Reinhard, Franz Volkmar - Von der Empfindlichkeit.
Predigt am 6. Sonntage nach Trinitatis 1784 über Matth. 5,20-26.
Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi, und die Liebe Gottes, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch Allen. Amen.
Mach Einleitung des heutigen Evangelii habe ich heute mit euch von einem Fehler zu reden, meine Lieben, den wir unter unsern übrigen Fehlern gemeiniglich übersehen, der sich mit einem ziemlichen Grad guter Bildung und edler Denkungsart verträgt, und sich daher oft auch solcher Menschen bemächtigt, die in vieler Rücksicht Achtung und Liebe verdienen; der aber dessen ungeachtet unsre Ruhe stört, viel Augenblicke unsers Lebens mit Verdruss und Gram erfüllt, die aufrichtigsten redlichsten Menschen von uns verscheucht, Kleinigkeiten in unsern Augen zu unverzeihlichen Verbrechen vergrößert, in unsern Gesellschaften Verwirrung anrichtet, dem Umgang mit Andern alle Annehmlichkeit raubt; von einem Fehler hab ich zu reden, der schon oft das Band der zärtlichsten Freundschaft zerrissen, die herzlichste Liebe in Gleichgültigkeit und Kaltsinn verwandelt, das Feuer des Zorns angeflammt, den bittersten Hass erzeugt, und Menschenblut vergossen hat; ich habe, damit ich's kurz sage, von der Empfindlichkeit mit euch zu reden.
Vielleicht wundert ihr euch, meine Zuhörer, dass ich von diesem, wie es scheint, kleinen und unbedeutenden Fehler mit solchem Ernste spreche, und ihm so große und fürchterliche Wirkungen beilege. Allein ich habe schon angemerkt, dass wir den großen Schaden, den die Empfindlichkeit anrichtet, und die Zerrüttungen, die sie in der menschlichen Gesellschaft hervorbringt, gemeiniglich viel zu wenig achten. Das heutige Evangelium erzählt eine Menge von schädlichen Unordnungen, die fast immer aus diesem Fehler unsers Herzens entspringen. Der Zorn und Unwille, von welchem es redet; die Schmähungen und Beschimpfungen Andrer, die es so ernstlich tadelt; die Unversöhnlichkeit, für welcher es warnt; die Klagen und Streitigkeiten vor Gericht, die so viel Unheil stiften, die so Manchen, der in guten Umständen war, dürftig und unglücklich machen; diese, und eine Menge andrer Ausschweifungen haben fast keine andre Quelle, als unsre allzu große Empfindlichkeit. Ich weiß daher den Inhalt unsers Evangelii nicht besser anzuwenden, als dass ich über eine Sache, die wahrlich mehr Aufmerksamkeit verdient, als man ihr gemeiniglich widmet, ausführlichere Betrachtungen anstelle.
Sollen aber diese Betrachtungen lehrreich und nützlich für uns sein, so seht ihr leicht selbst ein, meine Zuhörer, was und wie viel sie enthalten müssen. Wir müssen nämlich untersuchen, was die Empfindlichkeit sei, und die Natur dieses Fehlers beschreiben; wir müssen den Ursachen nachspüren, aus welchen diese schädliche Neigung unsers Herzens entspringt; wir müssen ferner die nachteiligen Wirkungen bemerken, die sie hervorbringt; und endlich zuletzt die Art und Weise kennen lernen, wie wir diesem Fehler vorbeugen und uns gegen ihn verwahren können. Doch ehe wir diese Stücke weiter überlegen, so lasst uns vorher das Evangelium noch einmal anhören, welches uns bei unsern Betrachtungen leiten soll, und Gott bitten, dass er auch diese Stunde zu unserm Unterricht, und zur Verbesserung unsers Herzens wolle dienen lassen.
Evangelium, Matth. 5, 20-26.
Das Erste, meine Zuhörer, was wir bei Gelegenheit des vorgelesenen Evangelii miteinander in Überlegung nehmen wollten, war die Frage: was die Empfindlichkeit sei, und wie sie sich äußere? Wir werden von diesem Fehler unsrer Denkungsart am leichtesten einen richtigen Begriff fassen, wenn wir uns zugleich an einige ihm entgegengesetzte Eigenschaften erinnern wollen. Sehen wir nämlich auf die Art und Weise, wie wir das Verhalten Anderer gegen uns aufzunehmen pflegen, so lassen sich drei voneinander sehr verschiedene Gewohnheiten bemerken, nämlich Unempfindlichkeit, vernünftiges Gefühl, und Empfindlichkeit. Der Unempfindliche ist das Betragen Andrer völlig gleichgültig. Es ist dem Unempfindlichen ganz einerlei, ob man ihn schätzt oder verachtet, lobt oder tadelt, liebt oder hasst; und so lange die Beleidigungen Andrer noch nicht so hoch gestiegen sind, dass seine Sicherheit und Wohlfahrt offenbar dabei in Gefahr gerät: so lange wird er sie weder seiner Aufmerksamkeit würdigen, noch Gegenanstalten treffen. Ganz anders äußert sich das vernünftige Gefühl weiser Menschen. Es ist ihnen nicht gleichgültig, wie man gegen sie gesinnt ist. Die Zuneigung, Achtung und Liebe, die man ihnen ihrer Verdienste wegen zu erkennen gibt, bemerken sie mit dankbarer Freude; sie können es aber auch nicht hindern, dass der Kaltsinn, die Ungerechtigkeit und die Verachtung, die Andere gegen sie äußern, ihnen nicht zuweilen unangenehme Stunden machen sollten. Allein es mag ihnen das Eine oder das Andere widerfahren, so werden sie immer der Wahrheit gemäß urteilen; und daher weder den Beifall Andrer höher schätzen, als er geschätzt zu werden verdient; noch sich durch die Unbesonnenheit, mit der man ihnen begegnet, stärker rühren lassen, als eine gesetzte Denkungsart erlaubt. Das Gegenteil nun von der Unempfindlichkeit auf der einen, und vom vernünftigen Gefühl auf der andern Seite, ist die Empfindlichkeit, von der wir hier reden. Der Empfindliche ist nicht bloß von der Gleichgültigkeit des Unempfindlichen entfernt, sondern die Lebhaftigkeit, mit der er Alles aufnimmt, führt ihn auch noch über die Grenzen hinaus, welche die Vernunft dem Manne von Gefühl vorschreibt. Sein Fehler, die Empfindlichkeit nämlich, ist nichts anders, als die Neigung, das Verhalten Anderer ohne rechtmäßige Ursachen von einer Seite zu fassen, wo es als nachteilig und beleidigend erscheint. Lasst uns zu dieser allgemeinen Beschreibung die nötigen Erläuterungen sehen.
