Rambach, Johann Jakob - Betrachtungen über die sieben letzten Worte des gekreuzigten Jesu - Vorwort.
Hier werden dem Leser sieben Betrachtungen über die sieben Worte, welche unser Heiland an seinem Kreuze geredet hat, übergeben. Gs sind dieselben in öffentlicher Versammlung auf dem Saale des hiesigen Waisenhauses am 10., 17. und 24. Februar, wie auch am 3., 10., 17. und 24. März des 1725sten Jahres vorgetragen worden, und in der Hoffnung einer mehrern Erbauung nunmehr zum Druck befördert. Diesen ist als ein Anhang beigefügt eine am 27. Juli desselben Jahres gleichfalls öffentlich gehaltene Rede, worin die göttliche Verordnung von dem Begräbniß eines an's Holz gehängten Israeliten, 5 Mos. 2l, 22. 25., erklärt und das Geheimniß Christi darin entdeckt wird, welche sich gar füglich zu den sieben Worten schickt, theils da dieselben eben damals gesprochen worden, als der Herr am Holz gehangen und den Fluch für uns getragen, theils weil bald auf diese Worte seine Abnehmung vom Holz und sein Begräbniß erfolgt ist, welches durch die von Gott anbefohlenen Begräbnisse eines Erhängten vor Untergang der Sonne vorgebildet worden sind.
Was die sieben letzten Worte Christi betrifft, so sind dieselben billig für einen edeln Theil der Geschichte vom Leiden Jesu Christi zu achten und als gesegnete Quellen vieler theuren Wahrheiten anzusehen, aber es ist auch gewiß nicht weniger das dreifache Stillschweigen unsers leidenden Seligmachers vor dem hohen Rath, Matth. 26, 63., vor Herodes, Luc. 23, 9., und vor Pontius Pilatus, Marc. 15,5,, Joh. 19,9., voller betrachtungswürdigen Geheimnisse. Es hatte dasselbe seine gerechten Ursachen, welche der Weisheit Gottes höchst anständig und dem Amte Jesu Christi höchst geziemend waren, wovon nur die vornehmsten zum weitern Nachdenken angezeigt werden sollen.
- Er schwieg stille, damit er die Schrift erfüllte, welche dieses von ihm geweissagt hatte. Denn Ps. 38, 13 -15. wird der leidende und von den Pfeilen Gottes verwundete Messias also redend eingeführt: „Die mir nach der Seele stehen, stellen mir nach, und die mir übel wollen, reden, wie sie Schaden thun wollen, und gehen mit eitel Listen um. Ich aber muß sein wie ein Tauber und nicht hören, und wie ein Stummer, der seinen Mund nicht aufthut. Ich muß sein wie einer, der nicht hört, und der keine Widerrede in seinem Munde hat/ Wie eigentlich hat hier der Geist Gottes das Bild des leidenden Jesu getroffen! Seine Feinde reden und häufen Klagen auf Klagen, Lästerungen auf Lästerungen, Lügen auf Lügen; Er aber schweigt und läßt kein Wiederschelten, noch Drohen aus seinem Munde hören. Hiemit stimmt die Beschreibung Jesaiä überein, C. 53, 7.: „Da er gestraft und gemartert ward, that er seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das verstummet vor seinem Scheerer und seinen Mund nicht aufthut“, oder eigentlich: „also that er seinen Mund nicht auf.“ Bei welcher Weissagung zu merken 1. daß darin eines doppelten Stillschweigens Christi Meldung geschieht; 2. daß dieses doppelte Stillschweigen sein Absehen habe auf das gedoppelte Gericht, vor welchem er gestanden: das geistliche, wo er als ein Schaf seiner Wolle, das ist aller seiner Vorzüge, die er als ein Israelit hatte, beraubt ward, und das weltliche, auf dessen Befehl er zur Schlachtbank hingeführt wurde; 3. daß diese letzten Worte: also that er seinen Wund nicht auf, welche mit Verwunderung ausgesprochen sind, diejenige Verwunderung abbilden, mit welcher der weltliche Richter sein Stillschweigen ansehen würde, wovon es Marc. 15, 5. heißt: „Jesus aber antwortete nichts mehr, also daß sich auch Pilatus verwunderte“, weil er bei andern Missethätern dergleichen nicht gewohnt war, welche eher zu viel als zu wenig sich zu verantworten pflegen. Ob nicht auch das Stillschweigen Aarons, 3 Mos. 10, 3., und Davids, Ps. 39, 3., unter die Vorbilder des Stillschweigens Christi gerechnet werden könne, wird zu weiterer Untersuchung überlassen.
