethat heimsuchen an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied, das ist eine furchtbare Drohung, die wohl uns allen von Kind auf schon öfter das Herz bewegt hat; vielleicht aber auch dem Einen oder dem Andern schon wie eine schwere Ungerechtigkeit vorkommen wollte. Der Vater Missethat an den schuldlosen Kindern und Kindeskindern strafen, wie reimt sich das mit der ewigen Gerechtigkeit?

Ich frage wiederum zuerst: aber sehen wir nicht tatsächlich eine solche Heimsuchung der väterlichen Sünden an Kind und Kindeskind in manchen erschütternden Beispielen vor Augen? An Königsgeschlechtern liegt es offen da vor den Blicken aller Welt. Ein Ludwig XIV in seinen großartigen Gewaltthaten, ein Ludwig XV in seiner niedrigen Schändlichkeit, ein Ludwig XVI in -seiner wohlmeinenden Ohnmacht, sie bilden eine Reihe, daran die Gerichte Gottes offenbar werden; in solcher Art offenbar, wie es die Weise Gottes ist, daß alle Welt vor ihm verstummen und die Hand auf den Mund legen muß. Warum läßt er den schändlichen Wüstling in Ruhe leben und sterben (seinem Gericht entgeht er freilich nicht) und den verhältnißmäßig besten, dessen Sünden mehr Unterlassungssünden sind, auf dem Schaffst verbluten? wer will es sagen? wer ist des Herrn Rathgeber gewesen? Ich könnte dich mit einem Mal wegraffen, aber ich will an dir in außerordentlicher Weise meine Macht erzeigen, meinen Namen verherrlichen, so spricht er zu Pharao; es ist das seine souveräne Majestät. Aber die Heimsuchung der väterlichen Sünden an Kind und Kindeskind ist nichts destoweniger unleugbar, Nicht minder unleugbar, wenn schon verborgener begegnet sie uns, auch wenn wir gar nicht zu richten begehren, in so mancher Familiengeschichte zu Stadt und Land.

Wo immer die Erfahrung des Lebens uns einen Beleg zu jener erschütternden Wahrheit liefert, da öffnet sie uns auch den Blick, daß wir verstehen: das Gericht, so furchtbar ernst es sei, es ist doch keineswegs ungerecht. Denn nicht wie sie sagen: an den schuldlosen Kindern wird der Väter Missethat heimgesucht; so lautet auch keineswegs der Spruch des Gesetzes, vielmehr heißt es ausdrücklich: er sucht sie heim an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied derer, die mich hassen; also nicht an den schuldlosen, sondern an den schuldigen Kindern; vor allem die Vererbung der Missethat und dadurch erst die Vererbung des Gerichts, das ist die Reihenfolge. Eine unauflösliche Verkettung von Sünde und Nebel, ein einiges Geflecht des Verderbens, nicht bloß durch Beispiel, Erziehung, Institutionen, sondern auch durch Leben und Blut sich fortpflanzend, das ist der Zusammenhang dieses Erbes. In der Pest der Gottesfeindschaft aufwachsend, darin sie erzeugt und geboren waren, werden die Kinder Erben des Sinns der Väter und dadurch Erben ihres Unheils.

Aber müssen sie denn kraft erbarmungsloser Nothwendigkeit? sind die schrecklichen Ketten denn völlig undurchreißbar? sind die Kinder verurtheilt, unrettbar Hasser Gottes zu werden wie ihre Väter?„ Wer sagt denn das? Zwar schwer mags ihnen werden, einen andern, bessern Weg einzuschlagen, unermeßlich schwer im Vergleich zu uns, die wir ohne das geringste Verdienst so viel günstiger gestellt sind, und gewißlich Gott wirds wägen nach seiner ewigen Gerechtigkeit;, daß nur nicht die Lahmen und Krüppel von den Hecken und Landstraßen unsre Richter werden. Unmöglich aber ist es nicht, daß die Kinder dem Gericht über ihre Väter entrinnen. Schon das Gesetz bringt den Ausspruch nach: die Väter sollen nicht für die Kinder, noch die Kinder für die Väter sterben, sondern ein jeglicher soll für seine Sünde sterben; und noch viel ausführlicher lehren das die Propheten.