Die Empfindlichkeit ist zuerst äußerst aufmerksam auf das ganze Betragen Andrer, selbst auf Kleinigkeiten. Wer weiß es nicht, meine Zuhörer, welche Behutsamkeit im Umgang mit einem Empfindlichen nötig ist, und wie wenig es oft auch der vorsichtigsten Sorgfalt gelingt, ihm unanstößig zu sein. Was Andere übersehen; was Andere für Kleinigkeiten halten, die man nicht achten müsse; verzeihliche Unarten und Fehler, die manche Menschen an sich haben, ohne es selbst zu wissen, und ohne Jemand dadurch beleidigen zu wollen; das Alles bemerkt der Empfindliche sehr geschwind, das entgeht seiner lauschenden Aufmerksamkeit nicht, das fällt ihm auf, und bringt ihn auf allerlei Argwohn und Verdacht. Die Miene, mit der ihr ihn grüßt, die Ausdrücke, der ihr euch bedient, die Stellung euers Körpers, die Bewegungen eurer Glieder, euer ganzes Betragen nach seinen kleinsten Bestandteilen und Veränderungen, Alles ist ihm merkwürdig; Alles beobachtet, sammelt, vergleicht und prüft er mit einer Ängstlichkeit, von der der weniger Empfindliche, der unbefangene nachsichtsvolle Menschenfreund gar keinen Begriff hat.
Doch diese scharfe Aufmerksamkeit wäre vielleicht noch zu entschuldigen, wenn der Empfindliche von seinen Bemerkungen einen guten Gebrauch machte; allein die Empfindlichkeit ist stets geneigt, das Verhalten Anderer von einer Seite zu fassen, wo es als beleidigend erscheint. Der Empfindliche hat nämlich nicht bloß Gefühl für wirkliche Beleidigungen, sondern er ist auch gewohnt, Alles, was Andere vornehmen, es sei auch noch so unschuldig und gut gemeint, in Beleidigungen zu verwandeln, Alles so auszulegen, dass es scheint, er habe Ursache, sich darüber zu beklagen. Und daher ist es uns eben mit aller unsrer Behutsamkeit und Schonung nicht möglich, einem Empfindlichen unanstößig zu sein. Grüßen wir ihn ehrerbietig, so nimmt er's für Spott auf; ist unser Gruß vertraulicher und ungezwungener, so findet er sich durch unsre Unbescheidenheit beleidigt. Reden wir nicht mit ihm, so klagt er, wir verachten ihn; und wagen wir's, mit ihm zu sprechen, wer wird uns beistehen, dass uns ja kein Wort entfalle, das er übel nehmen und von einer beleidigenden Seite fassen kann. Sind wir in seiner Gesellschaft in uns gekehrt und verschlossen, so beschwert er sich, dass wir in seinem Umgang kein Vergnügen finden; und sind wir aufgeräumt und offen, so beklagt er sich über die Freiheiten, die wir uns in seiner Gegenwart herausnehmen. Wir haben nicht nötig, ihm etwas Unangenehmes zu sagen, oder in die Schmähungen gegen ihn auszubrechen, die das Evangelium tadelt; es ist ihm ohnehin schon Alles an uns verdächtig; der unschuldigste Scherz, jedes Wort, mit dem besten Herzen gesprochen, jede Miene kann ihn beleidigen, und ihm eine Gelegenheit zu Klagen über uns geben.
Denn dies ist eben die dritte Eigenschaft der Empfindlichkeit, sie ist geneigt, es auch zu äußern, dass sie sich für beleidigt hält. Aber freilich sind diese Äußerungen nach der sonstigen Denkart des Empfindlichen sehr verschieden. Ist er von guter Erziehung, besitzt er feinere Bildung, so wird ein stiller Ernst, eine trübe nachdenkende Miene, ein ungewöhnliches Zaudern im Antworten, ein plötzliches Stillschweigen vielleicht Alles sein, was ihr bemerken werdet, wenn ihr ihn beleidigt habt. Oft erst hinterher, oft erst aus seinen veränderten Gesinnungen und seinem zurückhaltenden Betragen werdet ihr schließen können, dass ihr ihm durch etwas müsst missfällig worden sein. Ist er hingegen hämisch und bitter, so wird seine Empfindlichkeit sich bald durch ein Lächeln verraten, das Hohn und Verachtung ausdrückt; sie wird euch bald mit beleidigenden Anspielungen verfolgen, sich bald in Spöttereien ergießen, die euch das Herz verwunden. Ist er endlich hitzig und roh, so wird sein wilder Zorn in Schmähungen ausströmen; so werdet ihr in Gefahr sein, oft wider all euer Denken und Erwarten beschimpft zu werden; so werdet ihr die Lästerungen, die Jesus im Evangelio so ernstlich tadelt, mit tausend Abänderungen aus seinem Munde hören; so wird er einen Groll gegen euch fassen, der auf Rache denkt; so wird er Hand an euch legen, euch auf den Weg zum Richter schleppen, euch in den Kerker werfen, euch mit einem Wort misshandeln, so viel er kann.
