Quandt, Emil - Die Wanderungen des Menschensohnes - 4. Die Seereise.
Ev. Matth. 8, 23.
Und er trat in das Schiff und seine Jünger folgten ihm.
Die Seereise des Herrn, die uns der Evangelist Matthäus in seinem achten Kapitel erzählt und über die auch Markus (Kap. 4) und Lukas (Kap. 8), mehrfach den ersten Evangelisten ergänzend, berichten, gehört der ersten Zeit der öffentlichen messianischen Wirksamkeit des Heilandes an. Nachdem des Menschen Sohn die großen Versuchungen des Satans in der Kraft des Geistes, der in ihm war, siegreich bestanden hatte, war er unter dem Volke des Eigentums aufgetreten mit der Predigt des Evangeliums vom Himmelreich, das er predigte gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten, und hatte sein Wort bekräftigt durch die mitfolgenden Zeichen der Heilung von allerlei Seuche und Krankheit im Volk. Große Scharen folgten ihm nach in der gespanntesten Erwartung der Dinge, die da kommen sollten; etliche wahrhaftige Israeliten ohne Falsch aber wurden durch ihn vom Fischernetz, vom Feigenbaum, vom Zöllnertisch zu seiner beständigen Nachfolge berufen, dass sie Alles verließen und mit ihm zogen. Es war das die erste Periode der öffentlichen Laufbahn des Menschensohnes, das große Jubeljahr der Weltgeschichte, da die öffentliche Meinung Israels im Großen und Ganzen dem Herrn noch durchaus freundlich gestimmt war, da von dem „Kreuzige“ noch nichts zu hören war, desto mehr aber von dem „Hosianna“.
In diese Zeit fällt die Wasserfahrt des Menschensohnes, deren Betrachtung uns auf diesen Blättern beschäftigen soll.
Die Wasserfläche des galiläischen Meeres - auch See Genezareth und Meer von Tiberias genannt - war der Ort der Seereise des Herrn. Heutzutage, wie die Reisenden berichten, ist das ein einsamer, verlassener Gebirgssee, auf dem höchst selten einmal sich ein Segel sehen lässt; Jahr aus, Jahr ein herrscht auf seinen dunklen Wellen jetzt eine melancholische Stille. Aber in den Tagen des Menschensohnes war das anders. Blühende Städte zierten damals das Gestade des galiläischen Meeres: außer Genezareth und Tiberias auch Bethsaida, die Heimat des Petrus, Andreas und Philippus, Magdala, woher die große Sünderin, die große Begnadigte Maria Magdalena stammte, Kapernaum, die durch den vielmaligen Aufenthalt des Heilandes bis zum Himmel erhöhte Stadt. Aus diesen und andern Städten strömten die Fischer herbei und bedeckten mit ihren Kähnen den See, so dass der regste und reichste Verkehr seine Ufer und seinen Wasserspiegel belebte. Des Menschen Sohn selbst aber ist oft und viel an diesem See und einmal auch in geheimnisvoller Weise auf demselben gewandert und hat ihn verherrlicht durch Wunder seiner Güte und holdselige Worte des ewigen Lebens. Über diesen See geht nun seine Wasserfahrt; er trat in das Schiff, und seine Jünger folgten ihm nach.