Besonders Hesekiel bekämpft das Sprichwort, womit seine Zeitgenossen wider Gott murrten, als strafe er ungerecht die Sünde der Väter an den schuldlosen Kindern. Die Väter, sagten sie spöttisch bitter, die Väter haben Herlinge gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden. Der Prophet dagegen sagt: So wahr als ich lebe, spricht der Herr Herr, solch Sprichwort soll nicht mehr unter euch gehen in Israel. Denn siehe, alle Seelen sind mein; des Vaters Seele ist sowohl mein als des Sohnes Seele;, welche Seele sündiget, die soll sterben. Wenn des frommen Vaters Sohn sich zur Gottlosigkeit wendet, soll er sterben, der Sohn, aber nicht der Vater; wo es dagegen geschieht, daß des gottlosen Vaters Sohn die Sünden seines Vaters sieht und fürchtet sich und thut nicht also, der soll nicht sterben um seines Vaters Missethat willen, sondern leben. Denn, welche Seele sündiget, die soll sterben. Der Sohn soll nicht tragen die Missethat des Vaters und der Vater soll nicht tragen die Missethat des Sohnes; sondern des Gerechten Gerechtigkeit soll über ihm sein und des Ungerechten Ungerechtigkeit soll über ihm sein. Aber selbst der Gottlose, wenn er sich bekehrt von allen seinen Sünden, die er gethan hat, soll er leben und nicht sterben. Meinest du, daß ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht der Herr Herr, und nicht vielmehr, daß er sich bekehre von seinem Wesen und lebe? Wenn sie aber trotz dieser Gnadenverheißung in ihrer hartnäckigen Selbstrechtfertigung bleiben, so werden sieernstlich ermahnt, sich selbst zu prüfen: Noch sprechet ihr: der Herr handelt nicht recht. So höret nun, ihr vom Hause Israel: Ists nicht also, daß Ich recht habe und ihr Unrecht habet?

Der Sohn soll nicht sterben um seines Vaters Missethat willen, ist das nicht die Aufhebung jenes Spruches vom Heimsuchen der Missethat der Väter an den Kindern? Nein, doch nicht die Aufhebung, nur die Begrenzung desselben; nur die Auslegung, wie weit er sich erstrecke; Ich will heimsuchen, das kann auch solche treffen, die in dem Elend der Heimsuchung, ja durch das Elend geweckt in sich schlagen und dem Gericht entgehen; er soll sterben aber, dieses schließliche Urtheil trifft diejenigen, die da Hasser Gottes werden und bleiben wie ihre Väter. Das ist aber keine unwiderstehliche Notwendigkeit, sondern schließlich ihre eigene Schuld. Gerade das vorhin erwähnte Königsgeschlecht giebt uns ein Beispiel; wird uns doch von dem Erbprinzen Ludwigs XIV und wiederum von demjenigen Ludwigs XV gemeldet, daß sie einen tiefen Ekel an dem Treiben ihrer Väter hatten. Das Gericht über ihr Haus konnten sie nicht ablenken; sie starben frühzeitig hinweg; aber persönlich entrannen sie dem Verderben. Die sich nun durch solche Umkehr dem Gericht entreißen, vielmehr entreißen lassen, die gehören dann zu den vielen Tausenden, denen schon das erste Wort des Gesetzes, die Gerichtsdrohung reichlich und herrlich überbietend, Barmherzigkeit verheißen hat. So stimmt, was auseinander zu gehen schien, aufs beste zusammen.

Diese Wahrheit nun also, welche das Wort des Gesetzes ausspricht vom Heimsuchen der väterlichen Missethat an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied; diese Wahrheit, von der wir in eigener Erfahrung hier und da ein Bruchstück schauen; diese Wahrheit macht der Apostel allgemein und im weitesten Umfang geltend, wenn er Sünde und Tod der ganzen Menschheit von ihrem ersten gemeinsamen Stammvater ableitet. Durch Einen Menschen, sagt er, ist die Sünde gekommen in die Welt, und der Tod durch die Sünde, und ist also der Tod zu allen Menschen hindurchgedrungen, Luther übersetzt: dieweil sie alle gesündiget haben; aber der Zusammenhang des ganzen Abschnitts erfordert durchaus den Gedanken, daß nicht erst ein jeder Mensch von neuem durch eigene Sünde neben und unabhängig von Adams Sünde den Tod verdiene, daß vielmehr des Einen Adams Sünde und Tod über das ganze Geschlecht seiner Kinder Sünde und Tod herbeigeführt habe; sowie auf der andern Seite Gerechtigkeit und Leben uns nur aus der einen Quelle der Gerechtigkeit und des Lebens Christi stamme. Denn gleichwie durch Eines Menschen Ungehorsam viele Sünder geworden sind, also auch durch Eines Gehorsam werden viele Gerechte. Dem entspricht es besser, wenn wir im ersten Vers dieses Abschnitts übersetzen, was sprachlich durchaus kann gerechtfertigt werden und ist also der Tod zu allen Menschen hindurchgedrungen, woraufhin oder weßhalb sie alle gesündigt haben. Der Tod ist dann nicht bloß vom leiblichen Sterben zu verstehen, sondern umfassend wie auch sonst in der Schrift vom geistlichen Todtsein in Sünden zusammen mit des Leibes Verderben. Dieser Tod ist von Adam zu allen hindurchgedrungen; statt von Erbsünde wäre vielmehr von Erbtod zu reden, und der ist Schuld, daß alle Menschen zu eigenen Thaten der Sünde gelangen.