Wir haben indessen Ursache, meine Zuhörer, der menschlichen Natur Glück zu wünschen, dass dieser schändliche Fehler bei denen, die ihm ergeben sind, nicht immer gleich heftig ist. Denn die Empfindlichkeit ist viertens von doppelter Art, entweder bloß vorübergehend, oder Fertigkeit und fortwährende Gewohnheit. Oft ist die Empfindlichkeit bloß vorübergehend.
In diesem Verstand ist sie eine Eigenschaft jener lebhaften reizbaren Seelen, die jeden Eindruck mit Geschwindigkeit auffassen, und schnell in eine Heftigkeit ausbrechen, die sich gemeiniglich auch ebenso schnell wieder verliert. In gewisser Rücksicht sind wir auch ohne alle Ausnahme, den Anwandlungen dieser vorübergehenden Empfindlichkeit ausgesetzt. Es gibt Zeitpunkte unsers Lebens, wo wir alles unsers Ernstes, aller unsrer Gelassenheit, aller unsrer Geduld ungeachtet, weit empfindlicher sind, als sonst; und wer dann mit uns zu tun bekommt, ist freilich in Gefahr, auch durch eine Kleinigkeit uns beleidigen zu können. Diese Art der Empfindlichkeit ist aber auch sehr verzeihlich. Man legt es uns oft so nahe, unsre Umstände sind oft so verdrießlich und verworren, die Seele wird von ihrem kränklichen Körper oft durch so viel dunkle Gefühle geängstigt, es schweben uns wegen der Zukunft so viel unangenehme Besorgnisse in den Gedanken, dass es kein Wunder ist, wenn wir nicht immer unsre ganze Fassung beibehalten können, und wenn unserm kranken verwundeten Herzen auch die leichteste Berührung schmerzhaft wird. Allein ihr werdet den guten redlichen Mann, der von diesem Fehler übereilt worden ist, auch bald wieder zu seiner Gelassenheit zurückkehren sehen; werdet sehen, dass es ihm leid tut, dass er euch mit wahrer Wehmut um Verzeihung bittet, wenn sein Unmut euch beschwerlich gewesen sein, und euch beleidigt haben sollte.
Allein die Empfindlichkeit ist auch oft Gewohnheit, und fortwährende Neigung der Seele. Und dies ist der große Fehler, von welchem wir hier vorzüglich reden. Der Empfindliche dieser Art ist sich immer gleich, immer aufmerksam auf jede Kleinigkeit, immer bereit, Alles übel auszulegen, immer fertig, jenen Ausbrüchen seines Unmuts sich zu überlassen, die ich vorhin angeführt habe.
Doch ehe wir den großen Schaden ins Licht sehen, den die Empfindlichkeit überhaupt, insonderheit aber die zur Fertigkeit gewordene, anrichtet, so lasst uns den Ursachen nachforschen, aus denen dieser seltsame Fehler entspringt. Diese Ursachen sind, nach den mancherlei Neigungen und Umständen der Menschen, freilich sehr zahlreich; wir schränken uns also jetzt nur auf die merkwürdigsten ein und diese liegen teils in
der kränklichen Beschaffenheit unsers Körpers, teils in vorhergegangenen Zuständen unsrer Seele, teils in unserm Stolze, teils endlich in dem Bewusstsein heimlicher Vergehungen.
Oft ist der kränkliche Zustand unsers Körpers die Ursache unsrer Empfindlichkeit. Denn ach, nur gar zu drückend ist unser Körper oft der Seele; und wer hat es nicht wenigstens zuweilen empfunden, wie viel der Geist leidet, wenn seine zerbrechliche Hütte erschüttert wird, oder in manchen ihrer Teile zerrüttet ist? Der Unglückliche, der die Last eines siechen Körpers trägt, der unter tausend unangenehmen Gefühlen, unter tausend Beängstigungen alle Dinge von der traurigsten Seite fasst, und den sauren Weg durchs Leben trübsinnig und nur mit vieler Mühe fortsetzt; der Unglückliche, den dieses Los getroffen hat, ist freilich gegen Alles empfindlich, vermag freilich nicht auch das kleinste Hindernis, das er auf seiner mühevollen Bahn antrifft, mit Gleichgültigkeit anzusehen; seine franke Einbildungskraft vergrößert Alles unmäßig, gibt Allem, was geschieht, eine falsche Wichtigkeit, und dichtet sich selber Ursachen der Furcht, des Missvergnügens und der Angst, wenn dergleichen nicht da sind. Entspringt die Empfindlichkeit aus dieser Quelle, so verdient der Elende, der sie äußert, unser ganzes Mitleid. Mit willigem Herzen wollen wir ihm die Beleidigungen verzeihen, in die er gegen uns ausbricht. Ach, es wird ihm weit saurer, es kostet ihm weit mehr, sie auszuüben, als uns, sie zu ertragen. Lasst uns nie vergessen, dass sie aus einer Seele hervorkommen, die sich nicht helfen kann, die beklommen und bange, die ganz mit sich selbst und ihrem angstvollen Zustande beschäftigt, nicht recht weiß, was sie tut, und wahrlich mehr, als irgendein andrer Leidender, die zärtlichste Schonung verdient.