Mancherlei Berührungspunkte dieser Seereise des Herrn mit den drei Reisen, die wir in den vorangegangenen Betrachtungen überdachten ergeben sich dem sinnenden Gemüte. Mit der Flucht nach Ägypten hat diese Reise das gemein, dass auch sie eine Flucht ist, eine Flucht aus dem eigentlichen Kanaan nach dem jenseitigen Gebiete, das mehr ein heidnisches Gepräge hatte, nach Peräa und der peräischen Hauptstadt Gadara. Aber wenn damals der Heiland vor dem Drohen und Morden des Königs Herodes flüchtete, so floh er jetzt vielmehr vor dem Andrange einer für ihn begeisterten Volksmenge, die, in weltlichen Messiasideen befangen, geneigt war, ihn voreilig und in falscher Weise zum Könige auszurufen. Als der Herr einen ganzen Tag lang dem Volke gepredigt und seine Kranken geheilt hatte und nun einen Ausbruch unreiner Begeisterung für seine Person befürchten musste, hieß er jenseits des Meeres fahren. Diese Wasserfahrt ist also allerdings auch eine Flucht, sogar auch eine Flucht vor dem weltlichen Königtum, aber nicht vor dem Königtum eines Andern, das er zu fürchten hatte, sondern vor dem Königtum, das man ihm selber wider sein Wollen zumutete. Eine andre Ähnlichkeit findet sich zwischen dieser Seereise und der Tempelreise des Herrn. Dort wie hier ist er in frommer Gesellschaft; den Eltern, Maria und Joseph, dort entsprechen hier die Jünger, Petrus, Johannes und die andern. Dort wie hier tritt zu Tage, dass auch die frömmsten Menschen arme Sünder sind, des Menschen Sohn aber heilig ist und makellos in allem seinem Tichten und Trachten. Wenn sich dort an Maria und Joseph Sorglosigkeit und Mangel an Selbsterkenntnis zeigt, so zeigen hier die Jünger Mutlosigkeit und Mangel an Erkenntnis Christi; wenn dort Jesus Christus in der Strahlenpracht vollkommenen kindlichen Gehorsams im Bunde mit Gottesfurcht und Bescheidenheit glänzt, so strahlt er hier in dem Glanze vollendeter männlicher Seelenruhe: ein sprechender Beweis, sowohl dass alle Menschen unter allen Verhältnissen sich in dem Einen Punkt der Sündhaftigkeit immer gleich bleiben, als auch, dass Jesus Christus unter allem Wandel und Wechsel allezeit derselbe heilige Heiland ist. Die Wüstenreise war eine Reise des Menschensohnes in Versuchungen. Eine Reise in Versuchungen ist auch die Seereise; viele der alten Väter der Kirche behaupten sogar, dass der alte böse Feind, der Satan, die Stürme erregt und das Meer so ungestüm gemacht habe, und es ist ja sicherlich an dem, dass der Satan oft als Feind dahinter steckt, wo man ihn gar nicht vermuten sollte. Ob für den Herrn selbst freilich die Gefahr auf dem Wasser noch eine Versuchung war, dürfte mehr als zweifelhaft sein; jedenfalls hat sie nicht den allerleisesten Eindruck auf ihn gemacht; denn das Heulen der Stürme und das wilde Brausen der Flut raubt oder stört ihm auch nicht für einen einzigen Augenblick die heilige Fassung seines Gemütes. Desto größer allerdings war die Versuchung für die Jünger, so groß, dass sie schrien und sich fürchteten. Gott sei Dank, sie hatten Jesum im Schiff, der half ihnen wieder zurecht, und der Satan musste weichen, auf dem Wasser so gut, als einst in der Wüste.
So belehrend und erbaulich nun es auch sein möchte, wenn wir den Berührungspunkten, die die Seereise mit den bis jetzt von uns betrachteten Wanderungen des Menschensohnes hat, eingehender nachdächten; so würden wir doch damit dem Inhalte des evangelischen Berichtes von der Wasserfahrt des Herrn auch nicht von ferne gerecht werde können. Es hat doch diese Fahrt so viel Selbständiges und Eignes, das zum Nachdenken lockt, dass wir uns eines Segens berauben würden, wenn wir sie nicht auch ganz für sich selbst in Andacht erwägen wollten.
Betrachten wir denn die Seereise des Menschensohnes nach ihren beiden, in die Augen springenden Teilen, da sie uns zeigt einmal, wie der Heiland Abend ruhe hält, und weiter, wie er eine Abendpredigt hält.
Der Schriftzusammenhang, in dem die Geschichte von der Wasserfahrt steht, lehrt uns, dass der Herr sie unternahm auf der Neige eines Tages voll schwerer Arbeit und Mühe. Er hatte in Kapernaum den Diener eines frommen Hauptmanns vom Tode errettet; er hatte die Schwiegermutter seines Jüngers Petrus vom Fieber befreit; er hatte Besessene und sonst allerlei Kranke geheilt; er hatte mehrfache Unterredungen gehabt, besonders mit solchen Personen, die seine Jünger werden wollten und doch nicht den rechten Ernst dazu besaßen. Wenn das Leben köstlich gewesen ist, singt der Psalmist, dann ist es Mühe und Arbeit gewesen; die Wahrheit dieses Psalmenwortes hat sich an des Menschen Sohn in allertiefstem Sinne erfüllt, denn sein Leben hienieden war das tiefste Leben. Einem jeglichen Menschen ist, nach dem Ausspruch des weisen Salomo, Arbeit aufgelegt nach seinem Maße; das Maß des Menschensohnes war das größte von allen, denn er hatte den Geist ohne Maß. Daher wie der Vater wirkt, so musste auch er wirken, so lange es Tag war.
