Rieger, Carl Heinrich - Kurze Betrachtungen über die Psalmen – Der 35. Psalm.
1. Ein Psalm Davids. HErr, hadere mit meinen Haderern; streite wider meine Bestreiter. 2. Ergreife den Schild und Waffen, und mache dich auf, mir zu helfen. 3. Zucke den Spieß, und schütze mich wider meine Verfolger. Sprich zu meiner Seele: Ich bin deine Hilfe! 4. Es müssen sich schämen und gehöhnt werden, die nach meiner Seele stehen; es müssen zurück kehren, und zu Schanden werden, die mir übel wollen. 5. Sie müssen werden wie Spreu vor dem Winde, und der Engel des HErrn stoße sie weg. 6. Ihr Weg müsse finster und schlüpfrig werden, und der Engel des HErrn verfolge sie. 7. Denn sie haben mir ohne Ursache gestellt ihre Netze zu Verderben, und haben ohne Ursache meiner Seele Gruben zugerichtet. 8. Er müsse unversehens überfallen werden, und sein Netz, das er gestellt hat, müsse ihn fangen, und müsse darinnen überfallen werden. 9. Aber meine Seele müsse sich freuen des HErrn, und fröhlich sein auf seine Hilfe. 10. Alle meine Gebeine müssen sagen: HErr, wer ist deines gleichen? Der du den Elenden errettest von dem, der ihm zu stark ist, und den Elenden und Armen von seinen Räubern. 11. Es treten frevelhafte Zeugen auf, die zeihen mich, dessen ich nicht schuldig bin. 12. Sie tun mir Arges um Gutes, mich in Herzeleid zu bringen. 13. Ich aber, wenn sie krank waren, zog einen Sack an, tat mir wehe mit Fasten, und betete von Herzen stets; 14. Ich hielt mich, als wäre es mein Freund und Bruder; ich ging traurig, wie einer, der Leid trägt über seine Mutter. 15. Sie aber freuen sich über meinen Schaden, und rotten sich; es rotten sich die Hinkenden wider mich, ohne meine Schuld; sie reißen, und hören nicht auf. 16. Mit denen, die da heucheln und spotten um des Bauches willen, beißen sie ihre Zähne zusammen über mich. 17. HErr, wie lange willst du zusehen? Errette doch meine Seele aus ihrem Getümmel, und meine Einsame von den jungen Löwen. 18. Ich will dir danken in der großen Gemeine, und unter viel Volks will ich dich rühmen. 19. Lass sich nicht über mich freuen, die mir unbillig feind sind, noch mit den Augen spotten, die mich ohne Ursache hassen. 20. Denn sie trachten Schaden zu tun, und suchen falsche Sachen wider die Stillen im Lande; 21. Und sperren ihr Maul weit auf wider mich, und sprechen: Da, da! das sehen wir gerne. 22. HErr, du siehst es, schweige nicht; HErr, sei nicht ferne von mir. 23. Erwecke dich, und wache auf, zu meinem Recht, und zu meiner Sache, mein GOtt und HErr. 24. HErr, mein GOtt, richte mich nach deiner Gerechtigkeit, dass sie sich über mich nicht freuen. 25. Lass sie nicht sagen in ihrem Herzen: Da, da! das wollten wir. Lass sie nicht sagen: Wir haben ihn verschlungen. 26. Sie müssen sich schämen und zu Schanden werden alle, die sich meines Übels freuen; sie müssen mit Schande und Scham gekleidet werden, die sich wider mich rühmen. 27. Rühmen und freuen müssen sich, die mir gönnen, dass ich Recht behalte, und immer sagen: Der HErr müsse hoch gelobt sein, der seinem Knechte wohl will. 28. Und meine Zunge soll reden von deiner Gerechtigkeit, und dich täglich preisen.
Der 35. Psalm heißt 1) in seiner Überschrift: Ein Psalm Davids. Man kann ihn wohl in Verbindung mit dem nächstvorhergehenden ansehen, und dabei denken, wie es David zu Mut gewesen, wenn er an Diejenigen gedacht, durch deren Verfolgung er zu einer so misslichen Flucht in der Philister Land veranlasst worden, und vor Denen er nun noch bei seiner Zurückkunft ins Jüdische Land so wenig sicher war, als zuvor. Man spürt es der ganzen Einrichtung des Psalms an, aus welchem gepressten Herzen er geflossen, man mag daher statt einer Einteilung in mehrere Teile vom ganzen Psalm so viel merken, wie David 2) seine ganze Sache in GOttes Hand gestellt, und bloß mit gläubigem Vertrauen erwartet habe, was ihm GOtt für Hilfe und Ausschlag endlich werde wiederfahren lassen; auch was für Mittel, Herz and Mut, inzwischen durchzukommen, ihm der HErr verleihen werde. Und dabei ist Bitte und Klagen, Vorstellung von seinem gläubigen und friedlichen, und der Feinde trotzigem und feindseligem Bezeugen, Aussicht auf den guten und fröhlichen Ausgang seinerseits und auf der Feinde zu Schanden werden andererseits, beständig in einander geflochtene Seufzer, wie man sichs bei dergleichen Erfahrungen am besten vorstellen kann, V. 1 bis zum Schluss. Es ist geschwind geschehen, dass einer aus einem solchen Psalm eine Klage, einen Seufzer herausreißt, und über seine Feinde ausstößt. Aber es fragt sich: ob man auch die Geduld bewiesen, die David sonst bewiesen hat; ob man auch die Gelegenheiten zur Selbstrache so vorbei gelassen? wie er im Glauben an GOttes Wohlmachen getan hat; ob man auch sonst in solchem Zugang zu GOtt stehe, und also vor Seinen Augen handle und rede, was man vornimmt? Ob einem die Gerechtigkeit GOttes so anständig ist, wie sie David gewesen, der sie zu nichts gebraucht, als dass dadurch dem Guten sei ihm und Anderen aufgeholfen der Sünde aber und den Ärgernissen gesteuert würde. Davids Worte wollen auch mit Davids Geist gebraucht sein.
Im 34. Psalm hat David mehr auf die, so sich zu ihm hielten, im 35. Psalm aber mehr auf sein eigenes Herz und Anliegen gesehen. Will man eine Einteilung machen, so mag man V. 1. für die Summa ansehen, da er bittet: HErr, hadere mit meinen Haderern, bestreite meine Bestreiter, und das können wir so in umgewandter Ordnung abgehandelt achten, dass der 1-10. V. von dem Streiten wider die Bestreiter, vom 11-24. V. aber von dem Rechten wider die Widersacher die Rede ist. Schadenfreude V. 15. auch von Solchen, die es am wenigsten nötig hätten, und an denen es am schwersten zu tragen ist.