Unsere Empfindlichkeit entspringt aber auch oft aus vorhergegangenen Zuständen, und dies ist der Fall bei derjenigen Art von Empfindlichkeit, die wir vorhin die vorübergehende genannt haben. Es ist uns unangenehm, in Beschäftigungen gestört zu werden, denen unser Geist sich mit Vergnügen überließ; er wird unwillig, wenn man ihm auf einem Weg, auf welchem er mit Leichtigkeit und Zufriedenheit fortging, plötzlich ein Hindernis entgegen wirft, oder ihn ganz von demselben abziehen will. Daher sind wir so geneigt, Alles von der unangenehmen Seite zu fassen und unwillig zu werden, wenn man uns in einer Einsamkeit stört, in der wir Unterhaltung und Ruhe fanden; wenn man uns bei Arbeiten unterbricht, die wir gern länger fortgesetzt hätten; daher ist man in Gefahr, uns zu beleidigen, wenn man uns zur unrechten Zeit oder am unrechten Ort unbescheiden überfällt. Die ganze Stimmung unsrer Seele hängt nur allzu sehr vom Einfluss äußerer Ursachen ab; und wie oft folgen so viel unangenehme Kleinigkeiten, die das Herz nach und nach mit geheimen Regungen des Verdrusses erfüllen, in so kurzer Zeit aufeinander, dass nur noch ein kleiner Reiz von außen hinzukommen darf, um den lang verhaltenen Unwillen endlich zum Ausdruck zu bringen. Daher kommt's, dass auch der gelassenste Mensch zuweilen übel nimmt, was ihm zu einer andern Zeit vielleicht angenehm gewesen wäre, und dass seine Empfindlichkeit sich oft gegen den ersten Besten äußert, den der Zufall ihm entgegen führt. Unsre Seele ist nicht fähig, von einem entgegengesetzten Zustand auf den andern gleichsam hinüberzuspringen; nur allmählich und nach mancherlei Vorbereitungen kann sie von dem Einen auf den Andern kommen. Notwendig werden wir also empfindlich, wenn man diesen plötzlichen Übergang doch gleichwohl von uns verlangt, und uns gleichsam Gewalt antun will. Ist Traurigkeit und Schwermut die gegenwärtige Verfassung unsrer Seele, so kann uns Niemand leichter beleidigen, als der Fröhliche; und in der Freude ist uns nichts unleidlicher, als die übel angebrachten Klagen des Traurigen. Was bemerken wir dann, wenn irgendein Affekt uns große Lebhaftigkeit und unruhige Bewegung gegeben hat, mit empfindlicherem Missfallen, als die träge Gelassenheit Andrer, die für das, was uns so wichtig ist, gar keinen Sinn zu haben scheint, und ungerührt bei Allem bleibt, was wir vornehmen, um sie zur Teilnahme zu reizen? Nichts ist also gewisser, meine Zuhörer, als dass die vorübergehende Art der Empfindlichkeit ihren Grund fast immer in vorhergegangenen Zuständen hat, durch die wir schon vorbereitet waren, das Betragen Andrer von einer Seite zu fassen, wo es uns unangenehm sein musste.
Allein die Hauptursache unsrer Empfindlichkeit, sonderlich derjenigen, die zur fortwährenden Leidenschaft geworden ist, liegt in unserm Stolze. Und wie kann es auch anders sein, meine Zuhörer? Legen wir unsern Eigenschaften einen allzu hohen Wert bei; ist unsre Seele fest überzeugt, dass wir überall den Vorzug verdienen, dass Alles aufmerksam zuhören soll, wenn wir sprechen, Alles seine Augen auf uns wenden soll, sobald wir erscheinen, Alles unsre Überlegenheit anerkennen, Alles uns verehren, Alles uns huldigen soll; so müssen wir notwendig empfindlich werden, wenn man uns Andere auf irgend eine Art vorzieht; so müssen wir es notwendig für Beleidigung halten, wenn man auf unsern Ausspruch gar nicht merken will, wenn man sich die Freiheit nimmt, andrer Meinung zu sein, wenn man uns wohl gar, es sei mit Willen oder ohne Vorsatz, übersieht, wenn man mit einem Worte die große Wichtigkeit nicht anerkennen will, die wir doch mit so vielem Recht uns beilegen zu können glauben. Unsre Empfindlichkeit muss auch in eben dem Grade zunehmen, in welchem unser Stolz wächst, weil alsdann der Umstände immer mehr werden, die leicht in einen Widerspruch mit unsern übertriebenen Einbildungen kommen können. Diese Empfindlichkeit ist auch eben deswegen das sicherste Merkmal, das unsern Stolz verrät, wenn wir ihn auch sonst noch so künstlich zu verbergen wüssten. Du bist empfindlich, weil ich das Versehen gemacht habe, dich in einer Gesellschaft nicht zuerst zu grüßen; wie könntest du das, wenn du dich nicht unter Allen für den Vorzüglichsten hieltest? Du bist beleidigt, weil ich dir bescheiden widersprochen habe; warum wäre dir mein Widerspruch so unangenehm, wenn du dich nicht beredet hättest, du könnest nicht irren? Du wirst unwillig, weil ich den Einsichten, der Kunst, den Vorzügen eines Andern Gerechtigkeit widerfahren Lasse; wie könnte dich meine Unparteilichkeit erbittern, wenn du dich nicht für weit gelehrter und künstlicher und vollkommener hieltest, als Jener ist? Du beklagest dich, weil ich dir aus Versehen zur Rechten gegangen bin, ohne durch meinen Stand dazu befugt zu sein; wie könntest du so schwach sein, hierüber eine Empfindlichkeit zu äußern, wenn du nicht auf einen Rang stolz wärst, zu welchem du, ich weiß nicht wie, gekommen bist? Doch, warum geb‘ ich mir Mühe, eine Sache zu beweisen, die in die Augen leuchtet. Wir dürfen nur unser eitles Herz prüfen, dürfen uns nur befragen, warum uns dies oder jenes so empfindlich war; so wird sich's zeigen, dass sich fast immer unser Stolz beleidigt fand, dass er es war, der uns zu jener Hitze entflammte, in der wir uns schon so oft gegen Andere vergangen haben.