Nun war es Abend; nach einem Tage voll Arbeit und Mühe war es nun Abend geworden für den Herrn. Noch drängt sich viel Volks um ihn, Worte zu hören und Zeichen zu sehen, einem unklaren Messias-Enthusiasmus hingegeben. Des Herrn Seele aber hat keinen Gefallen an dem Strohfeuer zweifelhafter Anhänger, und sein Leib ist müde. Er hatte sich an diesem Tage herzlich müde gearbeitet; er fühlte seine Leibeskraft ermatten.
So ist er auch ein andermal müde gewesen, als er durch Samaria reiste und sich auf den Rand des Jakobsbrunnens niedersetzte, um ein wenig zu ruhen. Aber diesmal war er müder noch, schlafensmüde; darum legte er sein Haupt auf die Schiffsbank und schlummerte ein. Schlafe sanft, mein Heiland! Ich falte meine Hände und blicke mit tiefer Bewegung auf den müden, schlafenden Heiland im Schifflein auf dem See Genezareth und seufze: Herr, wir haben Dir Arbeit gemacht in unsern Sünden; wir haben Dir Mühe gemacht, wir haben Dich auch müde gemacht in unsern Missetaten.
Wer, der es je gesehen, kann den Blick so bald von diesem Schifflein wenden, das in der Abenddämmerung mit dem müden, schlummernden Heiland durch die Wellen fährt? Wohl sind wir es gewohnt, bei unserm Meister und Herrn immer eine wunderbare Vereinigung von Niedrigkeit und Hoheit, von menschlicher Schwachheit und göttlicher Kraft zu schauen; aber wie sich dieser Zusammenklang von Irdischem und Himmlischem in der Abendruhe des auf dem Schifflein liegenden Heilandes kund gibt, das ist doch ganz besonders überraschend und ergreifend. Wie Er da so liegt, matt und müde von seinem Tagewerk, das Haupt auf eine Bank gelehnt, ein Fischerkahn sein Lager, Abendwind und Meereswellen wiegen ihn ein: ja, das ist der Mann, von dem geschrieben steht: Er äußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein andrer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden; er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Ja, dem hier die Welt nach einem Tage der Mühe für sie ein nasses Holz statt eines Polsters gibt (doch hat die Liebe der Jünger ihm ein Kissen auf das Holz gelegt, Markus 4, 38), das ist derselbe Mann, dem sie eine Krippe bot statt einer Wiege, den sie mit Opfersteinen überschüttete, statt mit Opferkränzen, den sie mit einer Dornenkrone schmückte, statt mit einem Perlendiadem. Aber wie Er nun da liegt im Schifflein und Abendruhe hält, strahlt aus der Hülle seiner Knechtsgestalt uns doch auch seine königliche Majestät in hellem Glanze entgegen. Ein vielbesungener Vorgang aus der deutschen Geschichte kann uns die Augen öffnen für diesen Glanz. Es saßen einst im Kaisersaal zu Worms die deutschen Fürsten und stritten sich über die Frage, wer von ihnen der reichste sei; der Eine pries das Gold und Silber seines Landes, der Andere pries seine Saaten und Reben, die Anderen Anderes. Zuletzt erhob sich Graf Eberhard, der Herr von Württemberg, und sagte, sein Reich sei zwar klein und arm, doch könne er kühnlich sein Haupt jedem seiner Untertanen in den Schoß legen. Da riefen alle Fürsten zumal: Graf Eberhard ist der reichste, sein Land trägt Edelstein! Wenn wir im Sinne dieser Geschichte auf die Schiffsbank blicken, auf der das müde Haupt des Herrn Jesu ruht, müssen wir da nicht in der Schiffsbank den allerherrlichsten Königsthron erblicken? Ach im Reiche dieser Welt, da der Fürst dieser Welt sein Werk hat in den Kindern des Unglaubens, da war des Menschen Sohn allerdings ein Fremdling ohne Herd und Heimat, wie er das selber sagt: Die Füchse haben ihre Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben ihre Nester, aber des Menschen Sohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlege. Doch in dem Reiche, das nicht von dieser Welt war, das er sich eroberte durch Leben, Lieben, Leiden und Sterben, in dem Reiche der durch ihn versöhnten und begnadigten Kinder Gottes, konnte der Herr kühn sein Haupt jedem Untertan in den Schoß