Rambach, Johann Jakob - Betrachtung über das vierte Wort.

Rambach, Johann Jakob - Betrachtung über das vierte Wort.

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Matth. 27, 46.

Es folgt jetzt das vierte Wort unseres gekreuzigten Heilandes, welches Matth. 27, 45. 46. und Marc. 15, 33. 34. also lautet: „Und von der sechsten Stunde an ward eine Finsterniß über das ganze Land bis zu der neunten Stunde. Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut, und sprach: Eli, Eli, lama asabthani“ (oder sabachtham)? „Das ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Bei diesem vierten Worte fängt unser Heiland an, von sich selbst und von seinen Umständen zu reden, nachdem er in den drei vorhergehenden für die Menschen gesorgt und in dem ersten Wort den unbußfertigen Sündern eine Buß - und Gnadenfrist ausgebeten, in dem zweiten einem bußfertigen Sünder das Paradies geöffnet, in dem dritten seiner betrübten und verlassenen Mutter an seiner Statt einen andern Sohn zugewiesen, welcher sie lieben und pflegen sollte. Als er nun nach diesen drei Worten über drei Stunden lang still geschwiegen, so fängt er nun im vierten Worte an, von seinen eigenen Umständen mit seinem himmlischen Vater zu sprechen.

Wie er nämlich in andern Stücken als ein wahrer Mensch erfunden worden, so hat er auch hierin die Gestalt frommer, sterbender Personen tragen und ihnen gleich werden wollen. Denn diese pflegen es also zu machen, daß sie erst von Menschen, und besonders von ihren Verwandten und Freunden, Abschied nehmen und dasjenige mit ihnen sprechen, was sie noch zu sprechen haben, darauf aber sich ganz zu Gott hinwenden und mit ihm reden. Zugleich aber hat unser Heiland mit seinem eigenen hohen Exempel die wichtige Regel des Christenthums hier einweihen und bestätigen wollen, welche also lautet: Ein Jeglicher suche nicht„ (nämlich zuvörderst und vor allen Dingen), „was sein ist, sondern was des Andern ist“, 1 Cor. 11, 24. Gleichwie er hingegen eben hiedurch den Eigennutz verdammt und die Regel der ehrbaren Welt, die aber eben so tief, als die unehrbare Welt, im Argen liegt, von seinem Kreuz herab verworfen hat, welche also lautet: „Ich bin mir selbst der Nächste.“ Ach, wehe uns allen, wenn unser Erlöser nach dieser Regel: Ich bin mir selbst der Nächste, gehandelt hätte. Wehe uns, wenn er nur auf seine Erhaltung wäre bedacht gewesen, so hatten wir insgesammt ewig verloren gehen müssen. Aber er hat uns ein ganz anderes Exempel hinterlassen, da er seinen eigenen Nutzen unserem Nutzen aufgeopfert und noch in seinen letzten Lebensstunden eher für Andere, als für sich selbst gesorgt, ja auch in seinen vier letzten Worten, die doch von seinen eigenen Umständen handeln, alles auf unseren Nutzen gelenkt hat, wie wir bei Betrachtung derselben vernehmen werden. Wir haben aber, ehe wir zur genauen Untersuchung dieses vierten Wortes schreiten, folgende sieben besondere Umstände dabei zu bemerken.