- Er schwieg stille, seine Bereitwilligkeit zum Tode an den Tag zu legen und durch die unterlassene Verantwortung gegen die Beschuldigungen seiner Feinde, die ihn auf Leib und Leben anklagten, zu bezeugen, wie willig er sei, das Todesurtheil an sich vollziehen zu lassen. Denn ob er wohl für seine Person unschuldig war und sagen konnte: „Gs treten frevle Zeugen wider mich auf, die zeihen mich, dessen ich nicht schuldig bin“, Ps. 35, 11., so war er doch, sofern er als unser Bürge betrachtet wird, nicht unschuldig, sondern wurde von Gott also angesehen, als ob er alle Sünden der Welt allein begangen hätte. Darum hat er auch in seinem Stillschweigen die Gestalt eines Sünders tragen wollen, der sich in seinem Gewissen schuldig findet und verstummt und der Gerechtigkeit ihren Lauf zu lassen bereit ist, Joh. 39, 34. 35.
- Er schwieg stille, die Schuld des sündlichen Gesprächs unserer ersten Mutter mit dem Versucher zu tragen. Hätte Eva ihr Ohr von den verfänglichen Reden des Satans abgewendet, oder doch dieselben mit einem solchen Stillschweigen angehört, mit welchem die Abgesandten Hiskia die Lästerungen des Erzschenken von Assyrien anhörten, Jes. 36, 2l., so würde sie nicht zu Fall gekommen sein. Da wir aber über dem Reden das Ebenbild Gottes verloren und unser Heil verscherzt haben, so mußte das wesentliche Ebenbild des unsichtbaren Gottes unter dem Stillschweigen uns das Heil wieder erwerben.
- Er schwieg stille, die sündliche Verantwortung Adams zu büßen, mit welcher er nach begangenem Ungehorsam seine böse Sache zu schmücken suchte, 1 Mos. 3, 10. 11. Hatte sich der erste Adam auf eine sündliche Art verantwortet, da ihm sein wahrhaftiges Verbrechen vorgehalten wurde, so mußte der andere Adam sich von aller Verantwortung enthalten, als ihm erdichtete Verbrechen Schuld gegeben wurden.
- Er schwieg stille, alle Sünden der Nachkommen Adams, die mit der Zunge begangen werden, auszusöhnen. Jacobus nennt die Zunge eine Welt voll Ungerechtigkeit, ein unruhiges Uebel voll tödtlichen Giftes; er sagt von ihr, daß sie den ganzen Leib beflecke und den ganzen Wandel anzünde, wenn sie von der Hölle entzündet sei, Jac. 3, 6. 8. Alle Mißgeburten dieses unruhigen Uebels hat der Sohn Gottes durch sein Stillschweigen gebüßt, besonders alle zornigen Schimpf-, Schelt- und Drohworte, alle üppigen Scherze und Narrentheidinge, die den Christen nicht geziemen, alle falschen Zeugnisse, alle sündlichen Gelübde, alle frevelhaften Lügen, alle Unwahrheiten, die mit dem Namen der Roth-, Scherz- und Ehrenlügen geschmückt werden, alle verstellten Complimente und Freundschaftsversicherungen, alle auf den Schaden des Nächsten abzielenden, zweideutigen und auf Schrauben gesetzten Worte, alles Afterreden, Läugnen, Lästern, Splitterrichten, Keifen und Wortverdrehen, alle störrige Unfreundlichkeit in Worten, alles ungestüme Geschrei, alle Schwatzhaftigkeit, Klatscherei und verbotene Offenbarung der Heimlichkeiten, alle Zänkereien und spöttische Reden, alles boshafte Widersprechen, alle Schmeichelei und Ruhmredigkeit in Erhebung seiner selbst, alle falschen Anklagen, falschen Urtheile, falschen Erklärungen der heiligen Schrift, alle Verleumdungen, alle Gotteslästerungen, allen Mißbrauch des Wortes und Namens Gottes, alles Murren über die Schickungen Gottes, alle falschen und leichtfertigen Eidschwüre, alle Flüche, mit welchen der Mund mancher Menschen, als ein