legen. Das war, mit irdischem Maß gemessen, allerdings kein großes Reich, über das der Herr damals herrschte; ein paar Bretter waren es, die auf dem See Genezareth schwammen; aber dennoch war es ein Königreich ohne Gleichen, das auf den Brettern über dem Wasser schwebte, denn Jesus war da, ruhend bei seinen treuen Jüngern, deren Glaube die Welt überwinden sollte. So ist Er, der liebe, müde Heiland, wie er da in der Mitte der Seinen auf dem Schifflein ruht und schlummert, dennoch ein König; gleichwie er ein König war in jenem Hause, wo ihn die große Sünderin mit ihren Tränen netzte und mit den Haaren ihres Hauptes trocknete; gleichwie er ein König war in dem stillen Bethanien, wo Martha um ihn sorgte und Maria der Rede seiner Lippen lauschte; gleichwie er ein König ist in jedem Christenhause, wo man ihn aufgenommen den großen Freund der Seelen, Jesum Christ, wo unter allen Gästen, die da kommen, er der gefeiertste und liebste ist; wo Aller Herzen ihm entgegenschlagen und Aller Augen freudig auf ihn sehn, wo Aller Lippen sein Gebot erfragen und Alle seines Winks gewärtig stehen. Sei uns noch einmal gegrüßt, Schifflein auf dem See Genezareth; du trägst einen müden, schlummernden Mann, aber dieser Mann ist der Heilige Christ, der königliche Eroberer einer verlorenen Sünderwelt!
Die Abendruhe des Gottmenschen kann nicht recht verstanden werden, wenn sie nicht auch erwogen wird im Rückblick auf die Ruhe im verlorenen Paradiese und im Vorausblick auf die Ruhe des Menschen im himmlischen Paradiese. Wir wissen wenig von dem Weben und Walten Gottes unter den nach seinem Ebenbild geschaffenen Menschen im Paradiese, aber dieses Wenige hat für das ahnende, gläubige Gemüt etwas ungemein Anziehendes. Das Wenige aber, das wir davon wissen, ist, dass der große Gott im Garten Eden bei seinen Kindern gerne Feierabend hielt. Wenn der Tag kühle geworden war, dann ließ der Schöpfer Himmels und der Erde sich herab, im Schatten der Paradiesesbäume unter den Menschen zu wandeln und sie mit seiner gnadenreichen Nähe zu umfangen. Diese Nachricht des ersten Buches Mose klang aus dem verlorenen Paradiese, wie Glockenläuten einer versunkenen Stadt, wunderbar doch rätselvoll durch die Jahrtausende, bis die Zeit erfüllt war. Da erschien in Jesu Christo die Freundlichkeit und Leutseligkeit des großen Gottes wieder auf Erden; und sowohl aus dem Abende auf dem See Genezareth, als aus allen Abenden, die des Menschen Sohn mit seinen Jüngern verlebte, so viele uns von ihnen im neuen Testamente geschildert sind, weht uns der warme Gotteshauch des Paradieses entgegen, dass wir den bekannten Weihnachtsvers, der für die Krippe gesungen ist, auch unter das Bild des auf dem Schifflein schlummernden Jesus schreiben können:
„Er schleußt uns wieder auf die Tür
zum schönen Paradeis;
der Cherub steht nicht mehr dafür,
Gott sei Lob, Ehr' und Preis.“
Aber nicht nur rückwärts auf Gottes Ruhe auf Erden, sondern auch vorwärts auf des Menschen Ruhe im Himmel weist die Abendruhe des Gottmenschen. Dazu ist er ja auf die Erde gekommen, dazu hat er gelebt und gelitten, dazu hat er sich müde gearbeitet, dass er uns kraft seines heiligen Verdienstes in die himmlische Ruhe einführte. Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes, und Jesus Christus ist es, der sie uns vermittelt. Wenn diejenigen, die durch Christi Blut und Wunden sich haben rechtfertigen lassen vor Gott, die Last des Lebens genug getragen haben; wenn wir uns müde gelebt, müde geplant, müde geplagt, müde gearbeitet haben, dann schlafen wir ein in seinem Arm und Schoß; und während man unsern Leib zur Grabesruhe trägt, in der er doch auch nur bleiben wird bis an den Tag der großen Auferstehung, tragen seine Engel unsre Seele in die himmlische Ruhe, dass wir nach einem Leben voll Arbeit und Mühe uns mit abgewischten Tränen ausruhen unter den Fittichen eines ewigen und unaussprechlichen Erbarmens.