  1. Es ist dieses Wort aus dem Abgrunde eines tiefen und langwierigen Stillschweigens aufgestiegen, indem Christus von der sechsten bis zur neunten Stunde, das ist nach unserer Art zu zählen des Mittags von zwölf bis Nachmittags um drei Uhr, kein einziges Wort geredet, sondern unter dem Gefühl höllischer Schmerzen wie ein verstummtes Lamm gehangen und den Zorn Gottes getragen hat.
  2. Es ist ausgesprochen nach einer außerordentlichen dreistündigen Finsterniß, welche dasjenige abbilden sollte, was jetzt in der Seele Jesu Christi, als der Sonne der Gerechtigkeit, vorging. Daß nämlich der helle Sonnenkörper jetzt alles seines Lichtes beraubt wurde, das zeigte an, wie jetzt die Seele Jesu Christi ohne Licht und Trost im Dunkeln hat arbeiten müssen und keine Empfindung der göttlichen Gnade gehabt habe, unter welcher Finsterniß denn der Satan, der in der Schrift ein Fürst der Finsterniß genannt wird, geschäftig gewesen, seine feurigen Pfeile auf diese heilige und unschuldige Seele zu verschießen, und zu versuchen, ob er dieselbe, wo nicht gar in den Abgrund der Verzweiflung stürzen, doch zur Ungeduld oder zum Mißtrauen gegen Gott verleiten könne.
  3. Unser Heiland hat dieses Wort mit einer lauten Stimme ausgerufen, über das Vermögen einer durch so viel Leiden und Blutvergießen entkräfteten Natur. Da er sich vorher unter dem Gefühl der erschrecklichsten Angst in das Stillschweigen eingewickelt hatte, um dadurch zu büßen die sündlichen Worte, die uns öfters in der Angst entfahren, so wendete nun die arbeitende menschliche Natur ihre letzten Kräfte an, diese Last durch ein lautes Geschrei vom Herzen wegzuwälzen und sich Luft zu machen.
  4. Matthäus und Marcus benennen gar eigentlich die Stunde, wo dieses Wort gesprochen worden, was bei den übrigen Worten des Herrn Jesu nicht geschieht. „Um die neunte Stunde“, heißt es, „schrie Jesus laut“, oder nach unserer Uhr um die dritte Stunde des Nachmittags, welches eben diejenige Stunde war, worin die täglichen Abendopfer in dem Tempel geschlachtet und verbrannt wurden. In eben der Stunde opferte das unschuldige Lamm Gottes seine bisher empfundene Seelenangst seinem himmlischen Vater auf zu einem süßen Geruch.
  5. Es sind diese Worte aus dem 22. Psalm genommen, wodurch dann zuerst angezeigt werden sollte, daß dieser ganze Psalm von dem Messias handle und denselben in seiner letzten Todesangst vorstelle. Denn es wird darin beschrieben ein Mann einer wunderbaren Geburt, den Gott, ein großes Werk zu verrichten, aus seiner Mutter Leibe gezogen und vor einer großen Gefahr bewahrt, da er noch an seiner Mutter Brüsten war, v. 10, 11., der von Juden und Heiden verspottet und verachtet, V. 7. 8., dem Hände und Füße durchgraben, V. 17., um dessen Kleider das Loos geworfen, V. 19., und der endlich in des Todes Staub gelegt worden, V. 16., der aber wieder aus dem Tode errettet, den Namen Gottes seinen Brüdern predigen sollte, V. 2l)., und zu dem sich die Heiden bekehren würden. Dieß alles paßt auf niemand anders, als aus den Jesus von Nazareth, von welchem auch dieser Psalm über sieben Mal im Neuen Testament angeführt wird. Außer diesem hat zugleich ein besonderes Geheimniß durch die Anführung dieses Psalms entdeckt werden sollen. Es pflegten nämlich damals die Priester und Leviten mit der Absingung des 22. Psalms alle Tage ihren Gottesdienst im Tempel anzufangen. Da nun Christus diejenigen Worte, welche die Priester in der ersten Stunde ihres Amtes singen, in der letzten Stunde seines Amtes gesprochen und ausgerufen hat, so hat er damit zu erkennen geben wollen, daß nunmehr das Ende des ganzen levitischen Gottesdienstes vorhanden sei, nachdem er durch das einzige Opfer seines Leibes auf einmal vollendet, die geheiligt werden sollen.
  6. Es ist merkwürdig, daß diese Worte von beiden Evangelisten, Matthäus und Marcus, in zwei verschiedenen Sprachen vorgelegt und beschrieben werden, nämlich 1. in der damals gewöhnlichen jüdischen Sprache: Eli, Eli, lama sabachthani; hernach 2. in der damals bei den heidnischen Völkern gebräuchlichen griechischen Sprache, weil in diesen Worten eine solche Wahrheit enthalten, daran Juden und Heiden, folglich dem ganzen menschlichen Geschlecht, auf das allerhöchste gelegen ist.
  7. Wie diese Worte in zwei verschiedenen Sprachen von den Evangelisten ausgedrückt sind, so sind sie auch aus einem doppelten Triebe bei dem Herrn Jesu hergeflossen, nämlich l. aus der äußersten Wehmuth, worin die heilige und unschuldige Seele des Herrn Jesu sich damals befunden, als sie diesen entsetzlichen Vorschmack der äußersten Finsterniß, worin die Verdammten ewig heulen und mit den Zähnen klappern, empfinden und fühlen mußte. Zum 2. sind sie hergeflossen aus einer süßen und kindlichen Zuversicht zu Gott, welchen er dennoch liebte und durch das liebreiche „mein Gott, mein Gott“ umfaßte, ob er gleich sein Angesicht im Zorn vor ihm versteckt und verborgen hatte. Es sind also, wie der sel. Johann Arndt bereits angemerkt hat, Worte beides: einer großen Angst und auch eines großen Glaubens.

Diese sieben Anmerkungen, wodurch dieses Wort von allen übrigen Worten Christi unterschieden wird, werden uns den Weg zu einer tiefern Betrachtung und Untersuchung desselben bahnen, wobei der Gott des Lichtes uns sein Angesicht leuchten lassen wolle, damit wir in der dicken Finsterniß, in welche wir mit unseren Gedanken hineingehen müssen, uns nicht verlieren, sondern den rechten Weg treffen mögen. Was nun die Worte selbst betrifft, so enthalten sie eine wehmüthige Jammerklage des gekreuzigten Jesu, worin vorkommt

I. Die Person, die er anredet, und
II. Die Sache, welche er derselben vorträgt.

I. Die Person, die er anredet

Die Anrede heißt: „Mein Gott, mein Gott!“ Dabei findet eine andächtige Seele dreierlei zu erwägen:

Erstlich: Warum sich ihr lieber Heiland dießmal nicht des angenehmen Vaternamens bedient. Warum, denkt sie, ruft er nicht, wie am Oelberge: Abba, mein Vater! warum hast du mich verlassen? Seinem ersten und letzten Worte am Kreuz hat er den Vaternamen vorgesetzt, warum ist er hier von dieser kindlichen Art, mit seinem Vater zu sprechen, abgegangen? Gewiß nicht ohne wichtige Ursachen, deren wir besonders zwei zu bemerken haben.