unreiner Pfuhl des Satans, beständig überfließt, ja auch alle unnützen und überflüssigen Worte, von welchen auch öfters der Mund derer, die Christi Jünger sein wollen, nicht frei ist; kurz alle Sünden, welche die Zunge zu begehen nur fähig ist. Alle diese und andere höchst strafbare Zungensünden, wodurch die Ehre Gottes so hoch verletzt wird, hatten nimmermehr vergeben werden können, wenn nicht Jesus Christus durch sein heiliges Stillschweigen Gott geehrt und dadurch den Grund der Vergebung derselben gelegt hätte. Und weil diese Zungensünden allgemein sind und das ganze menschliche Geschlecht als eine Fluth überschwemmt haben, so hat unser Heiland vor Juden, Judengenossen und Heiden, welche zusammen damals das ganze menschliche Geschlecht ausmachten, durch sein Stillschweigen den Namen Gottes verherrlicht. Denn der hohe Rath bestand aus Juden, und Herodes war ein Judengenosse, und Pilatus ein Heide. Vor allem schweigt das Lamm Gottes, damit das Verdienst seines Stillschweigens zur Bedeckung der Zungensünden über alle ausgebreitet werden könne.
- Er schweigt stille, um für alle Arten des sündlichen Stillschweigens, wodurch man sich fremder Sünden theilhaftig macht, genug zu thun, da man stumm ist, wenn man reden soll, was recht ist, Ps. 58, 2.; da man sich schämt, Christum vor der Welt zu bekennen; da mau wichtige Verbrechen nicht anzeigt, damit sie entweder verhindert oder bestraft werden, weil man sich mehr vor der Feindschaft eines ohnmächtigen Menschen, als vor der Ungnade des lebendigen Gottes fürchtet, Spr. Sal. 29, 24. 25.; da man seinen Nächsten nicht durch freundliches Zureden von bösen Anschlägen abzuhalten sucht, 3 Mos. 19, 17.; da man unterläßt, seinen Nächsten zu entschuldigen und seinen guten Namen zu retten; da man in seinem Amte nicht sagt, was man Gewissens halber zu sagen verbunden ist, u. s. w. So hat das verstummte Lamm Gottes die Sünden aller stummen Hunde, Jes, 56, 10., im Lehr-, Wehr- und Nährstande büßen und alle Sünden, die nur mit der Zunge begangen werden können, durch sein verdienstliches Stillschweigen versöhnen wollen.
- Er schwieg stille und enthielt sich aller erlaubten Vertheidigung seiner Unschuld, damit er die unordentliche Hitze, mit welcher die Menschen sich selbst und ihre Ehre zu vertheidigen pflegen, aussöhnen möchte, wobei man öfters das Recht der Natur den Regeln des Christenthums entgegensetzt und sich mehr durch den Geist der Rache zu Schlägereien, Duellen, Injurienprozessen, anzüglichen Schmähschriften, ja wohl gar zu blutigen Kriegen, als durch den Geist der Sanftmuth zur Erduldung des Unrechts antreiben läßt.
- Er schwieg stille, und entschuldigte sich nicht, um die große Sünde der Entschuldigung gut zu machen, worin manche Menschen eine ungemeine Beredtsamkeit erlangt haben, mit welcher sie theils die Sünde Anderer vertheidigen (dergleichen Advokaten der Bosheit in allen Ständen anzutreffen sind, welche den Untugenden ihrer Unterthanen, ihrer Zuhörer und ihrer Kinder das Wort reden), theils ihre eigenen Sünden entschuldigen, verkleinern, beschönigen und sich selbst aus Eigenliebe zu rechtfettigen suchen, dergleichen Entschuldigungen lauter gefährliche Stricke des Lügengeistes, lauter nichtige Feigenblätter einer offenbaren Blöße, lauter finstere Schlupfwinkel der verderbten Eigenliebe sind, wohin sich die Menschen verstecken, wenn die Stimme Gottes in ihrem Gewissen erschallt.