Herr und Meister, der Du von den Sorgen Deiner schweren Pilgerbahn Dich zu süßem Schlummer hast geborgen abends in der Jünger Kahn; Du ziehst einst auch mich an meinem Ende, wenn ermatten Herz und Haupt und Hände, liebevoll an Deine Brust und schenkst ew'ge Abendlust!
Ew'ge Abendlust ist droben; hier auf dieser armen Erde ist jede Abendruhe flüchtig und vergänglich, auch die Abendruhe des Menschensohnes.
Seine Ruhe auf dem Schifflein währt nicht lange; gar bald wird er sanft aus derselben wach gerufen, er erhebt sich Zu einer Abendpredigt. Es erheben sich, nachdem das Schifflein eine Weile sanft dahin geglitten ist, plötzlich heulende Sturmwinde; das bisher so stille Meer wird bewegt und immer bewegter; schäumende Wellen bedecken, ja senken das Schifflein. Nun, die alten Kirchenlehrer mögen immerhin Recht haben mit ihrer Meinung, dass der Menschenmörder von Anfang, der Satan, Luft gehabt habe, Jesum und seine Jünger in das Meer zu versenken. Wie dem aber auch sei, die Hauptsache ist, dass, während des Menschen Sohn trotz des furchtbaren Getöses von Wind und Wellen weiter schläft, die Jünger, statt aus dem tiefen Frieden ihres Meisters für sich selber Ruhe zu schöpfen, von einer namenlosen Angst und Furcht überfallen werden. Da ihr Heiland eingeschlafen war, so schlief auch der Glaube in ihrem Herzen ein - doch, Gott sei Dank, nicht ganz und gar, vielmehr mit dem letzten Reste wecken sie den Meister, indem sie schreien: Herr, hilf uns, wir verderben! Der Herr aber hört ihren Ruf und erhebt sich, die Stürme weckten ihn nicht, aber das Rufen der Jünger weckt ihn. Er ist nun längst erhöhet und sitzt auf seinem königlichen Stuhle, aber es ist heute mit Ihm, wie damals: ob die Welt gegen ihn tobt wie ein brausendes Meer, das stört ihn nicht in seiner seligen Ruhe; aber so oft seine bedrängten Jünger aus tiefer Not zu ihm rufen, erreicht ihr Seufzen, wie laut auch immer vom Weltgetöse übertäubt, sicher sein Ohr und sein Herz, dass er sich erhebt und sie errettet. Hier auf dem Schiffe erhebt er sich auch zur Rettung, zuvor aber zur Predigt. Denn nicht auf das Meer und den Wind blickt er zuerst, da er vom Schlummer erwacht, sondern seinen verschüchterten Jüngern gilt sein erster Blick, und an sie zuvörderst richtet er sein Wort: „Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?“
Das ist denn eben nun seine Abendpredigt, eine kurze Frage nur und doch eine Predigt. Denn mit dieser Frage tadelt der Herr einmal den Wankelmut seiner Jünger, dass sie, die bei gutem Wetter die Wasserfahrt mit ihm fröhlich und getrost begannen, nun bei bösem Wetter wie Espenlaub zittern. Zugleich aber zeigt er ihnen auch die inwendige faule Wurzel ihres Wankelmutes auf, nämlich, dass sie so kleingläubig sind - es ist nicht der kleine Glaube gemeint, den der Herr als Senfkornglauben preist, sondern der Kleinglaube, den uns Jakobus in seiner Epistel 1, 6-8 beschreibt, da der Mensch zwischen Furcht und Hoffnung hin und her schwankt, weil das Herz nicht fest ist. Endlich gibt der Herr den Jüngern mit dem „Warum?“ einen Wink, dass sie sehr töricht handeln mit ihrer Furcht, dass sie gar keinen Grund haben, sich zu fürchten, dass sie ja Ihn bei sich haben, der die Seinen nicht verlässt, noch versäumt, dass sie sich Ihm völliger ergeben müssen, um allen Kleinglauben, alle Furcht, allen Wankelmut zu überwinden. Als dann der Herr Jesus mit seiner Predigt fertig ist, setzt er noch ein gewaltiges Amen hinzu, wie es kein andrer Prediger sprechen kann, sondern nur Er ganz alleine, darum er denn auch Offenb. Joh. 3, 14 selber Amen heißt. Er bedroht den Wind, da legt er sich; er heißt die Wellen schweigen, da wird es eine große Stille. Die Jünger aber werden übermannt von diesem Amen ihres Meisters; dass Er Gott ist und sie Menschen sind, tritt ihnen unwiderstehlich ins Gefühl, und als Menschen die göttliche Allmacht anstaunend, brechen sie in die Worte des Rühmens und Preisens aus: Was ist das für ein Mann, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind! In solchen gottseligen Gedanken und Worten gläubiger Verwunderung fahren sie weiter, bis ihr Heiland sie unversehrt an das Ufer bringt.