Zuerst, o Seele, geschah es darum, weil sich der Sohn in solchen Umständen befand, worin Gott nicht mit ihm umging, wie ein liebreicher und barmherziger Vater mit seinem Kinde, sondern wie ein beleidigter und gerechter Richter mit einem Uebelthäter umgeht. Der himmlische Vater betrachtet jetzt seinen Sohn als den allergrößten Sünder und Missethäter, der unter der Sonne anzutreffen war. Denn ob er gleich von keiner eigenen Sünde wußte, so hatte er sich doch zur Sünde machen und sich die Sünden des ganzen menschlichen Geschlechts im göttlichen Gericht so zurechnen und auflegen lassen, als ob er sie selbst begangen hätte. Weil nun also der Sohn für die Sünden und Schulden der Welt gut gesagt hatte, so ließ die göttliche Gerechtigkeit jetzt alle übrigen Sünder fahren, hielt sich an diese einzige Person und ließ die ganze Last ihres Zornes auf dieselbe fallen.

Nächst dem wird der Vater hier darum Gott genannt, weil derselbe jetzt die Rechte der ganzen Gottheit behauptete und vertheidigte. Daher er denjenigen Bürgen, welcher für alle der Gottheit zugefügten Beleidigungen Genugthuung zu geben versprochen, vor seinen Richterstuhl stellte, ihn zur Bezahlung derjenigen Schulden, für welche er gut gesagt hatte, anzuhalten. Das sind die zwei vornehmsten Ursachen, warum er spricht: Gott, Gott.

Zum Andern fragt billig eine andächtige Seele, warum er denjenigen Gott, von welchem er sich doch verlassen zu sein Klagt, gleichwohl seinen Gott nenne, und nicht nur schlechthin spreche: Ach Gott! sondern: „Mein Gott!“ Ach ja, o Seele, du hast Ursache, diesem Geheimniß nachzudenken, denn dieß ist das allerlieblichste Wörtlein in der Jammerklage deines Erlösers, worin dir der liebe Sohn des ewigen Vaters vorgestellt wird als ein solcher, der sich beruft auf ein gewisses Verbündniß mit seinem himmlischen Vater, welcher ihm in dem Werk der Erlösung beizustehen versprochen hatte, ja als einer, der mit Gott kämpft und ringt und ihn dennoch liebt, dennoch umfaßt, dennoch mit dem süßesten Vertrauen umarmt, ob er gleich jetzt sein Angesicht vor ihm verborgen hatte, als wollte er sagen: Ich glaube dennoch, daß du mein Gott bist, ob du mich gleich in die Hölle versenkest. Wie dieß in dem 22. Psalm, aus dem diese Worte genommen sind, deutlicher ausgedrückt wird, wenn es daselbst im 10. - 12. Vers heißt: „Du hast mich aus Mutterleibe gezogen; du warest meine Zuversicht, da ich noch an meiner Mutter Brüsten war. Auf dich bin ich geworfen aus Mutterleibe, du bist mein Gott von meiner Mutterleib an. Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe, denn es ist hier kein Helfer“. Was Jeremias in seinem Leiden zu Gott sagte: „Ich bin nicht von dir geflohen, mein Hirte“, Jer. 17,16., das mag man mit unendlich größerm Recht von dem leidenden Sohn sagen, daß er nicht von Gott weggeflohen, ob er gleich seinen Zorn tragen mußte. Diese süße Liebe Christi zu seinem Vater ist der allerlieblichste Geruch in seinem Versöhnopfer gewesen. Dadurch hat er uns das Recht erworben, daß wir Gott auch unsern Gott nennen können; die große Kluft ausgefüllt, welche zwischen uns und Gott durch die Sünde gemacht war, und die Scheidewand niedergerissen, die uns und Gott von einander trennte, so daß nun unser Herz mit dem Herzen Gottes auf eine kindliche Art wieder zusammenfließen kann.

Zum Dritten fragt die andächtige Seele: Warum ruft er aber zweimal nacheinander: Eli! Eli! Mein Gott! Mein Gott?