- Er schwieg stille, die Sünden zu büßen, die mit der Beredtsamkeit begangen werden, welche die Menschen öfters, zu einem Werkzeuge brauchen, die schlimmsten Sachen zu vertheidigen, Andere zusammenzuhetzen, Rebellion, Mord und Blutvergießen zu stiften, lasterhafte Personen in Lobreden, Leichenpredigten, Dedicationen und bei andern dergleichen Gelegenheiten zu erheben, den Großen zu schmeicheln, die Sichern durch falschen Trost einzuschläfern, die gefährlichsten Irrthümer wahrscheinlich zu machen und fortzupflanzen :c.
- Er schwieg stille, damit er seinen Knechten und Kindern die Gnade erwerbe, ihr Zeugniß mit freudigem Aufthun ihres Mundes abzulegen und bereit zu sein zur Verantwortung gegen Jedermann, der Grund fordert der Hoffnung, die in ihnen ist, 1 Pet. 3, 15., ja ihnen das Recht zu verdienen, daß sie selbst mit Gott freimüthig reden dürfen. Er verstummt in den menschlichen Gerichten, damit sie nicht in dem Gericht Gottes verstummen dürfen, Matth 22, 12., sondern damit vielmehr ihrem Verkläger ein Stillschweigen aufgelegt und endlich alle falschen Mäuler verstopft werden, welche wider den Gerechten reden stolz, steif und höhnisch, Ps. 31, 19. Er schwieg, damit Gott wieder mit uns rede, und erwirbt durch sein Stillschweigen die Kraft, in der schweren Versuchung, wenn Gott auf unser Gebet und Geschrei zu schweigen scheint, zu bestehen, Ps. 28, 1. Ps. 39, 13. Ps. 83, 2.
- Er schwieg stille, damit er das Stillschweigen seiner Knechte und Kinder, worein sie sich nach abgelegtem Zeugniß der Unschuld und Wahrheit endlich einwickeln, heiligen möge. Urtheilt gleich die Welt übel davon, wenn die Christen nicht auf alle verfänglichen und vorwitzigen Fragen, die man ihnen vorlegt, auf alle Verleumdungen, die man ihnen aufbürdet, auf alle Streit- und Schmähschriften, womit man sie von ihrem Hauptwerk abziehen will, mündlich oder schriftlich immerfort antworten wollen; beschuldigt sie die Knechte Gottes bei diesem gerechten Stillschweigen, daß sie hochmüthige, eigensinnige, tückische Leute wären, daß sie hinter dem Berge hielten, nicht mit der Sprache heraus wollten, eine böse Sache hätten, welche sie sich nicht getrauten weiter zu vertheidigen, so gönnen sie den Feinden der Wahrheit die falsche und kurze Freude, daß sie sich den Sieg zuschreiben und ihr Stillschweigen übel auslegen, und trösten sich unterdessen, daß es ihrem Meister auch so ergangen, welcher auch von Pilatus einen Verweis darüber bekam, da er, nachdem er genug vergeblich mit ihm geredet, ihm nicht weiter antworten wollte, welches dieser heidnische Landpfleger für eine Beschimpfung und Verachtung seiner Person aufnahm und zu ihm sagte: Redest du nicht mit mir? weißt du nicht, daß ich Macht habe, dich zu tödten, und Macht habe, dich loszulassen? Joh. 19. 9. 10.
- Er schwieg stille, damit er seinen Nachfolgern ein gutes Exempel gäbe:
Erstens ein Exempel stiller Sanftmuth, indem er zeigt, wie man Schmach und Unrecht erdulden solle, zumal wenn es von der Obrigkeit selbst, die sonst zum Schutz der Frommen verordnet ist, zugefügt wird.