Doch oft ist auch das Bewusstsein heimlicher Verbrechen eine Ursache der Empfindlichkeit. Ist dein Gewissen nicht rein vor Gott, mein Geliebter, bist du mit heimlichen Vergehungen befleckt; wie aufmerksam und empfindlich wirst du da bei Allem sein, was Andere um dich her vornehmen und äußern. Jeder zweideutige Ausdruck, wenn er auch noch so unschuldig war, wird dir auffallen, weil du fürchtest, er möchte eine Anspielung auf deine geheimen Fehler sein, weil du einen Sinn hineinlegst, an welchen der Sprechende nicht einmal denken konnte. Jeder noch so untadelhafte Scherz, der Andern entfährt, wird dich beleidigen, weil er dich auf den Argwohn bringt, man möchte wohl von deiner geheimen Geschichte mehr wissen, als dir lieb ist. Jede Erzählung, sie sei auch noch so alt, habe noch so wenig Beziehung auf dich, kann dich unwillig machen, weil du sie selbst in einen Zusammenhang mit deiner geheimen Geschichte setzt und sie auf dich deutest. Du wirst aufmerksam und ängstlich werden, wenn Andere sich einander etwas ins Ohr sagen, weil das deiner Meinung nach unfehlbar nicht anders sein kann; als was du so gern vor aller Welt verbergen möchtest. Es wird dir unangenehm sein, wenn Jemand seinen Blick auf dich heftet und dich nachdenkend ansieht; der Verdacht wird in dir entstehen, er tue es der Fehler wegen, deren du dir bewusst bist. Und hier seht ihr auch eine von den Ursachen, meine Zuhörer, warum Andere unsre gut gemeinte Rede wider unser Erwarten und Denken zuweilen so ungütig aufnehmen, und uns abgeneigt werden, ohne dass wir uns erinnern könnten, sie beleidigt zu haben. Wir sind ihnen missfällig worden, weil wir die geheime Geschichte ihres Herzens nicht wussten; wir haben sie in aller Unschuld auf der empfindlichsten Seite angegriffen und den Verdacht bei ihnen rege gemacht, dass wir hinter ihre Geheimnisse gekommen sind und unsre Kenntnis von denselben missbrauchen wollen.
Doch genug von den Ursachen der Empfindlichkeit; lasst uns zu dem Schaden kommen, den sie in der menschlichen Gesellschaft anrichtet, und welchen sie dem selbst zufügt, der sich ihr überlässt. Er ist sehr beträchtlich und einleuchtend, dieser Schade, und ich würde ihn eben deswegen nicht einmal besonders anzeigen, wenn er nicht dessen ungeachtet oft übersehen und die Empfindlichkeit für einen weit geringeren Fehler gehalten würde, als sie wirklich ist. Sie ist nämlich zuerst für den Empfindlichen selbst unaufhörliche Qual. Denn er ist immer der Erste, welcher leidet; das Missvergnügen, das er durch die Äußerung seiner Empfindlichkeit Andern verursacht, fühlet er allezeit zuerst und am meisten. Und wie ungeheuer groß muss die Summe der unangenehmen Gefühle sein, die unaufhörlich in ihm erwachen und miteinander abwechseln! Es ist nicht möglich, dass er aus allen Verbindungen mit Andern heraustreten, von allem Umgange mit Menschen sich absondern könnte. Ist nun Alles für ihn beleidigend und auffallend, so findet er überall Ursachen des Verdrusses und Missvergnügens; so kann die kleinste Veränderung seine Ruhe. stören und ihm die Freude verbittern, die er sich machen wollte; so sucht er in den Armen der Freundschaft vergebens Erholung; so findet er nirgends Zufriedenheit, nirgends einen Menschen, der ihm in jeder Rücksicht unanstößig wäre. Möchten wir doch aufmerksam auf uns selber sein, meine Brüder; wie oft würden wir die Anmerkung machen müssen, dass jene üble Laune, die so manchen Tag unsers Lebens trübe und freudenleer für uns macht; dass jene finstere mürrische Schwermut, die oft wie eine Last auf uns liegt und uns fast zu Boden drückt, nichts weiter als die Folge unsrer Empfindlichkeit ist, und eine Menge von kleinen Veranlassungen hat, die den vernünftigen Mann nicht rühren sollten.