Es zeigt nämlich diese Wiederholung zweierlei an: 1) Die Größe seiner Angst und Schmerzen, welche er dazumal empfunden, die gewiß so groß gewesen, daß kein menschlicher Verstand geschickt ist, dieselbe zu begreifen, weil niemals ein Mensch solche Angst und Seelennoth erfahren hat. Denn nicht zu gedenken der Schmerzen des Leibes, in welchen sein ausgedehnter und zerschlagener Körper, der gleichsam nur eine einzige Wunde war, damals am Kreuz gehangen, so war seine Seele durch die Schmach, welche sie ausstehen mußte, auf's höchste gekränkt; sie war mit den Sünden der Welt, als mit einer dicken Wolke umgeben, so daß sie das Licht des freundlichen Angesichtes Gottes nicht erblicken konnte; sie wurde von dem Gesetz ergriffen, welches alle seine Drohungen und Flüche als siedend heißes Oel über sie ausschüttete. Der Satan schoß alle seine feurigen Pfeile in das trostlose Herz. Der Tod, der mit dem Stachel der Sünde gewaffnet war, schwebte in der allerschrecklichsten Gestalt vor seinen Augen und Gott selbst zog sich zurück und verbarg sich vor ihm mit den Strahlen seiner Freundlichkeit und Liebe. Diese große Angst, welche die Seele Christi damals drückte, machte, daß seine Worte verdoppelt wurden; wie wir etwa von David, der auch sonst ein Vorbild Jesu Christi gewesen, 2 Sam. 18, 33., lesen, daß, als er die traurige Nachricht von dem Tode seines Sohnes Absalon bekommen, er auf dem Saal über dem Thor hin und wieder gegangen, und geweint und gerufen: Mein Sohn Absalon, mein Sohn, mein Sohn, mein Sohn Absalon, wollte Gott, ich müßte für dich sterben, o Absalon, mein Sohn, mein Sohn!“ da auch die große Traurigkeit die Worte vervielfältigt.

Es zeigt aber auch 2) diese Verdopplung die Größe seines kindlichen Vertrauens, weil zugleich das mein mit verdoppelt wird, und er also zweimal nach einander mit starkem Geschrei an das verschlossene Vaterherz Gottes anklopft und dasselbe zur schleunigen Hülfe auffordert. So blieb seine unschuldige Menschheit nicht nur von aller Verzweiflung entfernt, sondern warf auch den Anker ihrer Liebe und Hoffnung aus allen Kräften in das Herz Gottes hinein. Dadurch hat er uns denn diese Gnade erworben, daß wir auch öfters kommen und anklopfen und unser Herz in den Schooß Gottes ausschütten dürfen. Das ist also die Anrede: Mein Gott, mein Gott!„

II. Die Sache, welche er derselben vorträgt

Was den Vortrag selbst betrifft, so faßt solcher die Sache in sich, die er seinem Gott klagend vorträgt, in den übrigen Worten: „Warum hast du mich verlassen?“ Wir hören in diesen Worten l) daß Christus über eine Verlassung klagt, und 2) nach der Ursache solcher Verlassung fragt.

Erstlich Klagt er über eine Verladung und zwar über eine innerliche Verlassung, weil die Worte eigentlich im Griechischen heißen: „Warum hast du mich innerlich verlassen?“ Es war Christus damals auch äußerlich von seinen Jüngern, Johannes ausgenommen, und seinen besten Freunden verlassen; aber das war nicht die Sache, worüber er klagte. Errief nicht: Judas, warum hast du mich verrathen? Petrus, warum hast du mich verleugnet? Ihr übrigen Jünger, warum habt ihr mich verlassen? Dieses äußerliche Leiden würde ihm erträglich gewesen sein, wenn nicht sein himmlischer Vater selbst ihn verlassen hätte.

Es war aber auch eine wahrhaftige Verlassung. Es war keine bloße Anfechtung, welche damals die Seele Jesu Christi ausstehen mußte, wie es etwa Kindern Gottes öfters so vorkommt, als ob sie verlassen wären, da ihnen Gott wohl am nächsten ist und die liebreichsten Vorbereitungen zu ihrer Erquickung macht. Zion spricht in seiner Anfechtung, Jes. 49, 14.: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat mein vergessen!“ Aber es bekommt zur Antwort: „Kann auch ein Weib ihres Kindes vergessen, daß sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie desselben vergäße, so will ich doch dein nicht vergessen; siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet.“ Christus aber hat das wahrhaftig gefühlt, was er in diesen Worten ausdrückt. Daher dürfen diese Worte keineswegs also übersetzt werden: Mein Gott, mein Gott, „warum solltest du mich doch verlassen haben“; wie sich meine Feinde fälschlich einbilden, als ob Christus mit diesen Worten der Einbildung der Menschen widersprechen wollte, welche aus seiner Kreuzigung hätten schließen mögen, daß er von Gott verlassen worden wäre. Nein, er hat eine gewisse Art der Verlassung in der That erfahren und wahrhaftig empfunden, auf daß er Mitleiden haben könnte mit denen, die also versucht werden. Der 8. Psalm kann dieß bestätigen, da V. 6. von dem Messias geweissagt wird: „Du wirst ihn lassen eine kleine Zeit von Gott“ (folglich auch von den Engeln, Hebr. 2, 7.) „verlassen sein.“ Die beste Erklärung aber über diese Worte finden wir in dem 88. Psalm, worin gleichfalls der von Gott verlassene Messias also redend eingeführt wird, V. 15.: „Warum verstößest du, Herr, meine Seele, und verbirgst dein Antlitz vor mir? Ich bin elend und ohnmächtig, daß ich so verstoßen bin; ich leide dein Schrecken, daß ich schier verzage, dein Grimm geht über mich, dein Schrecken drückt mich.“ Daraus sehen wir also mehr als zu deutlich, daß es eine wahrhaftige Verlassung gewesen. „Es ist kein Schimpf, noch Scherz da“, spricht der sel. Luther, „auch keine Heuchelei, wenn er spricht: Warum hast du mich Verlassen? Er ist wahrlich allenthalben verlassen, wie ein Sünder verlassen wird, wenn er gesündigt hat, wiewohl er nicht verlassen war, als ein Sünder verlassen wird, ehe er sündiget. Es ist lauter Wahrheit und rechtschaffen Wesen gewesen, was mit Christo geschehen ist. Darum ziemet sich's auch nicht, daß man die öffentlichen klaren Worte Gottes mit menschlicher Vermessenheit will geringem und unkräftig machen.“