Dieß also die biblische Lehre vom Ursprung der Sünde und von der Ursache ihrer allgemeinen und ausnahmslosen Verbreitung. In der That, schon die Ueberzeugung, auf die wir uns mehrfach berufen haben, daß wir in keinem Menschen, der uns begegnet, etwas anderes als gleichfalls einen Sünder voraussetzen, schon diese Ueberzeugung schließt es in sich, wir halten das Sündersein nicht für etwas Zufälliges, Beliebiges, das in des Menschen Wahl gestellt sei, wo man bei einem jeden erst noch abwarten müßte, wie seine Selbstentscheidung ausfalle; wir erkennen es vielmehr für etwas Unausweichliches, für eine Ordnung ohne Ausnahme, soweit es die natürlich Erzeugten betrifft, nach der Art, wie der Apostel vom Gesetz der Sünde redet, das in unseren Gliedern regiere.

Also für etwas Nothwendiges erklären wir die Sünde? ja, aber doch nicht als läge diese Nothwendigkeit im ursprünglichen Wesen des Menschen, wie diejenigen thun, welche die Sinnlichkeit des Menschen oder abstrakter seine Endlichkeit und Beschränktheit oder den anfänglichen Mangel an Herrschaft der Vernunft als die Ursache seiner unvermeidlichen Sündhaftigkeit bezeichnen. Es denken viele so, klar oder unklar. Der Mensch, so sagen sie uns etwa, ist von Natur noch nicht, was er sein, soll, nämlich wirklicher Geist oder Ebenbild Gottes; ja er ist sogar, weil noch ganz von Naturtrieben beherrscht, das Gegentheil von dem, wozu er berufen ist; der Uebergang kann daher nur so geschehen, daß ihm der Widerspruch seines ersten Natürlichen Zustands gegen seine wahre Bestimmung irgendwie als eigenes Widerstreben zum Bewußtsein kommt. Wir entgegnen: das geschieht jetzt freilich; aber, daß es eine ursprüngliche Nothwendigkeit sei, das behaupten sie ohne es zu beweisen. Sie verwechseln dabei die natürliche und unschuldige Unvollkommenheit des unbewußten Anfängerstandes mit dem schlimmen Gebrechen des Widerspruchs gegen Gottes Gesetz. Daß ein bewußtloses Kind von bewußtlosen Naturtrieben regiert wird, das ist wohl verglichen mit dem Ziel unsrer Bestimmung eine Unvollkommenheit, nicht aber etwas Böses; es widerspricht darin nicht dem Gesetz seiner Kindheit; es bleibt nicht hinter dem, was von ihm verlangt wird, zurück. Wohl aber der Mensch, der mit Bewußtsein Böses, Heilloses, Liebloses, Gottwidriges vollbringt. Und, daß nun dazu die ersten Regungen sich schon im Kinde zeigen, schon in den geheimnißvollen Uebergängen aus dem bewußtlosen in den bewußten Zustand, das beweist, daß schon dem Kinde nicht eine unschuldige Natur, sondern eine mit dem innern Widerspruch behaftet, angeboren ist.

Was die Natur an sich selber betrifft, so wäre nicht zu begreifen, warum sie den Trieb, dem Gesetze Gottes zu widerstreben, in sich tragen sollte. Wer hätte solches in sie gepflanzt, als Gott selbst, ihr Schöpfer, der Urheber ihres Seins, der Urheber des ihr eingeschaffenen Gesetzes; und derselbe sollte zugleich der Urheber ihres Widerstrebens gegen das Gesetz sein? Bei den Pflanzen ist ers in der Weise freilich, daß er in die erste Gestalt ihres Daseins zugleich den Trieb gesenkt hat, dieselbe zu überschreiten; und so auch in das Menschenkind den Trieb und die Kraft, zum Manne heranzuwachsen. Aber wer kann denn auch das Zurücksein der Kinderstufe hinter der Reife des Mannes mit dem Bösesthun, nämlich dem Widerstreben gegen das heilige Gesetz, und mit dem Hang zu diesem Bösen auf eine Linie stellen?