Hierzu kommt, dass die Empfindlichkeit alle Aufrichtige von uns verscheucht und alle Herzen vor uns verschließt. Denn wer soll es wagen, uns die Wahrheit offenherzig und frei zu sagen, bei falschen Behauptungen uns zu widersprechen, unsre unrichtigen Urteile zu verbessern, uns an unsre Fehler zu erinnern, und über unsre Verfassung uns aufzuklären, wenn man weiß, dass wir die Äußerungen derer, die es gut mit uns meinen, mit Undank erwidern und nicht zu schätzen wissen? So wird denn das Heer der Schmeichler uns belagern und uns über unsern wahren Zustand immer mehr verblenden; so wird der redliche aufrichtige Mann, der eben nicht gewohnt ist, aus seiner Meinung ein Geheimnis zu machen, sich von uns entfernen, weil er uns für unheilbar hält; so wird unsre Empfindlichkeit uns gerade derjenigen Gesellschaft, gerade desjenigen Umgangs berauben, der für uns der lehrreichste und nützlichste sein könnte. Aber sie wird auch die Herzen Andrer vor uns verschließen. Denn wer wird sich in unsrer Gegenwart zeigen wollen, wie er ist; wer wird sich, wenn wir in der Nähe sind, frei und ungezwungen seinen Neigungen und Empfindungen überlassen, da er fürchten muss, uns durch jede Kleinigkeit anstößig zu werden und sich Verdrießlichkeiten zuzuziehen? Der Empfindliche sieht also die, mit denen er umgeht, nie so, wie sie wirklich sind, sondern immer nur mehr oder weniger verschlossen und gleichsam verkleidet. Und dabei flieht ihn, wer ihn fliehen kann; dabei geht ihm aus dem Wege, wer ihm nicht notwendig begegnen muss, oder nicht ausdrücklich darauf ausgeht, ihn zu kränken, und seiner Empfindlichkeit sich zu bedienen, um ihm unangenehme Stunden zu machen, weil er ihn nicht zu fürchten hat. Ihr wisset es selbst, meine Zuhörer, wie sehr wir uns Alle ein Bedenken machen, mit empfindlichen Menschen uns einzulassen, wenn wir ihrer Gesellschaft entübrigt sein können.
Wer vermag endlich alle die Unordnungen zu beschreiben, welche die Empfindlichkeit in der menschlichen Gesellschaft anrichtet! Sie ist es, die so gern in die Lästerungen ausbricht, welche Jesus im Evangelio für so wichtige Verbrechen erklärt. Sie ist es, die so viel schädliche Prozesse, so viel unnötige Streitigkeiten vor Gericht hervorbringt, für welchen Jesus im Evangelio so nachdrücklich warnet und zu deren Hintertreibung er Versöhnlichkeit und nachgebende Geduld so dringend empfiehlt. Sie ist es, die den Samen der Uneinigkeit selbst in Familien ausstreut, welche durch die Bande der Natur und des Bluts verknüpft sind, und so oft durch den Eigensinn einer einzigen empfindlichen Person getrennt werden. Sie zerreißt sogar das noch viel zärtlichere Band der vertrautesten Freundschaft, und verwandelt die herzlichste Liebe in Gleichgültigkeit und Kaltsinn, oft selbst in Feindschaft und Hass. Sie ist die verhasste Störerin so vieler unschuldigen Vergnügungen; sie entzündet in unserm Herzen das Feuer der Rachsucht; sie entflammt den Zorn in uns, in welchem wir unsrer so wenig mächtig sind, und der nie tut, was vor Gott recht ist; sie ist die Mutter des Zweikampfs und hat dadurch schon so oft unschuldiges Blut vergossen; den Erdkreis selber hat sie schon durch verderbliche Kriege verwüstet und ganze Länder unglücklich gemacht. Denkt nicht, meine Zuhörer, die Empfindlichkeit sei doch nicht immer so gefährlich in ihren Folgen und daher doch zuweilen ein sehr verzeihlicher Fehler. Denn so lange sie in unserm Herzen herrscht, so lange sind wir nicht fähig, die Gesinnungen jener zärtlichen Liebe gegen alle unsre Brüder und jener herzlichen Versöhnlichkeit gegen unsre Beleidiger anzunehmen, ohne die wir uns vergeblich rühmen, wahre Bekenner Jesu zu sein. Es ist nicht möglich, dass der Empfindliche alle Menschen schätzen könnte, wie Jesus sie schätzte; dass er die Wohlfahrt Aller so eifrig wünschen könnte, wie Jesus sie wünschte; dass er im Verzeihen so willig, so milde, so großmütig sein könnte, wie Jesus es war; es ist mit einem Worte nicht möglich, dass der Empfindliche sich jemals zu einem Alles umfassenden Wohlwollen bilden könnte, ohne welches Jesus uns nicht für die Seinigen erkennen kann.