Wenn nun denn jene Wasserfahrt des Herrn Jesus mit seinen Jüngern längst beendet ist, so währt eine andre Wasserfahrt des Menschensohnes, die durch jene bedeutet ist, noch heute und harrt noch ihres herrlichen und seligen Endes. Das ist die Fahrt Jesu Christi, die er auf dem Schiffe seiner heiligen christlichen Kirche mit allen seinen Gläubigen hält mitten durch die Wogen dieser Zeit. Auf das Schiff der Kirche ist das Schifflein des Sees Genezareth vor alten Zeiten her gedeutet worden; die ersten Christen hatten selbst auf ihren Trinkbechern und andern Hausgeräten ein Schifflein eingegraben, um sich dadurch täglich erinnern zu lassen, dass, wie weiland die Jünger durch Christi Kraft behütet trotz der Stürme sicher durch das galiläische Meer fuhren, so auch sie auf dem Schiff der Gnaden Jesu Christi geborgen über die Flut des weltlichen Verderbens führen. Luther sagt: „Das Schiff bedeutet die Christenheit, das Meer die Welt, der Wind den Teufel; seine Jünger sind die Prediger und fromme Christen; Christus ist die Wahrheit, das Evangelium und der Glaube.“ Ein andrer unter den Vätern der evangelischen Kirche, Valerius Herberger, sagt: „Das Evangelium von Christi Schifffahrt ist um seiner Güte willen nicht genugsam zu preisen. Wir sollen daraus lernen, dass der Herr gewiss sein liebes Kirchschifflein, seine betrübte Christenheit, und auch alle frommen, gläubigen Herzschifflein, das ist, insonderheit alle frommen Christen, auf dem wütenden, brausenden Meere dieser Welt könne erhalten, damit wir ohne Schaden über alles Unglückswasser übersehen und zum Ufer des ewigen Lebens anfahren können.“
So dürfen wir denn im Einverständnis mit der alten Christenheit und mit den alten Lehrern der evangelischen Kirche wahrlich sagen: In seinem schönen Gegenbilde ist es noch heute vorhanden, das Schifflein auf dem galiläischen Meer. Freilich, wenn damals auf dem See Genezareth nur ein einziges Schiff uns bezeichnet wird, eben das Schifflein Christi, so ist das auf dem Meer des Lebens anders. Gar mancherlei Schiffe fahren über dieses Meer. Hier fährt eine buntbekränzte Barke mit schallender Musik dahin; darin sitzen der reiche Mann und seine Brüder, die sich kleiden in Purpur und köstliche Leinewand und leben alle Tage, ja alle Tage herrlich und in Freuden und singen von einer Welt, so gottbeseelt, so voller Wonne um und um; die Flagge dieser Barke trägt die Inschrift: „Genossen, genossen, wo Freuden uns sprossen.“ Mit diesem Schiffe hat der Herr Jesus schlechterdings nichts zu tun und auch mit jenem andern nicht, das einen Freiheitsbaum zum Mastbaum hat; auf ihm fahren die Kinder Korah, die da murren wider Alles, was Majestät heißt im Himmel und auf Erden; dieses Schiff hat in unsern Tagen besonders viele Passagiere; seine Fahne ist blutrot und trägt die Inschrift: „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.“ Schwerbeladen fährt ein drittes Schiff dahin, Mammonia könnte man es heißen; auf ihm befinden sich die armen Leute, die nur reich sind, die Geld haben und weiter nichts; Säcke mit Gold und Silber dienen ihnen statt der Bänke, und sie sitzen auf ihnen ängstlich und stumm; die Flagge dieses Schiffes trägt die Inschrift: „Geld regiert die Welt.