Gleichwohl ist diese Meinung, als gehöre das Böse nothwendig zur ursprünglichen Schöpfungsordnung, weit genug verbreitet; und doch ist es eine von jenen „Ansichten“, die sittlich durchaus nicht gleichgültig sind, denn es ist darin im Grund ein ungeheurer Frevel enthalten. Wäre das Böse eine ursprüngliche Schöpfungsordnung, so wäre es ja nicht mehr böse, sondern gut. Die Materialisten waren dann allein consequent, die alle Verantwortlichkeit aufheben. Wenn somit auch nach Menschenurtheil edle Geister sich von dieser Meinung anstecken lassen, so thun sie es im unerkannten Widerspruch gegen ihr eigenes Gewissen. Wer in der Arzneikunde eine falsche Theorie aufstellen würde, daß diese ungesunde Speise durchaus gesund sei und jene verderbliche Arznei vollkommen heilsam, den würde bald die Praxis thatsächlich zu Schanden machen. In geistlichen Dingen aber hält man ganz ähnliche Theorien für gefahrlos und gut, weil der Schaden, den sie stiften, nicht ebenso körperlich fühlbar wird.

Aber reden wir denn nicht selbst von der anererbten und unausweichlichen Nöthigung zum Sündigen? ja, aber mit dem scheinbar kleinen, in der That fundamentalen Unterschied, daß uns das Böse nicht eine ursprüngliche Ordnung des Schöpfers ist; denn von ihm rührt nur die Möglichkeit der Freiheit und deßwegen auch die Möglichkeit der bösen Selbstbestimmung her; die Möglichkeit, aber nicht die Nothwendigkeit. Denn die Möglichkeit, Böses zu thun, ist nicht ein kleinster Keim von Nothwendigkeit, also von schon vorhandenem Bösen. Wäre schon die Möglichkeit ein solcher verborgener Keim, so trüge dieser es in sich wie jeder Keim, daß er wachsen müßte. Dann wäre es aber Notwendigkeit und nicht mehr Freiheit; dann wäre es ein Naturgewächs und nicht mehr ein geistiges Wesen. Also nicht die Schöpfungsordnung macht das Böse unausweichlich, sondern der Mensch thut dasselbe in grundloser Selbstverkehrung seiner Freiheit. Und nun ist es die Ordnung nicht des Schöpfers, sondern des Richters, daß er das Böse strafe durch Böses;, daß er die Aussaat strafe durch eine Ernte, die der Aussaat gleich ist, daß er den bösen Samen wachsen, Frucht bringen und ausreifen lasse.

Also eine Notwendigkeit lehren wir, die nicht im Wesen des Menschen liegt nach der Schöpfungsordnung, sondern im Strafzustand nach der Ordnung des Richters. Das ist ein Unterschied, den wir nicht hoch genug anschlagen können.

Wenn die Menschheit, wie kein Vernünftiger leugnet, angefangen hat, so hat auch das menschliche Sündigen angefangen. Wie? davon wissen wir entweder gar nichts, oder wir wissen, was uns die ersten Blätter der Schrift davon sagen, in aller Einfalt so unerschöpflich tiefsinnig und treffend, daß wir immer neu den Eindruck bekommen: das ist eine Geschichte, die sich selbst bezeugt.

Aber auch wer es noch nicht vermöchte, dazu ein rechtes Vertrauen zu fassen, sollte den nicht zum wenigsten die Einsicht, welch ein Frevel es sei, den Schöpfer zu beschuldigen, zu dem Geständniß drängen: ich weiß nicht wie, aber der Anfang der Sünde muß eine Schuld des Menschen sein? Die Einsicht vollends können wir allen zumuthen, daß niemand das Recht hat, die erste Sünde, wie die Schrift sie darstellt, eine kleine geringfügige Handlung zu nennen. Sei das Material, an dem der Mensch erprobt wurde, so schlicht es wolle - übrigens dem Anfängerverständniß wie nichts anderes angemessen -, der erste Ungehorsam gegen den heiligen Gott, das ist wahrlich eine That, das ist ein Riß von der größten furchtbarsten Wichtigkeit. Sonst müßte, wer die Eiche noch nicht gesehen hat, die Eichel für unbedeutend erklären; oder den Funken als höchst geringfügig bezeichnen, wenn er noch nicht weiß, welchen Wald er anstecken kann.