Doch war es eine solche Verlassung, welche bestehen konnte mit der Würdigkeit seiner Person und seiner Aemter. Gs ging demnach hier keineswegs vor eine Absonderung des Vaters von dem Sohne, wodurch die Einigkeit des göttlichen Wesens würde aufgehoben worden sein, wovon es Joh. 10, 20. heißt: „Ich und der Vater sind Eins.“ Und V. 38.: „Der Vater ist in mir und ich in ihm.“ Es ging auch keineswegs vor eine Trennung der beiden Naturen, der göttlichen und menschlichen, welche in der Person Christi unzertrennlich vereinigt sind, indem sonst seinem Leiden und Tode alle Gültigkeit würde entzogen worden sein. Es bleibt vielmehr dabei: „Der Herr der Herrlichkeit ist gekreuzigt“, 1 Cor. 2, 8. „Der Fürst des Lebens ist getödtet“, Apstg. 3, 15. Man darf auch nicht meinen, als ob der himmlische Vater einen Haß gegen seinen Sohn gefaßt hätte. Denn obwohl der Sohn den Zorn Gottes fühlen mußte, so ist er doch von Gott nicht gehaßt worden. Er blieb auch in diesen Umständen der Sohn seiner Liebe. Ja eben deßwegen liebte ihn der Vater, weil er sein Leben niederlegte, welches er zu thun jetzt eben im Begriffe war, Joh. 10, 17. Daher auch Gott seine erhaltene Gnade und Kraft von der menschlichen Natur Christi nicht gänzlich zurückzog. Es hieß auch hier: „Siehe, das ist mein Knecht, ich erhalte ihn“, Jes. 42, 1. Es traf auch hier ein das Wort Christi, Joh. 16, 32.: „Ich bin nie allein, sondern der Vater ist mit mir.“ Es war auch nicht eine Verlassung, worin der Vater die Sache Jesu Christi verlassen hätte, und dieselbe nicht weiter hätte befördern wollen; denn wie war das möglich, da die Sache Christi eine allgemeine Sache der hochgelobten Dreieinigkeit war, welche durch dieses Leiden wiederum geehrt und verherrlicht werden sollte. Daher konnte der Sohn sagen: „Wiewohl meine Sache des Herrn und mein Amt meines Gottes ist“, Jes. 49, 4. Alle diese unrichtigen Begriffe müssen also bei Seite gethan werden.

Es war vielmehr eine solche Verlassung der Person Christi, die da bestand in der Entziehung alles innerlichen Lichtes und alles empfindlichen Trostes, welcher sonst von der Gottheit der Menschheit Jesu Christi mitgetheilt wurde. Die menschliche Natur Christi war von dem Augenblick an, wo sie mit der göttlichen persönlich vereinigt worden, mit dem Freudenöle des heiligen Geistes gesalbt, Ps. 45, 8., Jes. 61, l. Seine edle und unschuldige Seele wandelte beständig in dem Lichte der Gottheit, und war von der Liebe und dem höchsten Wohlgefallen des himmlischen Vaters vollkommen versichert. Der Brunn der Gottheit floß beständig über und ergoß in dieselbe ganze Strome des Trostes und der Freude. Daher mußten ihm auch die Engel dienen, und waren geschäftig, diesem ihrem Herrn alle Gefälligkeit zu erweisen. Aller dieser herrlichen Vorrechte, welche die menschliche Natur Jesu Christi bisher genossen, mußte sie in dieser dreistündigen Finsterniß entbehren, indem der Einfluß des Trostes und der Freude, wodurch sie bisher erquickt worden, von Gott, als einem gerechten Richter, zurück gehalten und gehemmt wurde. Da hingegen der Satan von der Gerechtigkeit Gottes eine größere Macht bekam, unsern Bürgen mit seinen feurigen Pfeilen zu ängstigen. In dieses fürchterliche Thal der Schatten des Todes wurde die Seele Christi bereits am Oelberge geführt, da sie anfing zu trauern und zu zagen. Hier aber stieg diese Trostlosigkeit auf's höchste, da sie unter der leiblichen Finsterniß auch einen Vorschmack der äußersten Finsterniß empfinden mußte, in welcher die Verdammten ewig trauern und heulen werden.

Dieser Zustand war dann der heiligen Menschheit Jesu um so viel empfindlicher, weil ihr der Trost und die Erquickung mehr, als irgend einer andern Kreatur gebührte, ja weil sie am geschicktesten war, den hohen Werth der Gnadenblicke Gottes zu begreifen. Halten Kinder Gottes, die aus der Erfahrung gelernt haben, daß Ein Tag in Gottes Gegenwart besser sei, als sonst tausend, dieses für das größte Leiden, wenn sie Gott ohne Licht und Trost im Finstern sitzen läßt, so war dieser Verlust der Seele Christi so viel entsetzlicher, weil sie wegen einer genauen Verbindung mit der Gottheit ein ganzes Meer des Trostes missen mußte, wenn ein armer Christ nur einiger Tropfen entbehren muß. Daher stimmt sie diese bittere Klage über die Verlassung von Gott an.