“ Ein viertes Schiff fährt mit düsterem Anstrich, und sein Segeltuch ist Trauerflor, ein Schiff, auf dem ungemein viel Tränen geweint werden, und Niemand ist, der sie trocknet; das ist das Schiff, auf dem die Menschen der Plage und der Klage sitzen, ihre Gesichter tragen einen schwermütigen oder einen verbitterten Ausdruck; die Flagge dieses Schiffes hat zur Inschrift das eine einzige Wort: „Weltschmerz“. Auf allen diesen und ähnlichen Schiffen ist der Herr Jesus nicht; ihre Fahrt ist sehr verschieden, ihr Ende das gleiche, nämlich ein Ende mit Schrecken; sie leiden alle, ehe sie das Jenseits erreichen, Schiffbruch, jämmerlichen Schiffbruch. Mitten unter allen diesen Schiffen der Welt aber, die ein so trauriges Ende nehmen, fährt nun auch das Schiff der Kirche dahin, das einzige, auf dem Jesus Christus mitfährt, und das durch ihn geleitet, seinen Lauf zur Heimat unverrückt inne hält, bis es am Ende durch die heiligen Engel Gottes in den Hafen der ewigen Ruhe gezogen wird. In dieses Schiff sind wir alle durch die heilige Taufe schon frühe von dem Gotte unseres Heils hineingesetzt, aber die bei Weitem Meisten haben dies Schiff wieder verlassen, weil es ihnen auf demselben zu fromm herging und sind in einen der vielen andern Kähne gesprungen. Ach, die Meisten sind auch auf den andern Kähnen geblieben, trotz aller Rufe ihres Gottes: Kehre wieder, du abtrünnige Israel, kehre wieder! Etliche aber sind umgekehrt. Umgekehrt, zurückgekehrt, in das Schiff der Kirche sind alle Diejenigen, die sich bekehrt haben von der Finsternis zum Licht, von der Sünde zur Gnade, von der Welt und ihrer Eitelkeit zum Herrn und seiner Herrlichkeit. Die ganze große Gemeinschaft der Heiligen, das ist die Gemeinschaft der armen Sünder, die in der Kraft des Heiligen Geistes an einen versöhnten Gott in Jesu Christo glauben, sie ist die Schiffsgesellschaft der durch die Wellen der Zeit fahrenden Kirche Jesu Christi.
So Viele von uns nun dieser Schiffsgesellschaft angehören, sind wir besser als die kleine Genossenschaft des Schiffleins auf dem See Genezareth, dass wir der Predigt unsers Herrn entraten könnten, dass für uns die Frage nicht gälte: Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam? Ach, was sollen wir sagen? Ist's nicht also, dass auch der Glaube der Gläubigen dieser Tage vielfach solch ein wetterwendischer Glaube ist, kühn bei gutem Wetter und verzagt bei schlechtem Wetter? Ja, als wir die Ausfahrt machten mit unserm Heilande, da hatten wir Mutes die Fülle, da fühlten wir uns in der Macht seiner Stärke so groß, so sicher, so siegesgewiss, da redeten wir wohl: Mit unserm Gott wollen wir Taten tun; mit unserm Gott wollen wir über die Mauern springen. Aber unsre Fahrt blieb keine ruhige, konnte und durfte keine ruhige bleiben. Der Herr hat es für alle seine Jünger vorhergesagt: In der Welt habt ihr Angst. Sein Apostel hat aus eigner Erfahrung hinzugesetzt: Der Weg zum Reiche Gottes geht durch viel Trübsal; Alle, die gottselig leben wollen in Christo Jesu, müssen Verfolgung leiden. Ein frommer Sänger singt im Sinn und Geist der Schrift: Die Tugend wird durchs Kreuz geübt, denn ohne das kann sie nicht sein; wenn sie nicht oftmals wird betrübt, so merkt man gar nicht ihren Schein. So musste sich ja denn das Alles auch an uns erfüllen, wenn wir überhaupt zu dem Herrn und Mittler unsers Heils in ein lebendiges und persönliches Verhältnis getreten waren. Aber sobald sich das nun an uns erfüllte ach, wo war da unser Mut, unsere Siegesgewissheit, unser kühne, weltüberwindende Glaube? Die wir es in guten Tagen oft Anderen gepredigt und den Ton darauf gelegt hatten: „Das Christentum ist keine Kopfhängerei, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im heiligen Geist,“ wie tief ließen wir, als die Tage kamen, die uns nicht gefielen, wie tief ließen wir da doch den Kopf hängen? Wie überkam uns da mit einem Male eine grenzenlose Bangigkeit, dass der schmale Weg auf die Länge der Zeit doch zu schmal für uns sein möchte, dass die Dornen an den Rosen des Himmelreichs doch zu spitzig sein möchten!