Wir aber wissen, welcher Brand entzündet wurde, und sind doch ferne von der Meinung, daß Gottes Rath damit vereitelt sei. Gottes Rath hat auch den Brand in Rechnung genommen, und seine mannigfaltige Weisheit hat neue wunderbare Wege, sein Ziel zu erreichen, sein Werk auszuführen, sein Reich aufzulichten, trotz der ersten und allen folgenden Sünden, ja selbst die Sünder desselben theilhaft zum machen. Was der Apostel in etwas anderm Zusammenhang ausspricht, das gilt auch hier: Gott hat Alles beschlossen unter den Unglauben (unter die Sünde), aus, daß er sich Aller erbarme. O welch eine Tiefe des Reichthums beides der Weisheit und der Erkenntniß Gottes! wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Wir sagen also mit fester Ueberzeugung: die Richterordnung Gottes, daß der Sündentod von der ersten Sünde sich auf das ganze Geschlecht vererbe, das ist keine Ungerechtigkeit, denn er straft ja die Sünde nicht an den Schuldlosen, sondern an denen, die selber schuldig werden; und es ist auch, keine Unbarmherzigkeit, denn er straft sie nicht ohne aus freier Gnade von Anfang an dem Bösen entgegenzuwirken, eine Rettung zu verheißen, sie anzubahnen und zu vollbringen.

Ein Punkt aber ist noch übrig zu besprechen. Vielleicht bewegt der und jener unter Ihnen im Stillen die Frage: ist denn aber gar kein Recht in jenem alten Einwurf, daß die Sünde eine Verderbniß des Willens sei, nicht der Natur? Haben wir nicht selber soeben das größte Gewicht gelegt auf die Anerkennung der Wahrheit, daß des Menschen Freiheit das Böse verschuldet habe? und jetzt wieder behandeln wirs wie eine Sache der Natur, der Fortpflanzung von Eltern auf Kinder, des Fleisches und Blutes, der unwillkürlichen Beschaffenheit unseres Zustands? Unser Gewissen straft uns, wenn wir selbst etwas Böses verüben; hier aber soll uns eine fremde That als Schuld zur Last fallen, ja bevor wir noch waren, uns schon die Verdammniß bereitet haben? schon von den kleinen Kindern soll das gelten, und nicht minder von den Heiden, die gar nichts vom Evangelium wissen?

Auf diese Bedenken, die manche hart umtreiben, bin ich noch Antwort schuldig. Wohl giebt es eine Art, dergleichen Fragen aufzuwerfen, das werden Sie nicht in Abrede stellen, die sich nicht in der Demuth hält, wie sie dem Geschöpf vor seinem Schöpfer dem Sünder vor dem heiligen Gotte geziemt. Da ereifert man sich scheinbar zu Gunsten der kleinen Kinder und der Heiden, und in der That will der rechthaberische Disputiergeist die Wege Gottes meistern, die er nicht versteht, anstatt mit Furcht sein eigenes Heil zu schaffen. Aber jedes Fragen und Forschen ist doch nicht von dieser bösen Art. Wir können mit Jeremia bekennen: Herr, wenn ich gleich mit dir rechten wollte, so behältst du doch Recht, und mit ihm fortfahren: dennoch muß ich vom Recht mit dir reden. Wir können es völlig einräumen: nicht wir aus uns haben ein Recht gegen Gott, nicht uns ist er etwas schuldig, als hätten wir ihm etwas zuvor gegeben; aber sich selbst ist er es schuldig, seiner eigenen Treue und der Wahrheit seiner Selbstoffenbarung ist er es schuldig, daß er bleibe, als der er sich uns entboten hat, gerecht in allen seinen Wegen.

Ist es nun unser Anliegen, das auch in Bezug auf die letztgenannten Fragen zu erkennen, so müssen wir dieselben zur bessern Uebersicht zerlegen. Was nun vor allem das Bedenken betrifft, ob denn die Sünde nicht ausschließlich eine Sache des Willens sei und keineswegs der Naturanlage, so werden wir sagen müssen: die erste Sünde mußte eine That des Willens sein, wozu Gott dem Menschen das Vermögen gegeben; aber diese einmalige That mußte vor allem für den, der sie vollbracht hatte, einen bleibenden Zustand, einen Verlust der Freiheit, eine Knechtschaft, einen Bann auf dem Gewissen, eine Zerrüttung seiner Natur zur Folge haben. Ist das bei ihm in der Ordnung, so ist auch bei uns nichts dawider, daß eine Zerrüttung unseres ganzen Zustands auf uns übergegangen sei, weil wir ja nicht unabhängig für uns selbst beginnen, sondern in einem Zusammenhang des Lebens mit unsern Erzeugern stehen, ein Erbe antreten in Dingen des Leibes nicht nur, sondern auch des Geistes nach seiner Naturgrundlage. Wie nun dieses Uebergehen der Zerrüttung geschehe, darüber wissen wir das Genauere nicht; haben wir doch nicht einmal ein Wissen davon, weder eine Erinnerung, was uns selber betrifft, noch eine Beobachtung an unseren Kindern, die uns sicher zeigte, wie der Uebergang geschieht von der Naturanlage zur ersten bewußten That. Diese Anfänge sind uns verborgen, so nahe sie uns angehen; so sehr ist es wahr, daß wir uns selber das größte Räthsel sind.