Er fragt aber auch zum Andern nach der Ursache dieser Verlassung mit dem Wort: „Warum hast du mich verlassen?“ Man darf ja nicht denken, als ob diese Frage aus Unwissenheit her gekommen, und als ob ihm die Ursachen dieses gerechten Verhängnisses Gottes über seine heilige Person nicht bewußt gewesen wären. Wie konnten sie ihm doch unbekannt sein, da er selbst dem ewigen Rath des Friedens mit beigewohnt hatte, worin es beschlossen worden war, daß er für die Sünden der Welt eine solche Höllenangst ausstehen sollte. Viel weniger sind diese Worte aus einiger Ungeduld hergekommen, als ob er mit seinem Vater und dessen gerechtem Verfahren nicht zufrieden gewesen wäre, wovon wir ja das Gegentheil sehen können aus der liebreichen Anrede: Mein Gott! mein Gott! wodurch er sich zugleich diesem schweren Leiden mit einem kindlichen Gehorsam unterwirft. Er fragt vielmehr darum nach den Ursachen seiner Verlassung, damit er uns erwecken möge, denselben nachzudenken. Gott pflegt keinen Menschen zu verlassen, von dem er nicht zuerst verlassen worden ist. Da nun aber diese Person den himmlischen Vater niemals verlassen, sondern allzeit gethan, was vor ihm gefällig, Joh. 8, 29., so muß freilich die Schuld und Ursache der Verlassung nicht in Christo, sondern außer Christo zu suchen sein.

Nämlich der allererste Grund ist in unserm Fall anzutreffen. Gott hatte unsere ersten Eltern mit so vielen Wohlthaten überschüttet, daß sie dadurch aufs allerhöchste zu seinem Dienste verbunden waren. Da er aber ihren Gehorsam in einer ganz geringen Sache auf die Probe setzen wollte, so vergaßen sie aller vorigen Liebe, die sie genossen hatten, und gingen als treulose Ueberläufer zu seinem abgesagten Feinde, dem Teufel, über, begaben sich unter dessen Dienstbarkeit, und wollten von ihm eine größere Weisheit erlernen, als die war, welche ihnen ihr Schöpfer mitgetheilt hatte. Also verließen sie denjenigen, aus dessen Händen sie vor kurzer Zeit gekommen waren, der ihnen Leben und Athem, Leib und Seele gegeben, der ihnen sein schönes Bild mitgetheilt und sie zu Herren und Regenten über alle sichtbaren Geschöpfe gemacht hatte.

In diese unselige Fußstapfen unserer ersten Eltern sind wir Alle getreten und haben Gott den Rücken zugekehrt. Noch täglich muß Gott klagen: Mich, die lebendige Quelle, verlassen sie, indem alle Neigungen unserer verderbten Natur dahin gehen, daß wir uns immer weiter von Gott und dem Lichte seiner Heiligkeit entfernen. Es ist unbegreiflich, wie liederlich der arme Mensch nach dem Fall mit der Liebe und Gnade Gottes umgeht und wie er dieselbe oft um der schnödesten Lust willen verscherzt, als wenn es die allerunwertheste Sache wäre. Daher klagt Gott, Ezech. 13, 19., daß man ihn „um eine Hand voll Gersten und Bissen Brods willen“ verlasse und entheilige, und also einen so geringen Nutzen höher schätze, als seine unschätzbare Gnade und Freundschaft.

Da nun jetzt der eingeborne Sohn Gottes darin begriffen war, diesen unsern Fall wieder gut zu machen und die beleidigte Gerechtigkeit Gottes zu versöhnen, ach seht, so mußte an seiner heiligsten Person der ganzen Welt vor Augen gestellt werden, was für eine entsetzliche Scheidung durch die Sünde zwischen Gott und dem Menschen gemacht worden, indem derjenige, der sonst in dem Schooße des Vaters gesessen, der die Freude und die Lust seines Herzens gewesen, nicht nur an seinem Leibe so jämmerlich zugerichtet wurde, daß die Menschen ihre Augen von seinem mit Blut und Speichel bedeckten Angesichte wegwendeten; daß sich nicht allein die Engel ihm entzogen und ihren Dienst auf göttlichen Befehl zurück hielten, sondern daß auch der Vater selbst das Licht seines gnädigen Angesichtes verbarg, und ihn keines Tröpfleins von Trost und Erquickung würdigte.

Es sollte aber unter dieser Verlassung, die der Sohn Gottes fühlen mußte, dieser schreckliche Riß, der durch die Sünde verursacht worden, nicht nur offenbart, sondern auch wieder ergänzt, die Kluft wieder ausgefüllt und uns das Recht zur Gemeinschaft Gottes und der Zugang zu dem Licht seines Antlitzes wieder erworben werden.