Ach, auch uns und uns erst recht tut die Abendpredigt des Menschensohnes not: Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam? Mag man es menschlich heißen, wenn bei Wetter und Wind uns, die wir auch noch im Leibe wallen, Sorge und Furcht beschleicht, christlich ist es nicht; und es ist des Herrn Wille, dass wir die Furcht, die wir als Menschen haben, als Christen überwinden sollen. Unverzagt und ohne Grauen soll der Christ, wo er ist, stets sich lassen schauen; wollt' ihn auch der Tod aufreiben, soll der Mut dennoch gut und fein stille bleiben. Warum, warum sind wir doch so furchtsam? Haben wir nicht den allerhöchsten Gott zum Vater, der da selbst gesagt hat: „Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie auch desselbigen vergäße, so will ich doch dein nicht vergessen!“? Haben wir nicht den Sohn Gottes zum Heiland, der da gesagt hat: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende!? Haben wir nicht den heiligen Geist zum Tröster, der uns tröstet, wie Einen seine Mutter tröstet? Wir werden gehütet und getragen von Gott dem Vater, Gott dem Sohne und Gott dem heiligen Geiste, darum lasst uns unser Vertrauen nicht wegwerfen! Wegwerfen wollen und müssen wir vielmehr unsern Unglauben; und täglich müssen und wollen wir an dem Sprüchlein fleißig buchstabieren, bis wir es lesen können: Selig sind, die nicht sehen und doch glauben. Es ist gar keine Kunst, ein Christ zu sein bei heiterem Himmel und Sonnenschein. Aber es ist wohl eine Kunst, ein Christ zu bleiben, auch wenn der Himmel sich verdüstert und die Donner rollen und die Blitze zischen und Stürme heulen und die Wellen schäumen; das ist eine Kunst. Und diese Kunst müssen wir lernen, wenn wir nicht wollen hinausgetan werden aus dem Schiffe der Kirche, wie Jonas aus dem Schiff geworfen wurde, weil er mit seinem Gott zerfallen war; und diese Kunst können wir lernen bei Jesu, von Jesu, durch Jesum. Sich dem Herrn Jesu hingeben für gute und böse Tage, das ist Alles. Jesus Christus geht nicht unter, und wer ihn fasst und hält, und wäre es auch nur am Saume seines Gewandes, geht auch nicht unter.
Aber diese Welt geht unter, und diese Zeit läuft ab, und dieses Leben verrinnt. Wenn aber dieses Leben verronnen ist und diese Zeit ihr Ende hat und unsre Lebensfahrt durch, diese Zeit hat auch ihr Ende: dann landen wir mit Christo Jesu an den Gestaden der ewig blühenden, „besseren“ Welt, und wir werden sein wie die Träumenden, und unser Mund wird voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein. Das ist das selige Ziel; noch fahren wir auf den Wellen, und die Wellen schwellen. Lass die Wellen sich verstellen, wenn du nur bei Jesu bist; Er wird machen, dass die Sachen gehen, wie es heilsam ist! Andre Schiffe mögen schwanken, sinken und zerschellen, unser Schifflein muss das Ziel erreichen, denn seine Flagge trägt die Inschrift: Jesus Christus gestern und heute und derselbige auch in Ewigkeit. Amen.