Rieger, Carl Heinrich - Kurze Betrachtungen über die Psalmen – Der 71. Psalm.
1. HErr, ich traue auf dich; lass mich nimmermehr zu Schanden werden. 2. Errette mich durch deine Gerechtigkeit, und hilf mir aus, neige deine Ohren zu mir, und hilf mir. 3. Sei mir ein starker Hort, dahin ich immer fliehen möge, der du zugesagt hast mir zu helfen; denn Du bist mein Fels und meine Burg. 4. Mein GOtt, hilf mir aus der Hand des Gottlosen, aus der Hand des Ungerechten und Tyrannen. 5. Denn Du bist meine Zuversicht, HErr, HErr, meine Hoffnung von meiner Jugend an. 6. Auf dich habe ich mich verlassen von Mutterleibe an, Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen. Mein Ruhm ist immer von dir. 7. Ich bin vor Vielen wie ein Wunder; aber du bist meine starke Zuversicht. 8. Lass meinen Mund deines Ruhms und deines Preises voll sein täglich. 9. Verwirf mich nicht in meinem Alter, verlass mich nicht, wenn ich schwach werde. 10. Denn meine Feinde reden wider mich, und die auf meine Seele halten, beraten sich mit einander, 11. Und sprechen: GOtt hat ihn verlassen; jagt nach, und ergreift ihn, denn da ist kein Erretter. 12. GOtt, sei nicht ferne von mir; mein GOtt, eile mir zu helfen. 13. Schämen müssen sich und umkommen, die meiner Seele zuwider sind; mit Schande und Hohn müssen sie überschüttet werden, die mein Unglück suchen. 14. Ich aber will immer harren, und will immer deines Ruhmes mehr machen. 15. Mein Mund soll verkündigen deine Gerechtigkeit, täglich dein Heil, die ich nicht alle zählen kann. 16. Ich gehe einher in der Kraft des HErrn HErrn, ich preise deine Gerechtigkeit allein. 17. GOtt, du hast mich von Jugend auf gelehrt; darum verkündige ich deine Wunder. 18. Auch verlass mich nicht, GOtt, im Alter, wenn ich grau werde, bis ich deinen Arm verkündige Kindeskindern, und deine Kraft Allen, die noch kommen sollen. 19. GOtt, deine Gerechtigkeit ist hoch, der du große Dinge tust. GOtt, wer ist dir gleich? 20. Denn du lässt mich erfahren viele und große Angst, und machst mich wieder lebendig, und holest mich wieder aus der Tiefe der Erde herauf. 21. Du machst mich sehr groß, und tröstest mich wieder. 22. So danke Ich auch dir mit Psalterspiel für deine Treue, mein GOtt; ich lobsinge dir auf der Harfe, du Heiliger in Israel. 23. Meine Lippen und meine Seele, die du erlöst hast, sind fröhlich, und lobsingen dir. 24. Auch dichtet meine Zunge täglich von deiner Gerechtigkeit. Denn schämen müssen sich und zu Schanden werden, die mein Unglück suchen.
Der 71. Psalm hat keine Überschrift von seinem Verfasser, vermutlich aber hat ihn auch David gemacht, und zwar bei hereinbrechendem Alter, etwa unter den Unruhen Absaloms, oder nachdem dieselben überstanden waren, und David nun seine bisherigen Erfahrungen in den Wegen GOttes zu einem bleibenden Denkmal aufrichten, und zugleich bezeugen wollte, mit was er sein Leben weiter zuzubringen und zu beschließen gedächte. Die Einteilung des Psalms kann man nach folgenden merklichen Absätzen machen: 1) Im Eingang bezeugt David sein gutes gegründetes Vertrauen zu GOtt, und bittet, dass ihn GOtt darin nicht wolle zu Schanden werden lassen, sondern vielmehr auch sein ferneres Gebet in Gnaden annehmen und gewähren wolle! V. 3. 2) Von da an nimmt nun David im Gebet selbst einen Anlauf nach dem andern, V. 4. Mein GOtt, V. 12. GOtt, sei nicht ferne, V. 17. GOtt, Du hast mich usw., und so trägt er dem lieben GOtt Alles vor, was ihm wegen seiner Feinde, wegen seines hereinbrechenden Alters, wegen seiner noch weiteren Brauchbarkeit im Reich GOttes, auf dem Herzen lag, V. 4-21. 3) Zuletzt kommt ein fröhliches Gelübde, was diese gesamten Gnaden-Erweisungen GOttes in dem Herzen Davids für ein beständiges Lob GOttes veranlassen, und auch einen fröhlichen Ruhm in seinem Munde unterhalten sollen, V. 22-24. O, was tut uns unsere Vergesslichkeit für Schaden, wie manche Nahrung des Glaubens schneiden wir uns selbst ab, dadurch, dass wir die Lehre und Erweisung GOttes an uns von Jugend au nicht fleißiger in uns erneuern. Wie vielen Vorteil zieht der Unglaube daraus, dass wir das Wunderbare an unserer Führung: wie GOttes Kraft unter der Schwachheit zum Zweck gekommen ist, wie Er auch den Fall zu lauter Kuren gemacht, wie Er dem Schaden von vielen jugendlichen Übereilungen vorgebogen hat, wie Er uns ohne all unser Denken immer auf das geleitet hat, worin wir Seinem Willen dienen sollen zu unserer Zeit, und dergleichen; dass wir, sage ich, dies Wunderbare mit der Entscheidung, so GOtt darin gegeben hat, nicht fleißiger unseren Herzen vorhalten, damit wir uns auch in dem, was wirklich unter Händen ist, doch eher in Geduld fassen, und im Warten auf GOttes abermaliges Wohlmachen erhalten könnten. Was ist es einem hingegen für ein Vorteil, wenn er sich immer wieder auf seinen Klein-Kinder-Glauben zurückziehen, und sich an die Hand GOttes hin hängen kann, die ihn aus Mutterleibe gezogen, und deren Züge und Leitungen ihm nie fremd geworden sind. David hat zu anderer Zeit auch gebetet: HErr gedenke nicht der Sünde meiner Jugend. Und doch wendet er sich nun an GOtt, als an den ihm von Jugend auf wohlbekannten GOtt, dass also doch in seinem Herzen eine Einfalt auf GOtt, ein Grund des Vertrauens in der Liebe geblieben ist; wie denn auch das an seinem nachmaligen Bezeugen so köstlich vor GOtt gewesen ist, dass er in seiner Zuflucht zu der rettenden Gerechtigkeit GOttes, in seinem Eindringen in die Barmherzigkeit GOttes sich immer so geraden Herzens bewiesen hat, daher ließ er sich dann auch die viele und große Angst, die empfindlichen Demütigungen, die erst noch in seinem Alter über ihn kamen, nicht scheu, noch an der Vergebungs-Gnade zweifelhaft machen. Damit gewinnen uns leiblichen Vätern, die wir doch arg sind, unsere Kinder unsere Herzen gleich wieder ab, dass wir nicht Zorn gegen sie behalten. Und so gewinnt man auch das Herz GOttes des himmlischen Vaters, und die gnädige Leitung Seiner Augen am besten, wenn man sich Seine Züchtigungen nicht scheu oder argdenklich machen lässt, sondern von Ihm bei allem Gericht über die Sünde, doch lauter Rettung für uns arme Sünder erwartet.