Rieger, Carl Heinrich - Kurze Betrachtungen über die Psalmen – Der 6. Psalm.
1. Ein Psalm Davids, vorzusingen auf acht Saiten. 2. Ach, HErr, strafe mich nicht in deinem Zorn, und züchtige mich nicht in deinem Grimm. 3. HErr, sei mir gnädig, denn Ich bin schwach; heile mich, HErr, denn meine Gebeine sind erschrocken. 4. Und meine Seele ist sehr erschrocken. Ach du HErr, wie so lange! 5. Wende dich, HErr, und errette meine Seele; hilf mir um deiner Güte willen. 6. Denn im Tod gedenkt man deiner nicht; wer will dir in der Hölle danken? 7. Ich bin so müde von Seufzen, ich schwemme mein Bett die ganze Nacht, und netze mit meinen Tränen mein Lager. 8. Meine Gestalt ist verfallen vor Trauern, und ist alt geworden; denn ich allenthalben geängstigt werde. 9. Weicht von mir, alle Übeltäter; denn der HErr hört mein Weinen, 10. Der HErr hört mein Flehen, mein Gebet nimmt der HErr an. 11. Es müssen alle meine Feinde zu Schanden werden, und sehr erschrecken, sich zurück kehren, und zu Schanden werden plötzlich.
Der 6. Psalm ist einer von den sieben sogenannten Bußpsalmen. Von der Absicht und dem Gebrauch dieser sieben Psalmen wolle man sich bei diesem und den folgenden einmal für allemal merken, dass es damit nicht gemeint ist, als ob man daraus die allgemeine Beschaffenheit jeglicher Buße zu GOtt, und seliger Sinnes-Veränderung lernen müsste, oder als ob ein Jeder durch dergleichen Zorn-Empfindungen eines solchen Angstkampfes getrieben würde; es sind auch wirklich diese Psalmen nicht bei dem ersten bußfertigen Zugang Davids zu seinem GOtt gemacht worden, sondern vielmehr bei einem nach vorgängigem Lauf in den Wegen GOttes erst geschehenen leidigen Straucheln und Fallen, wodurch also schmerzliche Wunden verursacht und von GOtt, neben dem Druck Seiner Hand im Innern, auch schwere Umstände im Äußern mit Krankheit und Verfolgung verhängt worden sind. Dergleichen kommt ja freilich nicht bei Jedem vor, dem GOtt Buße zum Leben schenkt, vielmehr findet sichs, dass GOtt einem einen solchen Schritt durch manche Gnadenzüge im Innern, und durch allerlei gnädige Schickungen im Äußerlichen zu erleichtern sucht; deswegen Keines den Geist der Gnade in seiner Arbeit an sich und Andern damit stören soll, dass er auf ein diesen Bußpsalmen gleichkommendes Maß der Traurigkeit und Todesängsten dringen wollte. Aber da können hernach diese Bußpsalmen gute Dienste tun, wenn GOtt einen Menschen bei gewissen Sünden, oder beim Aufwachen der alten Sünden im Gewissen solcherlei Ängsten und Zorn-Empfindungen schmecken lässt, dass man daraus lerne, wie man auch in der größten Angst und Gefühl der Verderbnis seine Zuflucht zu der Barmherzigkeit und rettenden Gerechtigkeit GOttes nehmen und dieselbe besonders jetzt in Christo JEsu anrufen könne. Und da kann es freilich den Glauben nicht wenig erwecken und stärken, wenn man aus diesen Psalmen sieht, wie David wieder aus der größten Angst genesen, und wie ihm der Geist der Gnaden sein Herz in der Vergebung der Sünden so unvergleichlich erweitert und getröstet habe.