Ist nun die Empfindlichkeit so schädlich für unsre Ruhe, so nachteilig für die menschliche Gesellschaft und so gefährlich für unsre Tugend, so lasst uns noch etwas von der Art und Weise sagen, wie wir diesem wichtigen Fehler vorbeugen können. Sollte also die Ursache unsrer Empfindlichkeit in der kränklichen Beschaffenheit unsers Körpers liegen, so begreifet ihr leicht, meine Zuhörer, dass wir alsdann nicht so wohl von der Religion, als viel mehr von dem Rate des Arztes Gegenmittel erwarten müssen. Eine Anmerkung muss ich indessen doch hierüber machen. Fühlen wir nämlich Anwandlungen dieses Fehlers, können wir es uns selbst nicht recht erklären, warum uns zuweilen Alles auffällt, Alles uns zum Unwillen reizt, so ist es sehr wichtig, dass wir genau untersuchen, ob nicht der Zustand unsers Körpers und eine Verschlimmerung desselben daran schuld sei. Sollte dies wirklich der Fall sein, so ist es dringende Pflicht für uns, beizeiten die Hülfe des Arztes zu suchen und einer Zerrüttung gleich beim Entstehen vorzubeugen, die durch Nachlässigkeit so leicht unheilbar werden kann. Unstreitig ist die Anzahl jener Unglücklichen, deren Empfindlichkeit von einem schwachen immer kränklichen Körper herrührt, bloß deswegen so groß, weil der Anfang solcher Unordnungen im Körper nur gar zu oft übersehen, und dann erst Rat und Beistand gesucht wird, wenn das Übel schon zu stark ist. Lasst uns bedenken, dass uns das Christentum zwar keine Heilungsmittel vorschlägt; dass es uns aber die zärtlichste Sorgfalt für die Gesundheit des Leibes befiehlt, und uns insonderheit dann verbindet, über dieselbe zu wachen, wenn uns eine Krankheit droht, die unserm Geist eine finstere, menschenfeindliche Stimmung geben und uns bei Ausübung unsrer Pflichten verzagt und mutlos machen würde.
Wider diejenige Art der Empfindlichkeit aber, die aus sittlichen Ursachen entspringt, geben Vernunft und Religion Gegenmittel an die Hand, um deren weisen und gewissenhaften Gebrauch ich euch noch bitten muss. Lasst uns nämlich unsrer Empfindlichkeit zuerst dadurch vorbeugen, meine Zuhörer, dass wir den Gelegenheiten sorgfältig ausweichen, bei welchen sie gereizt werden könnte. Dies ist ja ohnehin immer das Erste, was wir bei Ablegung eines Fehlers zu beobachten haben; wir müssen ihm alle Nahrung zu entziehen suchen, und die Empfindlichkeit macht diese Vorsicht ganz vorzüglich nötig. Sie wird uns zu mächtig werden, wenn wir uns in Verbindungen verwickeln lassen, wo sie leicht gereizt werden kann, wo es wenigstens sehr wahrscheinlich ist, dass wir Gelegenheit zum Missvergnügen finden dürften. Weißt du also aus vorhergehenden Erfahrungen, dass das Spiel dich empfindlich macht, so vermeide es, wenn dir etwas an deiner Zufriedenheit und Besserung liegt. Fühlst du gegen Diesen oder Jenen eine geheime Abneigung, und bist eben deswegen im Voraus schon aufgelegt, Alles, was er tut, weit leichter übel auszulegen, als wenn es ein Anderer getan hätte, so weiche ihm aus, so vermeide lieber einen Umgang, bei welchem deine Empfindlichkeit so viel Nahrung finden würde. Kannst du vermuten, dass dein Unwille in dieser oder jener Gesellschaft gereizt werden möchte, und wie oft wirst du dies mit der größten Wahrscheinlichkeit vorhersehen können! so vermeide lieber eine Gefahr, die dir leicht so nachteilig werden könnte. Hat deine Erfahrung dich belehret, dass nur ein kleines Übermaß im Trinken dich ungestüm und empfindlich macht, ach! so sei dir dies ein mächtiger Antrieb, eine Ausschweifung, die schon an sich so schändlich ist, desto sorgfältiger zu verhüten. Jeder von uns muss es aus den Beobachtungen wissen, die er über sich selbst gemacht hat, bei welchen Gelegenheiten seine Empfindlichkeit am leichtesten gereizt wird und am geschwindesten ausbricht; und wir haben schon viel gegen diesen Fehler gewonnen, meine Zuhörer, wenn wir diesen Gelegenheiten mit aufmerksamer Klugheit ausweichen.