Daraus erhellt nun, wie wir die Verlassung Christi anzusehen haben, nämlich nicht als eine Prüfung, wie Gott also den Hiskias verließ, damit er an den Tag bringen möchte, was in seinem Herzen wäre, 2 Chron. 32, 31.; auch nicht als eine väterliche Züchtigung, dergleichen Gott über seine Kinder schickt, ihre Heiligung zu befördern und sie im Glauben und Demuth zu üben, sondern als eine Strafe, die er um unserer ihm zugerechneten Sünden willen ausgestanden. Weil er unsere Sache auf sich genommen und im göttlichen Gericht an unser Aller Stelle stand, so mußte er auf eine so bittere Art unsere muthwillige Verlassung Gottes büßen und dafür genug thun. Da er sich für uns zur Sünde machen ließ, so mußte er auch für uns ein Fluch werden, folglich auch das Urtheil über sich sprechen lassen: „Gehet hin von mir, ihr Verfluchten!“ Weil er aber unter dieser Verlassung mit unverrückter Liebe an demjenigen hangen blieb, der sein Angesicht im Zorn vor ihm verborgen, weil er ihn durch seine kindliche Unterwerfung ehrte, und an sein Vaterherz mit starkem Geschrei und Thränen anpochte, ja seine ewige Unschuld und Heiligkeit dem Vater aufopferte, so hat dieses die selige Wirkung gehabt, daß dadurch der Weg zu einer beständigen Vereinigung mit Gott wieder gebahnt worden. Dieser liebreiche Gehorsam des Sohnes hat dem himmlischen Vater so wohl gefallen und ist ihm ein so süßer Geruch gewesen, daß er um desselben willen beschlossen, sich nun wieder dem menschlichen Geschlechte mitzutheilen, die verstopften Brunnen seiner Gnade und Liebe wieder zu öffnen und dieselbe auf alles verdorbene Fleisch um des Verdienstes Jesu Christi willen stießen zu lassen.

Was denkt ihr nun, ihr verwegenen Sünder, die ihr Gott noch den Rücken zukehrt, und euch durch muthwillige Sünden immer weiter von ihm entfernt; was denkt ihr, wenn ihr den Sohn Gottes klagen hört, daß er von Gott verlassen sei? Fallen euch nicht dabei seine eigenen Worte ein: „Geschieht das am grünen Holz, was will am dürren werden?“ Was hier der Sohn Gottes auf eine kurze Zeit empfunden, das werdet ihr ewig und ohne Ende fühlen müssen, wenn ihr auf dem Wege fortgeht, welchen euch euer verderbtes Fleisch und Blut und die Exempel der Welt anweisen. Bedenkt doch um eurer unsterblichen Seele willen, wie wollt ihr das ausstehen, dessen Empfindung der menschlichen Natur Jesu Christi, die doch von der Gottheit unterstützt wurde, eine so wehmüthige Jammerklage ausgepreßt hat? Jetzt könnt ihr zwar in eurer fleischlichen Sicherheit die Abwesenheit Gottes ohne Bekümmerniß ertragen. Es gilt euch gleich, ob Gott weiche oder komme? ob er sein Angesicht über euch leuchten lasse, oder verberge? Die Christen zu Ephesus weinten, Apstg. 20, 37. 38., als Paulus sagte: „Ihr werdet mein Angesicht nicht mehr sehen“; euch aber sieht man weder weinen, noch Leid darüber tragen, daß eure „Sünden das Angesicht Gottes von euch verbergen“, Jes. 59, 2. Aber glaubt sicherlich, es wird eine Zeit kommen, da die Verlassung Gottes andere Wirkungen in eurer Seele haben wird. O was für Heulen und Wehklagen wird das Wort: „Gehet hin von mir, ihr Verfluchten!“ nach sich ziehen! Ach, darum laßt doch diese unbegreifliche Liebe Christi, da er an eurer Statt diese Verlassung ausgestanden, euch bewegen, daß ihr euer in die Welt gekehrtes Angesicht herumwendet und den ansehet, der euch nun in seinem Sohne so freundlich ansieht, und euch alle Reichthümer seiner Gnade und Herrlichkeit anbietet. Kommt doch herbei, demüthigt euch vor eurem Schöpfer, bittet ihm eure Sünden ab und erneuert nun wieder den Bund der Treue und Freundschaft, den er in eurer Taufe mit euch gemacht hat. Scherzt nicht langer mit der Sünde, die eurem Mittler ein Leben voll Elend und einen Tod voll Angst verursacht, die ihm einen peinlichen Verlust alles Trostes und eine entsetzliche Empfindung des Zornes Gottes zugezogen hat. Tretet durch eine wahre Buße ein in die Gemeinschaft der Leiden Jesu Christi, so werdet ihr auch durch den Glauben an dem Verdienste seiner Verlassung Antheil nehmen und Gott ewiglich als euren Gott erfahren.

