Rieger, Carl Heinrich - Kurze Betrachtungen über die Psalmen – Der 90. Psalm.
1. Ein Gebet Mose, des Mannes GOttes. 2. HErr GOtt, Du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge worden, und die Erde, und die Welt geschaffen worden, bist Du, GOtt, von Ewigkeit zu Ewigkeit, 8. Der du die Menschen lässt sterben, und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder. 4. Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. 5. Du lässt sie dahin fahren wie einen Strom, und sind wie ein Schlaf; gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird, 6. Das da frühe blüht, und bald welk wird, und des Abends abgehauen wird, und verdorrt. 7. Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen, und dein Grimm, dass wir so plötzlich dahin müssen. 8. Denn unsere Missetat stellst du vor dich, unsere unerkannte Sünde in das Licht vor deinem Angesicht. 9. Darum fahren alle unsere Tage dahin, durch deinen Zorn; wir bringen unsere Jahre zu, wie ein Geschwätz. 10. Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon. 11. Wer glaubt es aber, dass du so sehr zürnst? Und wer fürchtet sich vor solchem deinem Grimm? 12. Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. 18. HErr, kehre dich doch wieder zu uns, und sei deinen Knechten gnädig. 14. Fülle uns frühe mit deiner Gnade, so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Lebenlang. 15. Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagst, nachdem wir so lange Unglück leiden. 16. Zeige deinen Knechten deine Werke, und deine Ehre ihren Kindern. 17. Und der HErr, unser GOtt, sei uns freundlich, und fördere das Werk unsere Hände bei uns, ja das Werk unserer Hände wolle er fördern.
Der 90. Psalm heißt 1) in seiner Überschrift: Ein Gebet Mose, des Mannes GOttes. Unser seliger Luther schreibt: Wie Moses ein Lehrer gewesen, so lautet auch sein Gebet. Er ist ein Diener der Sünde, des Todes und der Verdammnis, dazu hat ihn GOtt verordnet, also, dass er in seiner Lehre nichts Anderes tut, denn dass er die stolzen hoffärtigen Geister erschreckt, und den sichern frechen Sündern ihre Sünden Lasten und Untugenden vor die Augen stellt, daneben auch die Folgen und Strafen der Sünde, und ihr künftiges Verderben, Hölle und Verdammnis anzeigt; also tut er in diesem Gebet auch. Allein, dass er gleichwohl auch die Sünder tröstet, dass sie in ihrer Sünden-Schuld nicht sollen verzweifeln, sondern bei Christo Trost suchen, und gewiss finden. Dieser Psalm wehrt also auf zwei Seiten. a) Er weckt, dass die sichern und frechen Christen sich vor GOttes Zorn und dem Tod fürchten, sich bekehren, und klug werden. b) Tröstet er die erschrockenen Herzen, in der Angst nicht zu verzagen, und kleinmütig zu werden, also mit einem Wort: im Leben nicht sicher und frech, im Tod nicht furchtsam und verzagt. Moses hat also in diesem Psalm ohne Zweifel den beschwerlichen Zug des Volks Israel durch die Wüste auf dem Herzen gehabt, vielleicht auch seine eigene Mühe und Arbeit, samt der ihm von GOtt auferlegten unhintertreiblichen Notwendigkeit, zu sterben, ehe er in das verheißene Land kam. Da war ihm nun für sich und Andere daran gelegen, dass sie doch nicht so unter diesem Tod der Eitelkeit dahin führen, sondern sich unter der Mühseligkeit dieses Lebens zu GOtt wenden möchten, damit ihnen ihre Not unter Buße, Glauben und Gebet möchte geheiligt und gesegnet werden. In solcher Absicht fangt er an 2) GOtt in seiner ewigen unvergänglichen Lebenskraft anzubeten, und Ihn als der Menschen Zuflucht zu fassen, V. 2-4. 3) Er beklagt die Vergänglichkeit und Mühseligkeit des menschlichen Lebens samt der Menschen schrecklichen Sicherheit, V. 5-12. Er legt sich recht aufs Beten, dass doch GOtt nicht aus Zorn, sondern nach Seiner Gnade mit den armen Menschen handeln wolle, V. 13-17. Sünde und Tod fühlen als unversöhnt, führt in Verzweiflung; Sünde und Tod fühlen bei dem Genuss der Versöhnung, führt in Glauben und Geduld.