Diese Naturanlage, der dunkle Grund, wo Leib und Seele zusammenhangen, liegt nun freilich in Betreff unsrer Beziehung zu Gott unter dem vorhin geschilderten Bann. Sofern dieser Zustand vor aller eigenen persönlichen That schon da ist, könnte man zweifeln, ob er richtig Erbsünde genannt werde. Einen Erbbresten nannte ihn Zwingli lieber. Auch die lutherischen Bekenntnisse brauchen hier und da den Ausdruck Erbseuche oder angeborne Seuche, dringen aber mit ebenso großem Nachdruck darauf, daß diese schreckliche Seuche „wahrhaftiglich Sünde sei, ja die Hauptsünde, welche ein Wurzel und Brunnquell ist aller wirklichen Sünde.“ Und nicht anders urtheilt das Bekenntniß der altfranzösischen Kirche. Auch stimmt das unstreitig mit der Art überein, wie der Apostel selbst von der Sünde redet; denn wenn er sagt, daß sie vor dem Gesetz im Menschen todt war, durch das Gesetz aber lebendig in ihm wurde;, daß er von dem an unter die Sünde verkauft sei;, daß er wohl möchte das Gute thun, aber gegen seinen Willen vollbringe das Böse nicht er, sondern die Sünde, die in ihm wohne: so sehen wir wohl, daß er nicht nur die einzelne bewußte That, sondern auch bereits den angebornen bleibenden Hang zum Bösen als Sünde bezeichnet. Er kann es mit um so größerem Rechte thun, weil dieser Hang wer mißt es wie frühe zur eigenen persönlichen Thatsünde treibt. Auch Zwingli muß darum gestehen, daß der Streit ein Wortstreit werden könnte; ein Streit nämlich um die Frage, was man alles unter dem Ausdruck Sünde zu verstehen habe; ob auch den allgemeinen Zustand der Verderbniß, oder nur die bewußten eigenen Handlungen.

Nicht einen bloßen Wortstreit aber betrifft die Frage: ob der angeborne Hang eine Schuld heißen könne. Zwingli ist sehr entschieden im Verneinen dieser Frage: „Wir verstond durch das Wort Brest einen Mangel, den einer on sin Schuld von der Geburt har hat oder sust von Zufällen.“ „Also folgt, daß die Erbsünd ein Brest ist, der von jm selbs nit sündlich ist dem, der jn hat.“ „Bysvil: Der jung Wolf, diewyl er noch blind ist, weißt er nüts von Schafzwacken, noch so ist die Art in jm; sobald er aber erwachst, so hebt er denn an ärtelen (seine Art und Natur zu zeigen). Also ist der Mensch aller Begirden und Anfechtungen unschuldig, alldiewyl er nit weißt, was Begird ist; noch so steckt die Art in jm, die mag er als wenig hinlegen aus eigner Kraft als der Wolf.“ Es kann sich dabei Zwingli mit Recht auf den Apostel berufen, der von den Menschen, die das Gesetz nicht haben und daher auch nicht nach der Aehnlichkeit der Uebertretung Adams gesündigt haben, ausdrücklich sagt: wo kein Gesetz ist, da wird die Sünde nicht angerechnet..

Wenn aber Zwingli aus der Behauptung, daß dieser Brest „von jm selbs nit sündlich ist dem, der jn hat,“ die weitere Folgerung zieht: „er mag jn auch nit verdammen;“ so lehren freilich die Reformatoren sonst ganz anders, insonderheit Luther: „Nun mag die Erbsünde, schreibt er, klein und gering machen, wer da will, so scheint es wahrlich an den Sünden, die aus ihr kommen, und an den Strafen, daß es die größte und schwerste Sünde ist.“ Er will überhaupt die Sünde nicht am Grad unseres Bewußtseins, sondern an Gott gemessen haben, wider den sie frevelt: „darnach die Person groß ist, darnach ist auch die Sünde groß, welche wider dieselbige Person geschiehet.“ „Darum soll man sie keineswegs verglimpfen noch extenuieren; sonst wird auch Gottes Gnade extenuiert, gering und klein gemacht.“ So erklären auch die Lutherischen Bekenntnisse: schon die Erbsünde verdamme alle diejenigen, die nicht wiedergeboren werden, unter ewigen Gottes Zorn. „Die Strafe und Pön der Erbsünde, heißt es, so Gott auf Adams Kinder und auf die Erbsünde gelegt, ist der Tod, die ewige Verdammniß, auch andere leibliche und geistliche, zeitlich und ewig Elend u. s. w.“ Und nicht minder das gallikanische Bekenntniß urtheilt, daß die Erbsünde genüge, das ganze Menschengeschlecht bis zu den kleinen Kindern von Mutterleib an zu verdammen. Die Augsburger Konfession aber wirft es den Leugnern dieser Lehre vor, daß sie „die Natur fromm machen durch natürliche Kräfte, zu Schmach dem Leiden und Verdienste Christi.“