Niemand aber ist fähiger, die Süßigkeit desjenigen Trostes zu schmecken, der aus der Verlassung Christi fließt, als Seelen, welchen Gott die Augen geöffnet hat, daß sie den schrecklichen Riß, der zwischen Gott und ihnen durch die Sünde gemacht worden, erkennen, die sich als von Gott, der Quelle des Lebens und Trostes, abgeschieden sehen und gewahr werden, wie sie in eine abscheuliche Finsterniß der Unwissenheit und Bosheit gerathen, die daher blöde und erschrocken sind und befürchten, daß sie gar von Gott verworfen und in die äußerste Finsterniß hinausgestoßen werden möchten. Richtet eure Augen, ihr blöden Seelen, auf dieses Lamm Gottes, das in der dicksten Finsterniß drei Stunden lang gehangen, den Zorn Gottes gefühlt und euch dadurch den Weg zur Liebe und Gnade Gottes gebahnt hat. Wie euer Mittler arm geworden, auf daß ihr reich würdet; wie er verwundet worden, auf daß ihr heil würdet; wie er ein Fluch geworden, auf daß ihr gesegnet würdet; so ist er auch von Gott verlassen worden, auf daß ihr ewig mit ihm vereinigt würdet. Die Treue und Liebe, die der Sohn in seiner Verlassung bewiesen, hat dem himmlischen Vater so wohl gefallen, daß er euch um derselben willen nicht nur eure vorige Verlassung Gottes vergeben will, sondern daß er euch auch zurufen läßt: „Ich will dich nicht verlassen, noch versäumen“, Hebr. 13. 5. Haltet euch nur im Glauben an diesen lieben Sohn des Vaters. Laßt euch durch das Gefühl des Zornes Gottes nicht bewegen, von ihm zu fliehen und der Verzweiflung entgegen zu eilen, sondern vielmehr zu ihm zu nahen, euch vor seinem Thron niederzuwerfen und das Verdienst der Verlassung Jesu Christi zu umfassen. Ergebt nur Jesu Christo eure Herzen, er wird sie mit Gott vereinigen und zu rechter Zeit mit Trost und Freude erfüllen.

Es ist aber die Verlassung Christi auch höchst tröstlich für Kinder Gottes, welche nach einer wahrhaftigen Bekehrung von Gott in trostlose und finstere Wege zu ihrer Prüfung geführt werden. Ihr Lieben, der Herr Jesus hat durch seine Verlassung die eure geheiligt. Die seinige war eine bittere Strafe der Sünden, die eurige aber ist eine väterliche Züchtigung. Geht nur getrost mit eurem Heilande hinein in die Finsterniß und in das Dunkle, und seid gewiß, daß, so wahrhaftig er aus Angst und Gericht gerissen und nach dieser schwarzen Nacht verklärt worden, auch eure Seelen mit Licht und Trost wieder erfüllt werden sollen, sollte es auch erst wenige Augenblicke vor eurem Tode geschehen. Wie er durch seinen Tod dem Tode die Macht genommen, so hat er durch seine ausgestandene Verlassung dem Stande der Verlassung den Stachel gebrochen. Ihr werdet noch Paulus sein Siegeslied nachsingen: „Uns ist bange, aber wir verzagen nicht; wir werden geängstet, aber nicht verlassen“, 2 Cor. 4, 8. Unterdessen liebt denjenigen, der euch so unbegreiflich geliebt hat, daß er nicht nur den Himmel mit der Erde, sondern gar den Himmel mit der Hölle verwechselt und die Bäche Belials für euch gekostet hat; und wie er keine Art des Leidens, die zur Aussöhnung der Sünde nöthig war, zu übernehmen unterlassen hat, also achtet wiederum nichts so theuer, das ihr nicht gerne um seinetwillen verlassen, nichts zu schwer, das ihr nicht gern um seinetwillen thun und leiden wollet.

Gebet.

Nun, Du treuer Heiland, Herr Jesu Christe, wer kann den Reichthum aussprechen, der in deinen Worten liegt? Es sind Tiefen darin, die kein erschaffener Verstand ergründen kann, Tiefen der Liebe und der Gerechtigkeit Gottes, die wir erst bei dem Licht der seligen Ewigkeit erkennen werden, da sie jetzt noch vor unsern Augen verschlossen sind. Unterdessen wollest Du Gnade geben, daß auch das Wenige, was wir erkennen, einen tiefen Eindruck in unsere Seelen haben möge. Gib, daß alle diejenigen, die sich noch auf dem Wege des Verderbens befinden und ihrem Schöpfer noch den Rücken zukehren, keinen Schritt weiter fortgehen, sondern wie Jene, die unter deinem Kreuz standen und dieß Wort mit anhörten, an ihre Brust schlagen, umkehren, sich vor Gott demüthigen und die Vergebung ihrer Sünden in deinem Blute erlangen mögen. Gib, daß diejenigen, die sich in deine Nachfolge begeben und auch etwas von diesem Kelche, den Du gekostet hast, schmecken sollen, auch das Verdienst deiner Verlassung genießen und durch dasselbe also erhalten werden mögen, daß sie nicht in den Abgrund der Verzweiflung hinabstürzen, sondern Glauben und Zuversicht zu Gott fassen und den Anker ihrer Hoffnung fein tief in sein Vaterherz hineinwerfen. Verkläre Du denn selbst, Herr Jesu, diese deine kläglichen Worte in unseren Herzen durch deinen heiligen Geist, und laß uns den Trost, der in denselben liegt, im Leben und im Sterben kräftig empfinden, um deiner Wunden willen. Amen.

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