Der Psalm selbst nun hat 1) wieder seine Überschrift: Ein Psalm Davids vorzusingen auf acht Saiten. 2) Führt David eine wehmütige Klage unter immer eingemengten Bitten und Abbitten vom V. 29. „Ich bin schwach.“ Ach, wer doch seine Schwachheit von Herzen erkennen könnte! Denn wo ein Mensch nicht dahin kommt, dass er seine Nichtigkeit und Schwachheit fühlt, und in ihm untergeht alles fleischliche Vermögen, Stärke und Weisheit, so kann er der Gnade GOttes nicht teilhaftig werden, je mehr der Mensch untergeht und zunichte wird in allen seinen Kräften, Werken, Wesen, dass nichts mehr als ein elender Verlassener, Verdammter da ist, je mehr kann die göttliche Gnade, Hilfe und Stärke bei ihm ankommen. „Wende dich HErr!“ Wenn du GOttes Gnade hast, kannst fein beten, GOtt anrufen, Christum bekennen, kannst fein glauben, hast ein fröhliches Herz, so hältst du es oft für gering, und meinst, es komme von dir selber her, weißt nicht, dass GOtt dies Alles in dir ist, und tut, hast auch lange diese Güter nicht so lieb, kannst ins Trachten nach dem Irdischen hineingeraten usw. Da kommt denn unser HErr GOtt, und spricht: Harre! Ich will dir mein Reich aus der Seele nehmen, den Glauben, meine Liebe, die Hoffnung, das Gebet, den Heiligen Geist, ein fröhliches Herz, denn das ist Alles mein, und will dich in Traurigkeit, Angst, Pein, Furcht und Schrecken der Seele hinein führen, und will dann sehen, was dich darin trösten und erlösen kann. Da wirst du lernen das Reich GOttes hochachten, und wirst alsdann mit Ernst rufen lernen: Wende dich HErr, und errette meine Seele! „Ich bin so müde von Seufzen.“ Das Seufzen der Seele begreift das ganze Wesen der Buße, die schmerzliche Reue, den Glauben, und das Verlangen nach GOttes Gnade, den Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit in sich. Es sind des Menschen Seufzer nicht zu ergründen, denn sie begreifen zugleich Himmel und Erde, GOtt und die Welt, Gesetz und Evangelium, Zorn und Gnade, und tragen Alles GOtt vor in einem Augenblick; darum nennt es Paulus unaussprechliche Seufzer. So gar tief legt es GOtt in unseren Geist. In dieser Kraft GOttes ist das bekehrte menschliche Herz nicht zu ergründen, so wenig als das unbekehrte Herz in seiner Bosheit. 3) Er beschließt aber mit einer mutigen Erklärung, die von wiedererlangtem Trost und Stärkung zeugt. Denn wie sich David an seine Feinde von Außen macht, so muss er auch von Innen Lust und Sieg durch die gnädige Erhörung GOttes bekommen haben. V. 9. 10. 11. „Weicht von mir alle ihr Übeltäter.“ Niemals kann man das böse Wesen der Kinder des Unglaubens inniger verabscheuen, niemals tuts einem wohler, wenn man sich von ihnen scheiden kann, als wenn man aus einer frischen Erfahrung die Hilfe GOttes wieder gesehen hat: wie einem aus den misslichsten Umständen bei treuem Anhangen an den HErrn so wohl geholfen sei, und wie es also die Gerechten so gut haben. Diese Worte unsers Psalmen werden Matth. 7, 23. gegen die Heuchler angezogen, die all ihre Sache auf große Ehre, große Namen, Kunst und Weisheit und gut Leben sehen, können weder Christum, noch Sein Kreuz, noch Seine Gnade, noch Sein Joch lieben in ihrer geistlichen in ihrer geistlichen Hoffart und Reichtum, und kommen dabei niemals zur wahren Buße. Durch wahre Buße und Ausharren bei Christo in der Anfechtung muss Alles zunichte werden, was von sich selbst und vor den Menschen hochweise, klug und ansehnlich sein will.
Wenn Weltleute ihre Ausschweifungen immer mit Davids Exempel zudecken und verkleinern wollen, so sollten sie auch an das Buß-Feuer und den brennenden Ofen gedenken, darin er wieder gereinigt worden ist. Bei der Bathseba wollten sie gern im Bett liegen, aber nicht mit David die ganze Nacht das Bett mit Tränen netzen. Solche wird der König David einst aus ihrem eigenen Mund verurteilen, wie jene Boten 2. Sam. 1, 13-15. 4, 9-12.