Zweitens ein Exempel stiller Demuth, indem er seine Nachfolger hiemit lehrt, wie sie nicht auf die geringste Antastung ihrer eigenen Ehre (welchem großen Abgott die Welt Gewissen und Leben aufzuopfern bereit ist) sich aus der Festung des göttlichen Friedens herausbegeben, und in der Meinung, daß man nichts auf sich sitzen lassen müsse, alles sofort mit dem Maul oder mit der Feder oder mit dem Degen ausmachen, sondern sich gewöhnen sollen, die zugefügten Beleidigungen und Beschimpfungen als aus der gerechten Hand Gottes anzunehmen, und mit David zu sagen: „Laßt ihn fluchen, der Herr hat's ihn geheißen“, 2 Sam. 16, 10.
Drittens ein Exempel stiller Uebergebung seiner Sache an Gott, indem wir an dem stillen Heilande lernen können, wie wir im Leiden den unruhigen Bewegungen der Vernunft, des Willens und der Triebe ein Stillschweigen auflegen, uns Gott zum Opfer darstellen, uns seinen Rathschlüssen ohne Widerspruch unterwerfen und unter allen Stürmen von außen und innen mit einem innigen Stillschweigen uns fein tief in seinen Schooß einsenken sollen, welcher sanfte und stille Geist köstlich ist vor Gott, 1 Pet. 3, 4., als welcher nicht im Feuer, Erdbeben und Sturmwinde, sondern in einem stillen, sanften Sausen, 1 Kön. 19, 12., oder in der Stille zu Zion wohnt, Ps. 62, 2. und 65, 2.
Viertens ein Exempel göttlicher Weisheit, indem dieser Lehrmeister mit verschlossenem Munde seine Schüler lehrt, zu rechter Zeit zu reden und zu rechter Zeit zu schweigen; zu reden, wenn sie bekennen, und zu schweigen, wenn sie leiden sollen. Denn wie das Stillschweigen Christi nicht aus Menschenfurcht herrührte, noch mit andern unlautern Absichten befleckt war, indem er dasjenige, was seinen Tod befördern könnte, frei gesagt, und sich vor dem geistlichen Gericht öffentlich für den Sohn Gottes, und vor dem weltlichen Gericht öffentlich für den König von Israel bekannt hatte, also muß auch das Stillschweigen seiner Nachfolger ein gutes Gewissen zum Grunde und ein gutes Bekenntniß zum Gefährten haben. Sie müssen von ihrem weisen Lehrmeister lernen, wie sie Andere auch ohne Worte überzeugen und durch ein unschuldiges Stillschweigen beschämen sollen, wie sie zwar die Wahrheit nicht zurückhalten, aber auch die Perlen nicht vor die Säue werfen, Gottes Wort nicht der Verspottung preisgeben, erbitterte Gemüther nicht mehr erhitzen, Vorwitzige in ihrer sündlichen Neigung nicht stärken, vor des Narren Ohren nicht reden, Spruch. 23, 9., und vor der Lernbegierigen Ohren nicht schweigen, und endlich die Geduld und Sanftmuth mehr mit der That, als mit Worten Andere lehren sollen. Und wer kann alle Absichten und Ursachen eines so bewunderungswürdigen Stillschweigens entdecken? Es liegen Geheimnisse darin, von welchen man nur etwas lallen kann, das übrige aber mit ehrerbietigem Stillschweigen bewundern und dessen Entdeckung in der Ewigkeit erwarten muß. Gott gebe nur, daß wir dasjenige, was wir davon erkennen, zu unserem Heil recht brauchen und anwenden mögen.