Wir wollen uns aber auch zweitens gewöhnen, die ungemeine Verschiedenheit nie zu vergessen, die sich bei den Denkungsarten und Zuständen derer findet und finden muss, mit denen wir zu tun haben. Wir werden unbillig und empfindlich gegen Andere, sobald wir vergessen, uns an ihre Stelle zu sehen und zu überlegen, dass sie, die von Jugend auf unter ganz andern Umständen gelebt, andern Unterricht genossen, andre Erfahrungen gemacht, andre Schicksale gehabt haben, als wir, notwendig auch anders denken, empfinden, urteilen, verwerfen und billigen müssen, als wir. Möchten wir doch also nie in eine Gesellschaft von Menschen treten, nie mit Andern umgehen, ohne daran zu denken, dass wir überall etwas antreffen werden, was unsrer Art zu urteilen und zu handeln widersprechen muss. Möchten wir es durch fleißige Übung dahin zu bringen suchen, dass uns bei jeder Anwandlung des Unwillens und der Empfindlichkeit sogleich der Gedanke beifiele: sie, die dir missfallen, können nicht anders handeln; in ihren Umständen, bei ihrer Verfassung, nach ihrer Art, nach allen den Veränderungen, durch die sie gegangen. sind, müssen sie so sehn, empfinden und urteilen; wie unbillig wäre es, wenn du verlangen wolltest, dass sie nach deiner Denkungsart sich richten und die ihrige verleugnen sollen; hieße dies nicht, etwas Unmögliches von ihnen fordern? Haben wir uns diese Vorstellung so geläufig und eigen gemacht, dass sie gleich in uns erwacht, wenn wir etwas an Andern bemerken, das uns beleidigen könnte, so kann es uns nicht schwer werden, Vieles mit Gelassenheit, Vieles sogar mit bedauerndem Mitleid wahrzunehmen, was uns außerdem empfindlich und unwillig gemacht hätte. Sollte ich also verdrießlich werden, wenn mich der, der nie feine Lebensart gelernt hat, nicht nach den Regeln derselben behandelt? Wie könnte ich von ihm fordern, was er nicht hat und in seinen Umständen sich nie hat erwerben können? Sollte ich empfindlich werden, wenn der stolze eingebildete Tor sich gegen mich Grobheiten erlaubt? Mein Mitleid verdient der Unglückliche, bedauern muss ich ihn, weil seine Umstände ihn zu einem Fehler verleitet haben, der für ihn selbst so gefährlich ist und mir so wenig schaden kann. Sollte ich es übel nehmen, wenn ein Unwissender mich falsch beurteilt und ohne Ursache tadelt? Wie unbesonnen wäre es, wenn ich von ihm, den der Mangel an Fähigkeiten, den die nachteiligen Umstände, den allerlei unglückliche Verbindungen gehindert haben, einsichtsvoller zu werden, die Weisheit und den Geschmack eines Kenners verlangen wollte! Sollte ich mich beklagen, weil der Freudige nicht an meiner Traurigkeit, und der Traurige nicht an meiner Freude Teil nehmen kann? Was wäre unbilliger, als eine Klage, die dem Andern zumutet, Empfindungen zu verleugnen, deren Gewalt jetzt so groß in ihm ist, und seiner ganzen jetzigen Verfassung entgegenzuhandeln? Soll es uns also möglich werden, meine Zuhörer, unsre Empfindlichkeit zu mäßigen und zu unterdrücken, so lasst uns jeden Menschen nehmen, wie er ist; lasst uns von Niemand mehr, oder etwas Andres erwarten, als was er nach dem Stand seiner Einsichten und Empfindungen leisten kann; lasst uns nie vergessen, dass Jeder nach seiner ihm eigentümlichen Art zu denken und zu empfinden handelt und handeln muss, und dass es töricht ist, wenn wir uns zwar selbst so betragen, aber allen Andern das nämliche Recht und die nämliche Freiheit versagen wollen.
Insonderheit aber lasst uns alle Ehrenbezeugungen und allen Beifall der Menschen nach ihrem wahren Werte beurteilen, und mit dem Beifall unsers Gewissens und der Ehre bei Gott zufrieden sein lernen. Wir werden vergeblich gegen unsre Empfindlichkeit kämpfen, meine Brüder, so lange uns die Spielwerke noch wichtig sind, welche der eitle Stolz sucht, so lange der laute Beifall Andrer und die Ehrenbezeugungen der Menge noch ein notwendiges Stück unsrer Glückseligkeit ausmachen. Diese Dinge haben wir ja nicht in unsrer Gewalt; wie wird uns also die peinlichste Empfindlichkeit quälen, wenn sie uns entzogen werden! Haben wir hingegen durch vernünftiges Nachdenken einsehen lernen, wie gering der Wert alles menschlichen Beifalls ist; wie sehr er von unedlen Absichten und Leidenschaften abhängt; wie oft er die Folge niedriger Kunstgriffe ist; wie sehr er sich auf Unwissenheit und leere Einbildungen gründet; wie oft der weise Mann Ursache hat, sich manches Lobes zu schämen und den Tadel mancher Menschen sich zur Ehre anzurechnen: so werden wir sehr gleichgültig gegen Dinge werden, die sonst unser ganzes Herz in Bewegung gesetzt hätten; so wird es uns möglich sein, unsre Empfindlichkeit auch dann zu mäßigen, wenn man uns parteiisch unterdrückt, wenn man unsre redlichsten Absichten verkennt, wenn der Verleumder unsern guten Namen kränkt, wenn alle Menschen uns falsch beurteilen. Wer ist mehr verkannt worden als Jesus? Wen hat man empfindlicher zu kränken gesucht als Ihn? Und ihr wisset es, meine Brüder, mit welcher Gelassenheit und Fassung er Alles duldete, mit welcher Großmut er sich erklärte: ich suche nicht meine Ehre; mit welchem hohen Bewusstsein seines reinen Gewissens und seiner Ehre bei Gott er seinem Richter sagen konnte: du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von Oben gegeben wäre. Dies ist das große Muster, dem wir nacheifern sollen. Ist unser Herz unbefleckt, unser Gewissen rein, unser ganzes Verhalten gut und unsern Pflichten gemäß, so mag die Welt uns verkennen, mag uns lästern, mag uns unterdrücken: unsre Empfindlichkeit soll uns nicht zu mächtig werden, wir wollen nicht unsre Ehre suchen, es ist einer, der sie dann suchet und richtet. Der Beifall dessen, den kein falscher Schein blendet und keine Parteilichkeit irre macht; die Zufriedenheit dessen, der unendlich höher ist als alle Menschen, und in dessen Hand die wahre Tugend ewige Belohnungen erblickt; die Ehre bei Gott und Jesu sei dann unsre Schadloshaltung, und lehre uns für die, die uns beleidigen, jenes Gebet der höchsten Liebe mit aufrichtigem Herzen nachsprechen: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Amen.