Aber ist das wirklich der Fall z.B. auch bei Zwinglis Lehre? Will auch er die Gnade Gottes in Christo eztenuieren? Wir hörten ja, wie er dem Menschen so wenig als dem Wolf die Macht zuspricht, seine Art hinzulegen. „Also vermag uns Gott ändren, die bösen Art in uns dämmen, und wir selbs nit,“ so lehrt er uns. Und anderwärts: der Todte kann keinen Lebendigen erzeugen. Jener Erbbresten ist ihm also eine tiefe, für Menschenkraft und -kunst unheilbare Zerrüttung unserer Natur. Allerdings redet er nicht mit so gewaltigem Nachdruck von dem Greuel, dem Fluch, dem Verderben der Sünde gegenüber dem großen und heiligen Gott, wie Luther pflegt, oder wie das lutherische Bekenntniß thut, wenn es darauf dringt: „daß die Erbsünde nicht sei eine schlechte (leichte) sondern so tiefe Verderbung menschlicher Natur, daß nichts gesund oder unverderbet an Leib und Seele des Menschen, seinen innerlichen und äußerlichen Kräften geblieben;, welcher Schade unaussprechlich, nicht mit der Vernunft, sondern allein aus Gottes Wort erkennet werden mag.“ Im Vergleich damit redet Zwingli zuweilen um so schwächer von der Sache, weil er sich im Gebrauch des Ausdrucks Sünde nicht gleichbleibt, ihn das eine Mal nur von wissentlicher That versteht und darum sagt: der Bresten sei keine Sünde, dann aber doch wieder durch Paulus genöthigt auch den Bresten als Sünde bezeichnet. Das ist also ein Mangel an seiner Lehrart; aber, daß er das angeborne Böse von der persönlichen Uebertretung und Schuld unterscheidet, darin hat er unstreitig das biblische Recht auf seiner Seite.

Der Ernst Gottes ist hart für den Menschen, der sich selbst nicht aufgeben will; für den Hochmuth, dem es widersteht, von Gnade zu leben. Aber von dieser Härte ist wohl zu unterscheiden die andre Härte, die als ein Zusatz menschlicher Uebertreibung sich an die Schriftwahrheit hier und dort angesetzt hat; und eine solche menschliche Härte erkennen wir in der Behauptung, daß schon die Erbsünde für sich allein dem Menschen, selbst dem Kinde von Mutterleib an eine verdammliche Schuld sei. Wohl herrscht der Tod, der geistliche und leibliche Tod auch über die, welche nicht mit Bewußtsein nach der Art der Uebertretung Adams gesündiget haben; aber dennoch gilt ihnen: wo kein Gesetz ist, da wird die Sünde nicht zugerechnet. Wohl stehn sie von Geburt an unter einem Bann, welche, der Weg ist, der zur Verdammniß führt, und sie selber können sich nicht los davon machen; aber das Verdammungsurtheil ist ihnen nicht gesprochen und wird es nicht um der ererbten Sünde willen allein.