Doch da unser Heiland in seinem Leiden nicht immer geschwiegen, sondern auch geredet, so sind wir auch verbunden, nicht nur sein geheimnißvolles Stillschweigen, sondern auch seine erbaulichen Reden zu betrachten. Er hat aber in seinem Leiden geredet theils mit seinem himmlischen Vater, theils mit den Menschen, und was die Menschen betrifft, theils mit seinen Jüngern und Freunden, so lange er sie noch um sich hatte, theils mit seinen Richtern und Feinden. Gegen seine Feinde hat er sich immer mehr in das Stillschweigen begeben, je näher er seinem Tode kam. Er redete wenig vor dem hohen Rath der Juden, noch weniger vor Pilatus, vor Herodes gar nichts; wie er auch unter den Händen derer, die ihn verspotteten, schlugen und peinigten, kein Wort gesprochen hat. Nachdem er bei dem ersten Backenstreich, den er in seinem Verhör vor dem Hohenpriester empfangen, mit den sanftmüthigen Worten: „Habe ich recht geredet, was schlägst du mich?“ einmal für allemal zu erkennen gegeben hatte, daß man sich an seiner heiligen Person versündige, so hat er nachher als ein Lamm, das vor seinem Scheerer verstummt, sein Angesicht dem Speichel, seine Wangen den Schlägen, sein Haupt den Dornen, seinen Rücken den Geißeln ohne Widerrede hergegeben. Auf dem Wege nach der Schädelstätte hielt er noch dem ganzen jüdischen Volk eine bewegliche Bußpredigt; am Kreuz hat er nichts weiter mit seinen Feinden, sondern allein mit seinem Vater und mit seinen Freunden (unter deren Zahl er auch den bekehrten Schacher aufgenommen) geredet. Und das sind eben die sieben Worte, deren Erklärung hier dem geneigten Leser zu seiner Erbauung übergeben wird.
Es haben diese Worte Jesu Christi bereits an manchen Seelen im Leben und Sterben herrliche Proben ihrer göttlichen Kraft abgelegt. Es hat sich nicht nur bereits manches Bienlein auf diese lieblichen Blumen gesetzt und Honig daraus gesaugt, sondern es haben sich auch Viele gefunden, welche ihre Gedanken schriftlich darüber abgefaßt und hinterlassen haben. Selbst in der römischen Kirche haben der Kardinal Robert Bellarmin und Andere über die sieben Worte etwas geschrieben. In der evangelischen Kirche aber ist ein viel größerer Vorrath guter Gedanken darüber vorhanden, indem der selige Nicolaus Selneccer, Johann Heermann, Christoph Vischer, Joachim Hildebrand, Balthasar Meisner, Joh. Mich. Dilherr, Adam Spengler und viele Andere Predigten und Erklärungen darüber herausgegeben haben. In der reformirten Kirche haben Konrad Mel, Joh. Jakob Ulrich und Andere ihre Gedanken darüber eröffnet. Sonst hat auch der selige Spener das erste Wort in seinem Glaubenstroste am Sonntag Palmarum gründlich und erbaulich erklärt und dadurch bei verständigen Lesern ein Verlangen erwecket, daß er auch die übrigen sechs Worte auf gleiche Weise möchte abgehandelt haben. Eine zwar kurze, doch hinlängliche und saftige Einleitung in den rechten Verstand und Gebrauch dieser Worte ist auch zu finden in unseres werthen. Herrn Prof. Frankens (den Gott noch lange Zeit erhalten und stärken wolle!) neuer Postill über die Sonn- und Festtags-Evangelien am Charfreitag, und in des seligen Georg Johann Henkens (dessen Andenken unter uns im Segen ist) besonders gedruckten Predigt über die letzten Worte Christi am Kreuz.
Wie nun diese und andere dergleichen vorhandene Erklärungen nicht ohne Segen gelesen werden, also wolle der gekreuzigte Jesus sich auch meine geringe Arbeit, die auf Erforschung des tiefen Sinnes seiner letzten Worte gewendet worden, in Gnaden gefallen lassen, und da Er mehr als Einen Segen hat, auch derselben einigen Segen zutheilen. Zu diesem Ende lege ich, mein Heiland, diese Blätter zu deinen Füßen und bitte dich herzlich, daß du die darin enthaltenen Wahrheiten zur Ueberzeugung, Rührung, Bekehrung und Stärkung der Leser durch die Wirkung deines guten Geistes gereichen lassen wollest. Thue es um deiner eigenen Worte willen. Amen.
Halle, den l. März 1726.