Es ist Augustin, von dem jene Uebertreibung stammt. In der tapfern Vertheidigung der Wahrheit that er hierin zu viel. Das Zuviel aber ist ein Zuwenig, eine Schmälerung nämlich der Wahrheits- und Gnadenfülle Gottes; eine Beeinträchtigung auch des Charakters unserer Persönlichkeit. Am offenbarsten ist sein Fehlgriff, wenn er sich auf eine Stelle im Brief an die Hebräer beruft, wo es von Abraham heißt, er habe dem Melchisedek den Zehnten gegeben für sich selber und damit auch für seinen Urenkel Levi, der noch in des Vaters Lenden war; damit sei auch Levi dem Melchisedek unterworfen und als der Geringere bezeichnet worden. Das nun überträgt Augustin auf den Sündenfall. Wir waren alle in Adam, zwar nicht nach unserm persönlichen Wesen, aber nach der Art des Samens; wir waren alle jener Eine; ist nun Adam durch seine Sünde in die Verdammniß gefallen, dann auch wir, die wir in den Lenden unsres Vaters waren. Aber siehe doch, wie trüglich diese Folgerung ist. Ja, was zum äußern Stand und Rang gehört, ob du dem oder jenem über- oder untergeordnet seist, ob du in Reichthum oder Armuth geboren werdest, überhaupt ein glückhaftes oder ein niedriges Geschick, eine erfreuliche Beschaffenheit der Familie, des Vaterlands, oder aber eine Zerrüttung dieser Lebenskreise, auch glänzende oder bescheidene Geistesgaben, das alles hängt nicht von dir ab, das ist nicht in deine Wahl gelegt, das wird dir angethan, und deine Sache ist es einzig, mit den fünf Zentnern oder mit dem einen treu zu sein. Aber Seligwerden oder Verlorengehen? Gerichtet werden für eine Schuld, die gar nicht die eigene persönliche Schuld ist? Das steht nimmermehr mit jenen Naturanlagen oder jener äußern Stellung auf gleicher Linie. Um das, was sie gethan haben, werden die Menschen gerichtet. Der Sohn soll nicht tragen die Missethat des Vaters und der Vater nicht die Missethat des Sohnes, spricht ja schon Hesekiel; sondern, welche Seele sündiget - d. h. nach seiner ganzen Ausführung in eigenem persönlichem Handeln sündiget - die soll sterben.

Wie denn also? heben wir damit das von der Vererbung der Sündenneigung Gesagte aus? nimmermehr. Auch das ist etwas, das uns angethan ist; aber eben damit etwas von eigener Verschuldung unterschiedenes. Wir stehen unter diesem Bann nach dem Gesetz des Naturzusammenhangs, nicht bloß die Schrift bezeugt es, sondern unsre eigene Erfahrung leider mehr als genug, also, daß es nicht bei uns steht, ob wir etwa auch keine Sünder sein wollen; also, daß wir nichts ändern können an unserm Zustand, von Natur des Zornes Kinder zu sein.

Aber innerhalb dieser Gebundenheit giebt es eine Freiheit; innerhalb dieser Knechtschaft macht Gott uns eine eigene persönliche Entscheidung möglich. Nicht von uns geht es aus, was uns Hilfe bringt, sondern rein von Ihm allein. Aber wenn Er uns Segen oder Fluch zur Wahl vorlegt, und zwar durch die ganze Stufenleiter seiner Gnadenerweisungen hindurch, so macht Er es uns möglich, daß wir in Ihm das Heil ergreifen oder aber es selbst verschmähen. Und verdammt wird keiner, dem es nicht von Gott ermöglicht wurde, aus eigener Wahl sich für oder wider zu entscheiden. Wenn Gott den Bann auf das Kind gelegt hat, daß es ohne seine Wahl, ja vor aller eigenen Wahl als Kind des Zornes mußte geboren werden, damit hat Gott um Seinetwillen, um seines Namens willen, um seiner unverbrüchlichen Gerechtigkeit willen es auf sich genommen, daß er das Kind nicht schon allein wegen dessen, was ohne alles eigene Verschulden auf ihm liegt, verdammen wolle;, daß er ihm vielmehr, in anderer Weise zwar als dem Ersten, der in die Sünde fiel, zum Schaffen des eigenen Heils oder aber zur Verschmähung desselben Gelegenheit bereiten werde. Auf Grundlage des ererbten Naturstands und bedingt durch denselben wird doch die Person dazu berufen und befähigt, über ihr eigenes ewiges Loos durch eigene That den Ausschlag zu geben.

Mit andern Worten: nicht schon das einfache Vorhandensein der Sünde, so arg sie sei, entscheidet über unser Loos, sondern von der Geschichte der Sünde hängt es ab; von der Geschichte der Sünde bis zum letzten Ausgang, das soll der Gegenstand des nächsten und letzten Vortrags sein. Erst von dort aus kann das volle Licht, soweit wir überhaupt es erreichen können, auf die heute besprochenen Fragen fallen. Doch schon heute darf ich vielleicht diejenigen, welche die im Eingang geschilderten Vorurtheile gegen die Erbsündenlehre hegten, wenn solche hier sind, fragen: habt ihr nicht einigermaßen den Eindruck empfangen, daß ihr euch vor einem Gespenste gefürchtet habt? Fürchtet euch aber nicht, da nichts zu fürchten ist, sondern den Herrn Zebaoth lasset eure Furcht und Schrecken und denselben auch eure Zuflucht sein. Ja, heiliget Gott den Herrn in euren Herzen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/r/riggenbach/gottes_heiligkeit_und_des_menschen_suende/2.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain