Quandt, Emil - Die Wanderungen des Menschensohnes. 2. Der Tempelgang des heiligen Knaben.

Quandt, Emil - Die Wanderungen des Menschensohnes. 2. Der Tempelgang des heiligen Knaben.

Ev. Luka 2, 42. Und da Er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach Jerusalem, nach Gewohnheit des Festes.

Die vier Evangelien des neuen Testamentes sind wie vier Kränze, Ehrenkränze Jesu Christi, die die heiligen. Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes aus den duftenden Blumen seiner Worte, Taten und Opfer, seiner Kämpfe und Siege gewunden haben. Jeder dieser vier Kränze hat eine Menge von Blumen mit den andern Kränzen gleich; jeder aber hat auch seine eigentümlichen und besonderen Blumen, die in den andern drei Kränzen fehlen. Ist die Flucht nach Ägypten eine Lebensblüte Christi, die uns allein in dem Kranze begegnet, den Matthäus gewunden hat, so ist der Tempelgang des zwölfjährigen Jesusknaben eine Blume, die allein Lukas gepflückt hat. Wir müssen dem dritten Evangelisten für das Einflechten dieser Blume in den schönen Kranz seines Evangeliums von Herzen dankbar sein, um so dankbarer, als sie die einzige ist, die wir aus dem Garten der Jugend des Menschensohnes haben.

Die Jugend des Menschensohnes! Schon bei uns armen Sündern ist die Jugendzeit die Maienzeit des Lebens, in tausend und abertausend Liedern besungen und gefeiert, so wonnesam, so wundersam, so ahnungsvoll, so hoffnungsreich. Wie schön muss doch die Jugendzeit des Menschensohnes gewesen sein, der ein Mensch ward wie wir, in dessen menschlicher Natur aber der Wurm der Sünde fehlt, der bei uns Alles zernagt, auch die Jugend und die Maienzeit! Wer uns des Herrn Jesu Jugendgeschichte erzählen könnte wahr und klar, ihm wollten wir lauschen und nicht müde werden zu hören von alledem, was der heilige Jüngling erlebt und erfahren, gesagt und getan. Aber es hat Gott nicht gefallen, außer der Lukasgeschichte von dem Tempelgang des zwölfjährigen Jesus uns irgendwelche Mitteilungen aus dem jugendlichen Leben des Menschensohnes zu machen. Menschliche Phantasie hat die Lücke auszufüllen gesucht; und es hat eine Zeit gegeben, da man das Christenvolk mit allerlei erdachten Wundergeschichten aus Jesu Jugendzeit unterhielt, im Wahne, damit des Menschen Sohn der Christenheit recht groß und herrlich vorzustellen. Allein, was Gottes Weisheit einmal verschwiegen hat, das soll und wird Menschenwitz nimmermehr erdenken und erfinden. Es sind nicht lebendige Blumen, sondern höchstens Papierblumen ohne Blüte, ohne Duft, die Menschenwitz und Menschenhand in den Garten der Jugend Jesu Christi hineinträgt; sie sind's nicht wert, dass wir uns bei ihnen irgendwie aufhalten. Es kann vielmehr nur unsre Aufgabe sein, dass wir die einzige lebendige Blume, die Gott durch den Evangelisten Lukas uns aus dem Jugendgarten seines Sohnes darreicht, näher betrachten und den Geruch des Lebens zum Leben, den sie ausströmt, in unser Herz und Leben aufnehmen.

Der Herr selber wolle diese Blume vor den Sinnen unsrer Seele entfalten, dass wir in ihr sehen die Herrlichkeit des Herrn vom Himmel und den Schmuck unsers Gottes.

Was uns von Christi Jugendzeit mitgeteilt wird, ist eine Wanderung, die Wanderung von Nazareth hinauf zum Tempel nach Jerusalem. Ganze zwölf Jahre liegen zwischen jener ersten großen Wanderung Christi von Bethlehem nach Ägypten und dieser zweiten von Nazareth nach Jerusalem, zwölf stille Jahre, in denen sich des Menschen Sohn vom unmündigen Jüngling auf Marias Schoß zum mündigen Jüngling entwickelte, der nicht mehr von Elternhänden getragen zu werden braucht, sondern an der Eltern Hand auf eignen Füßen wandert, ein jugendlicher Pilger dieser Erde. Dass er von Nazareth in Galiläa bis nach Jerusalem in Judäa zu Fuße geht, sechszehn Meilen Wegs, mehr Meilen, als er Jahre zählt, lässt vermuten, dass er allerdings schon zuvor an Marias oder Josephs Hand manchen andern Gang getan hat; man hätte ihm die große Fußreise nicht anmuten sein können, wenn er nicht zuvor schon kleinere gemacht hätte. Diese große Reise des Menschensohnes zum Tempel nach Jerusalem kann sich nun zwar an auswendigem Glanze mit der Flucht nach Ägypten auch nicht von ferne messen. Denn wenn wir dort den großen Gott selber auf unmittelbare Weise mitbeteiligt sehen, indem er zweimal seinen Engel herabsendet, einmal zu Anfang der Flucht und dann am Ende der Flucht; so tritt hier das äußerlich Wunderbare ganz zurück, kein Engel trägt auf seinen Fittichen den heiligen Knaben nach Jerusalem, kein Engel bringt diesen verlorenen Sohn seinen Eltern zurück. Wenn wir ferner dort bedeutet werden, dass sowohl die Flucht nach Ägypten, als auch der Auszug aus Ägypten nach Nazareth geschehen sei, um alte geheimnisvolle Andeutungen der Seher Israels zu erfüllen; hier wird uns weder Vorbild, noch Weissagung namhaft gemacht, die in dem Tempelgang ihre Erfüllung gefunden hätten. Aber wenn es der zweiten großen Wanderung des Menschensohnes an äußerlichem Glanze fehlt, so ist der inwendige Glanz derselben desto strahlender. Sie zeigt uns nämlich den Herrn Jesum schon als Knaben in einer solchen Ehrwürdigkeit und Heiligkeit, sein jugendliches Leben in einer solchen Pracht religiöser Herrlichkeit, dass Alles, was sonst Liebliches und Löbliches von Frömmigkeit der Menschen genannt werden mag, davor erbleicht, wie der mattere Schein des silbernen Mondes vor dem goldigen Tageslicht der königlichen Sonne. So schlicht die äußeren Vorgänge des Tempelganges sind, nach ihrem innersten Kern hat die Erzählung desselben doch die gewaltige Bedeutung, dass sie uns auch die größten Menschen klein, den einigen Jesum aber riesengroß macht. Wenn nun das aber doch der Zweck des Lebens und das Ziel aller Führungen Gottes mit den Menschen ist, dass wir abnehmen und Christus wachse, dass wir uns immer kleiner werden und Jesus uns immer größer werde, wie sollten wir uns da nicht in williger Andacht der erbaulichen Betrachtung der Geschichte von dem Tempelgang des zwölfjährigen Jesus hingeben, die zu diesem Zweck und Ziel eine von Alters her erprobte und bewährte Führerin ist?

Sie gingen hinauf nach Jerusalem, wie immer, so auch nun, da der göttliche Knabe zwölf Jahre alt war, sie, nämlich seine Eltern, Maria und Joseph. Diese beiden Menschen Gottes verdienen es wohl, dass wir uns mit ihnen befreunden; denn sie sind Gestalten der Bibel, denen der Heilige Geist gar glänzende Zeugnisse gibt. Maria zunächst nun wir wissen, wie eine verderbte Kirche sie mit einem falschen Heiligenschein umgeben hat; und wir wenden uns als Protestanten, das heißt als Leute, die um des Gewissens willen auf Grund der Schrift gegen Alles protestieren, was wider die Schrift ist, mit aller und voller Entschiedenheit ab von dem römischen Marianismus, da man die Jungfrau von Bethlehem in den Nimbus einer Göttin hüllt, von einer unbefleckten Empfängnis und von einer Himmelfahrt derselben fabelt, sie dem armen betrogenen Volke als Fürbitterin ausmalt und zu ihr als der Mutter Gottes das Ave-Maria beten lehrt. O nein, dreimal nein, eine Heilige römischen Gepräges ist Maria nicht, eine Königin des Himmels ist sie nicht; der Kultus der Maria ist eine Verirrung abergläubischen Sinnes, wie der Kultus des Genius eine Verirrung ungläubigen Sinnes ist. Aber so weit wir Evangelischen abweisen, was man der Mutter des Menschensohnes wider die Schrift an Ehre und Verehrung zollt, so streng müssen wir auch festhalten an dem, was die Bibel klar und deutlich zu ihrem Lobe sagt; denn wir sind keine Vernunftprotestanten, die Alles verwerfen, was dem gesunden Menschenverstande (der in Wahrheit sehr krank ist) nicht passt, da behüte uns Gott vor, sondern wir sind Bibelprotestanten. Die Bibel aber nennt uns Maria als die Holdselige, als die Gebenedeite unter den Weibern, über die der Heilige Geist gekommen, darum auch das Heilige, das von ihr geboren ward, ist Gottes Sohn geheißen worden; die Bibel redet Maria an als die Mutter des Herrn und lässt sie selber sagen: „Der Herr hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen; von nun an werden mich (nicht heilig, wohl aber) selig preisen alle Kindeskinder; denn der Herr hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und des Name heilig ist.“ So steht Maria nach der Schrift da als die tiefste Frucht der alttestamentlichen Entwickelung, als ein Menschenkind, das übermannender Gnaden gewürdigt ward, als eine fromme, gläubige, gesegnete Magd des Herrn, als die zarteste und edelste Blüte der Weiblichkeit, als ein unübertroffenes Vorbild für christliche Frauen und Jungfrauen. Joseph aber, der Zimmermann, Marias männlicher Begleiter und Beschützer, er gehört zu denjenigen frommen Gestalten der Heiligen Schrift, über die uns wenig gesagt ist, aber in dem Wenigen viel. Das erste Blatt des neuen Testamentes nennt ihn einen frommen, eigentlich einen gerechten Mann; und wir können sicher sein, dass wer von Gott selbst in der Schrift als fromm und gerecht anerkannt wird, ein Mensch nach Gottes Herzen ist. Joseph war ein wahrhaftiger Abrahamssohn; er glaubte dem Herrn, und das ward ihm zur Gerechtigkeit gerechnet. Als Menschen einer lauteren Frömmigkeit hatten sich Maria und Joseph bei der Flucht nach Ägypten bewährt: sie folgten blindlings dem Befehle des Herrn, sowohl als er sie mit dem Christkinde nach Ägypten schickte, als auch als er seinen Sohn aus Ägypten rief; denn es war ihr Lebensgrundsatz: Was Gott gebeut, das muss geschehn, das Andre wird der Herr versehn. Als Menschen einer lauteren Frömmigkeit offenbaren sie sich auch bei dem Tempelgang. Das Gesetz verpflichtete jeden Israeliten, der nicht ganz außer Stande war, eine größere Fußreise zurückzulegen, alle Jahre mindestens einmal, nämlich um die Osterzeit, nach Jerusalem zu pilgern, um dort in den lieblichen Wohnungen des Herrn Zebaoth, dem Gotte Abrahams, Isaaks und Jakobs Opfer des Herzens, der Hände, und der Lippen darzubringen. Die Eltern des Heilandes kamen diesem Gesetze nach als wahrhaftige Israeliten; sie gingen alle Jahre gen Jerusalem auf das Osterfest. So gingen sie auch nun, da der Knabe zwölf Jahre alt war, hinauf nach Gewohnheit des Festes, den Knaben mitnehmend. Es war nicht gerade ein Gesetz, doch aber eine heilige und nationale Sitte, dass ein jüdisches Kind männlichen Geschlechts im Alter von zwölf Jahren zum ersten Tempelgang angehalten wurde. Maria und Joseph kamen wie dem Gesetze, so auch der heiligen Sitte nach; sie versäumten nichts, um das ihnen anvertraute Kind in der Zucht und Vermahnung zum Herrn zu erziehen; sobald es die Sitte forderte oder doch zuließ, pilgerten sie mit dem Knaben vereint nach Jerusalem, um mit ihm zusammen vor dem Angesichte des Herrn zu feiern.

Doch trotz aller Gottesfurcht und Frömmigkeit, trotz alles Wandels in Gottes Geboten und Satzungen waren und blieben Maria und Joseph arme, fehlende Sünder und erwiesen sich als solche sehr auffällig bei dem ersten Tempelgang des Sohnes. Denn einmal blieb, als sie wieder nach Hause gingen, das Kind Jesus in Jerusalem und seine Eltern wussten es nicht. Wie man sich das auch deuten mag, es ist doch eine gewisse Sorglosigkeit nicht wegzudeuten, deren sich die Eltern gegenüber dem heiligen Kinde schuldig machten. Sie verließen den Tempel, ohne sich nach dem Knaben umzusehen; sie verließen die Stadt, ohne ihn mit sich zu nehmen. Die bittere Folge davon war, dass die Freude des Tempelgangs sich ihnen in große Traurigkeit verwandelte, indem sie das Kind mit Schmerzen suchen mussten, erst unter ihren Freunden und Gefährten, dann, als sie ihn da nicht gefunden hatten, in der großen Stadt Jerusalem. Sodann aber war es, als sie den Knaben im Tempel gefunden hatten, doch mehr als bedenklich, dass sie ihre Schuld nicht erkennen, dass sie die Schuld auf den unschuldigen Knaben schieben, dass Maria mit ihrer Frage: „Mein Sohn, warum hast Du uns das getan?“ zu verstehen gibt, der teure Knabe hätte ihnen diese Angst wohl ersparen können, und sie habe das mütterliche Recht, ihm einen Verweis zu erteilen. Mangel an Selbsterkenntnis, Beschönigung eigner Fehler, ein Verkennen der Grenzen der Elternrechte, das ist das Sündhafte, was uns in dem Worte Marias entgegentritt. Nun, Maria hat sich weisen lassen. Als das heilige Kind seinerseits den Eltern in mildester Weise ihre Sorglosigkeit und ihren Selbstbetrug vorhielt, indem es sagte: „Was ist es, dass ihr mich gesucht habt? Muss ich nicht sein in dem, das meines Vaters ist?“ da haben sie das Wort zwar nicht sofort verstanden, aber sie ließen es sich doch sagen, und Maria senkte es in ihr Herz. Maria und Joseph, die frommen und gerechten Seelen, waren arme, sündige Menschen, die auch nach Jahrelangem innigem Umgange mit dem Herrn Jesu doch seine Zurechtweisung nötig hatten.

Wer von den lieben christlichen Frauen und Jungfrauen unsrer Tage könnte sich mit Maria messen, der gebenedeiten Jungfrau, der frommen Magd des Herrn? Wer von den Männern dieser Zeit, so viele an den Herrn Jesum Christum glauben, darf sich einer Frömmigkeit und Gerechtigkeit rühmen, wie der schlichte Zimmermann von Nazareth sie hatte? Wenn diese gottinnigen Seelen, die zu ihrem und unserm Heilande in einem ganz einzig-artigen Verhältnisse standen, sich dennoch als irrende, fehlende, sündige Menschen auswiesen; wie viel mehr wird es mit unserm Christentum Stückwerk sein, die wir uns täglich sagen müssen: Das ist mein Schmerz, das kränkt mich, dass ich nicht so kann lieben Dich, wie ich Dich lieben sollte!? Ach, alle Menschen sind Sünder, aber auch wir Christen, auch wir Gläubigen sind trotz unseres Christentums, trotz unserer Gläubigkeit im Grunde sehr arme Sünder, und unsre Sündigkeit tritt oft recht grell zu Tage. Es ist ein Traum der ersten Liebe, da man in allen Gläubigen Engel auf Erden sieht; dieser Traum ist bald, sehr bald ausgeträumt. Die Menschen bleiben auch nach ihrer Bekehrung Menschen, und es geht auch bei den Bekehrten oft ganz ungeheuer menschlich zu. So wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Christus ist in uns geboren; vom Stall und von der Krippe ist er in unser Herz eingezogen selig der Mensch, der das in aller Einfalt und Freudigkeit des Glaubens ehrlich von sich sagen darf! Nun wandern wir mit Jesus Christus im Herzen dem oberen Jerusalem entgegen von einem Jahr zum andern; wir leben uns immer mehr mit unserm Heiland zusammen und leben uns immer mehr mit ihm ein; sein Wort ist die süße Speise unsrer Seele, sein Blut der kostbare Schmuck unsers Lebens, seine Kraft ist in unsrer Schwachheit mächtig. Es geht zuweilen etwas in uns vor, was, wenn es dauernd wäre, die ewige Seligkeit sein müsste. Wir können singen und sagen: Gott Lob, wir sind versöhnt. Wir können allen Ernstes an offenen Gräbern bekennen: Jesus, meine Zuversicht und mein Heiland, ist im Leben; dieses weiß ich; sollt' ich nicht darum mich zufrieden geben? Wir pilgern hinauf zum Tempel mit herzlichem Hosianna; der Sonntag ist uns in der Tat die Perle der Tage, und dieser Eine Tag in Gottes Vorhöfen ist uns besser, denn sonst tausend. Wir jagen in der Kraft des Heiligen Geistes dem Frieden nach gegen Jedermann; wir können für unsre Feinde das: „Vater, vergib ihnen!“ mit aller Inbrunst beten. Sind wir nun Helden des Glaubens, die mit ihrem Glaubensschilde auslöschen alle feurigen Pfeile des Bösewichts?

Ach, es treten in unsre Erinnerung die dunklen Stunden unsers Lebens, unsers Glaubenslebens; da war uns Jesus Christus, mit dem wir schon so lange gewandelt waren, mit einem Male verschwunden; wir fühlten im Herzen, wo uns sonst sein Nahesein beseligte, eine gähnende Leere; unsre Heilsgewissheit geriet ins Wanken und Schwanken; unsre gewohnte Freudigkeit wich einer trüben Schwermut. Wir hatten Jesum verloren; verloren, weil wir uns zu sicher dünkten; verloren, weil wir die Wachsamkeit versäumt hatten; verloren, weil wir uns etwa auf dem Wege nach Zoar einmal in verderblichem Heimweh umgeschaut hatten nach dem Sodom, aus dem wir durch die Gnade Gottes längst entronnen waren.

Oder wir vergegenwärtigen uns die unangenehmen Ausbrüche des alten Menschen, wie sie oft bei Gläubigen hervortreten, mit einem Male ein Aufflammen sündlicher Leidenschaft, nachdem es Jahre lang ein stilles Leben in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit gewesen war, mit einem Male nun ein bitteres Wort bei Beleidigungen, im Leiden aber gar Murren und die feiner oder gröber sich äußernde Anklage wider den Herrn: Warum hast Du uns das getan? Glücklich dann noch der, der seines großen Verlustes bald inne wird und sich darüber bekümmert und Jesum wieder suchen geht und nicht ruht, bis er ihn gefunden hat; Heil dem, der sich dann auch von dem Herrn Jesu sagen und strafen lässt und ihn dann wieder mit sich nimmt in Herz und Haus! Denn das ist ja allerdings der große Unterschied zwischen Ungläubigen oder Verkehrt-Gläubigen und Gläubigen im Geist und in der Wahrheit in Beziehung auf ihre Sünden: jene sündigen, ohne sich viel ein Gewissen darüber zu machen und lehnen alle Zurechtweisungen aus Gottes Wort empfindlich ab; wenn aber diese von Fehlern übereilt werden, so schlägt ihnen alsbald das Herz lauter als sonst, und sie lassen sich gerne zurechthelfen von denen, die im Namen und im Geiste Jesu Christi sie brüderlich bestrafen. Wohl dem gläubigen Gatten, der an der Gattin, wohl dem Freunde, der am Freunde eine treue Seele hat, die ihm bei Abirrungen von dem schmalen Pfade behilflich ist, wieder zurecht zu kommen. Ein unvergesslicher deutscher König, der den Wahlspruch hatte: „Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen!“ ward einmal bei Tische der Ungeschicklichkeit eines Dieners gegenüber vom Zorne übereilt; da sah sich seine hochherzige Gattin rings im Saale um, als ob ihre Augen etwas suchten. „Was suchst Du, meine Liebe?“ fragte der Monarch. „Ich suche den König!“ war die Antwort, und diese Antwort traf, der Zorn war bereut und verflogen. Sanftmütige Weisheit ist die Krone der christlichen Tugend; die Weisheit von oben her lässt sich sagen, nimmt heilsamen Rat und Unterricht mit Herzlichem Danke an. O, dass wir uns je länger, desto mehr dieser Weisheit befleißigten; denn ach, wir haben auch bei der lautersten Gottseligkeit dies Uns-sagen-lassen alle Tage not. Auch die Gläubigen, wie Jakobus sagt, fehlen mannigfaltig. Auch die frömmsten Menschen, so lange sie die Schätze des Heils in irdischen Gefäßen tragen, sind und bleiben arme Sünder.

Wenn so der Hintergrund der evangelischen Geschichte vom Tempelgang ein dunkler ist, so erblicken wir im Vordergrunde eine desto leuchtendere Gestalt. Der erste Tempelgang Christi zeigt nicht bloß, dass auch die frömmsten Menschen Sünder sind, sondern zeigt auch, dass des Menschensohnes Tichten und Trachten heilig war von Jugend auf, dass er nicht ist ein Sünder, wie wir und unsre Kinder, von Missetaten weiß er nicht.

Kleine Majestäten nennt das Sprichwort die Kinder. Die schönsten Edelsteine in dem fürstlichen Diadem, das die kindliche Stirn ziert, sind ohne Frage die drei Tugenden: Gehorsam, Gottesfurcht und Bescheidenheit. Wenn wir nun eines unsrer Kinder ansehen, so kann uns wohl der Dichterspruch umtönen: „Du bist wie eine Blume so hold und schön und rein; ich schau dich an und Wehmut zieht mir ins Herz hinein!“ Wehmut, denn wie bald fällt in den offenen Blütenkelch der kindlichen Seele der Gifttropfen der Sünde hinein; Wehmut, denn das Kind hat den Wurm der Sünde, der an der Blüte nagt, schon seit der Empfängnis in sich! Bei unsern besten Kindern, wie matt ist doch bei ihnen der Glanz der drei Edelsteine Gehorsam, Gottesfurcht, Bescheidenheit; wie mancher dunkle Flecken muss da durch das Blut der Vergebung abgewaschen werden! Nur Einer hat um seine jugendliche Stirn das Kindheitsdiadem in ganz klarem, ungetrübtem Glanz getragen; nur Einer pilgerte durch seine Kinderjahre ganz gehorsam, ganz gottesfürchtig, ganz bescheiden, nur Einer war ein Kind ohne jeden Fehl und ohne jeden Makel. Dieser Eine ist der ehrwürdige Knabe von Bethlehem, der jugendliche Menschensohn. Es ist ja unser Herr Jesus Christus schön in jeder Gestalt, holdselig, wo wir ihn auch sehen: immer zeigt er uns die menschliche Natur erfüllt mit der Herrlichkeit Gottes, nach dessen Ebenbild sie geschaffen. Er ist auch als Knabe und Jüngling der Schönste unter den Menschenkindern, schön wie eine gottgepflanzte Blume in ihrer allerschönsten Pracht.

Es ist sein Gehorsam, der uns bei Gelegenheit des Berichtes vom Tempelgang mit ausdrücklichen Worten von der Schrift bezeugt wird. Er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und ward ihnen untertan. Der da Gott war, von Gott in Ewigkeit geboren, wusste als wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren, dass ihm gebührte, alle Gerechtigkeit zu erfüllen; er hielt das Gott gleich sein niemals für einen Raub, dass er damit geprangt hätte wie ein römischer Triumphator, sondern erniedrigte sich selbst und ward gehorsam, gehorsam gegen seinen himmlischen Vater nicht nur, sondern auch gegen diejenigen, die ihm der Vater auf Erden zu seinen Eltern bestellt hatte. Wie er gehorsam mit ihnen aus dem Tempel nach Nazareth ging, so war er gehorsam mit ihnen von Nazareth zum Tempel. hinaufgezogen; und da seine Mutter ihn aus den Augen verloren hatte, war ihr erster Gedanke, er werde bei guten Freunden sein; sie war sich dessen also ganz gewiss, dass er, wo er auch sein mochte, doch nimmermehr in böse Gesellschaft gegangen sein werde. Nun, er war sogar in der allerbesten Gesellschaft, bei seinem allerbesten Freunde, bei seinem himmlischen Vater im Tempel. Aber nun eben dies im Tempel Bleiben des Knaben, da doch, die Eltern schon den Tempel verlassen hatten, wirft das nicht gerade einen Schein des Ungehorsams auf den jugendlichen Menschensohn? Einen Schein allerdings; aber dieser Schein zerrinnt, sobald wir unsre Blicke auf die Gottesfurcht des heiligen Knaben lenken.

Seine Gottesfurcht ist es, die sich im Tempel erhabenen Ausdruck gibt. Seine Eltern hatten ihn zum ersten Male mitgenommen zum Tempel; dass er dem Tempel mit den Gefühlen der innigsten Wonne und des hellen Jubels entgegenging, das können wir erraten aus der Tatsache, dass das Kind, nachdem es den Tempel betreten, gar nicht wieder davon wegkommen kann. Sein jugendliches Herz konnte sich mit der Anschauung der heiligen Stätte, mit der Anhörung des göttlichen Wortes gar nicht ersättigen. „Das edle Geblüt,“ so sagt der alte fromme Prediger Valerius Herberger, “das edle Geblüt seines Großvaters David zeigt sich bei ihm, welcher sein Lebtage wollte im Haufe des Herrn bleiben, Psalm 27, 4, und lieber ein Glöckner sein im Gotteshause, als ein großer Landesherr unter den Heiden, Psalm 84, 11.“ Es saß der fromme Knabe als ein echter Davidsspross im Tempel mitten unter den Lehrern, dass er ihnen zuhörte und sie fragte; Alle aber, die ihm zuhörten, verwunderten sich seines Verstandes und seiner Antwort. Was er sich wird haben erzählen lassen, wovon er in seinen Antworten wird geredet haben, das können wir ahnen nach dem ersten Wort, das von ihm berichtet wird: „Muss ich nicht sein in dem, das meines Vaters ist?“ Sobald er eben anfängt zu reden, so ist ihm der himmlische Vater im Munde; von dem himmlischen Vater hat er sich sagen lassen; als den Sohn des Vaters hat er sich selber tief innerlich gefühlt und erfasst; und wie das, was man ihm nach der Schrift vom Vater sagte, so wundersam zusammenklang mit dem geheimnisvollen Glockenläuten im Innersten seines inwendigen Menschen, davon hat er gesprochen zu den Lehrern. In dem Heiligtum des Vaters, dessen Sohn er war, zu sein, an dem geheiligten Orte seiner Verehrung und Anbetung auszuharren, das war das Natürliche für den gottmenschlichen Knaben; hier zu bleiben, bis Gott selbst durch die Stimme Marias oder Josephs ihn wegrief, war das Gebot der Pflicht. Maria und Joseph gingen von dannen, ohne den Knaben abzurufen, sie haben ihre Pflicht versäumt, nicht er. Indem er im Tempel zu Jerusalem blieb, erfüllte er gleicherweise das erste Gebot und das vierte, blieb er sowohl in der Gottesfurcht als auch im Gehorsam.

Aber so sahen es Maria und Joseph nicht an. Sie meinten in ihrem Elternrecht verletzt zu sein, und statt zu fragen: „Warum haben wir Dir das getan?“ verstiegen sie sich in sündlicher Empfindlichkeit zu der Frage: „Warum hast Du uns das getan?“ Das Kind sollte Schuld sein an ihrem schmerzlichen Suchen, und sie selber waren doch die Urheber ihrer Unruhe, wie das eben öfters geht: Mein Freund blick in dein Herz! Was macht dir deinen Schmerz? Was raubt dir deine Ruh? Dein eigner Feind bist du! Kann es nun aber auch für ein Kind eine peinlichere Lage geben, als die, da es sich sagen muss, dass diejenigen, die für ihn die Stellvertreter Gottes auf Erden sind, dass seine Eltern auch arme, sündige Menschen sind und dass sie von ihm einen Gehorsam beanspruchen, der der Gottesfurcht Eintrag tut? Ach, wie manche fromme Kinder scheitern an dieser spitzen Klippe des Konfliktes zwischen Gottesfurcht und Elternliebe, indem sie, wenn Vater und Mutter einen andern Weg vorschreiben, als Gottes Wort vorschreibt, entweder Gott beleidigen oder die Eltern. Nicht so Jesus Christus! Er wusste, dass er im Tempel am rechten Orte war und dass dort jedenfalls seines Bleibens gewesen war, bis man ihn fortrief; er wusste, dass die teure Magd des Herrn, die ihn unter dem Herzen getragen, ihm Unbilliges zugemutet habe und dass ihre Empfindlichkeit in jedem Falle nicht recht war; aber wie herzenslieb sagt er ihr das und welch' eine bescheidene Rede ist das und was für ein Himmel voll heiliger Naivität liegt in den Worten: „Was ist es, dass ihr mich gesucht habt? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, das meines Vaters ist?“ Und als er das gesagt hatte, ging er mit den Eltern, als hätte er nichts gesagt, und bewies ihnen durch erneute Untertänigkeit, dass ihm, dem Sohne des Allerhöchsten, nichts ferner gelegen und lag, als eine Verlegung derjenigen Pflichten, die er als Kind der Maria hatte.

Heilige Kindheit Jesu! Sie ist die Quelle, aus der das lautere Wasser strömt, das wir und unsre Kinder nötig haben zur Reinigung von den Sünden unsrer Jugend. Der Gehorsam des jugendlichen Menschensohnes strahle uns in die Augen, wenn wir wehmütige Rückblicke werfen auf unsre eigne Kinderzeit und wie wir da so viel anders hätten sein müssen und wie manchmal und mancherlei Weise wir gegen unsre Eltern und Herren gefehlt haben; wenn wir uns betrüben über das adamitische Wesen unsrer eignen Kinder, über ihre Unarten und Fehle. Christi kindlicher Gehorsam ist die Sühne für unsern und unsrer Kinder Ungehorsam, wenn wir anders Glauben haben und im Glauben das Verdienst des Mittlers uns durch den heiligen Geist zueignen lassen. Die Gottesfurcht des ehrwürdigen Knaben im Tempel zu Jerusalem tröste uns, wenn wir trauernd erwägen, wie unvollkommen, wie mangelhaft unsre und unsrer Kinder Gottesfurcht ist; um seinetwillen soll uns und unsern Kindern vergeben sein, wenn wir nur Ihm das Herz hingeben als unserm einigen Mittler und Seligmacher. Seine Bescheidenheit gebe uns Mut, die göttliche Nachsicht anzurufen über allen Eigensinn und Eigenwillen, mit denen sich unsre Kinder an uns versündigen, mit denen wir uns selbst an unsern Eltern versündigt haben in den längst verronnenen Tagen unsrer eignen Kindheit. Wenn Gott mit uns Eltern und mit unsern Kindern ins Gericht gehen wollte, wenn er auch nur um der Sünden eines einzigen Jugendjahres willen mit uns rechten wollte, so könnten wir ihm auf tausend nicht eins antworten, so wären wir mitsamt unsern Kindern verlorene Leute! Aber wir decken uns mit dem Schilde der heiligen Kindheit Jesu; und ob die Sünden unsrer Jugend blutrot wären, so werden sie durch die Sündlosigkeit des Menschensohnes schneeweiß; und ob sie wären wie Rosinfarbe, so sollen sie doch in der Kraft seines heiligen Verdienstes wie Wolle werden. Heilige Kindheit Jesu! Du bist die heilende Salbe für die Wunden unsrer Kinderjahre.

Sie ist noch mehr. Zur Heilung zuerst, dann aber auch zur Heiligung ist sie für uns gegeben. Heiligster Jesu, Heiligungsquelle, mehr als Kristall rein, klar und helle, ein Vorbild bist Du mir, ach bilde mich nach Dir! Dies Kind, das der Augapfel aller Himmel ist, und die Perle der Welt, dem sich im Tempel Jehovas tiefinnerlich seine eigne göttliche Herrlichkeit offenbart, und das doch so bescheiden seinen Eltern antwortet, so gehorsam und demütig mit ihnen heimwärts pilgert in das kleine, stille Handwerkerhaus zu Nazareth - ein Vorbild hat es uns und unsern Kindern gelassen, dass wir sollen nachfolgen seinen Fußtapfen. Unsern Kindern die Kinderpredigten, die über Christi ersten Tempelgang gehalten sind und in denen Christi Gehorsam, Christi Gottesfurcht, Christi Bescheidenheit den Kindern zu Gemüte geführt werden, würden, wenn sie gesammelt wären, eine Bibliothek von Folianten bilden. Begnügen wir uns hier mit dem Gebet: Herr Jesu, Du großer Kinderfreund, stelle Dich unsern Kindern, die Du lieb hast, dar in der Gestalt, wie Dich Dein Tempelgang zeigt, und ziehe sie Dir nach! Aber auch für die Erwachsenen, die den Herrn im Glauben ergriffen haben, für die gereiften Gläubigen ist das heilige Kind ein Vorbild, das desto gewaltiger wirkt, je länger man im Glauben lebt. Im Glauben nämlich an die Versöhnung mit Gott durch Christum sind auch wir Gottes Kinder, angenehm gemacht durch den Geliebten, göttlichen Geschlechtes, das Wunder der Zeiten, die hier sich bereiten, den König, der unter den Lilien weidet, zu küssen, in güldenen Stücken gekleidet. Da sollen wir nun von dem Kinde Marias als dem Herzog und Anfänger unsers Glaubens lernen, mit unsrer inwendigen Herrlichkeit nicht wie mit einem Raube zu prangen, sondern trotz des Diadems der ewigen Gnaden, mit denen wir unsre Stirn geschmückt wissen, ja gerade weil wir dies Diadem tragen, nicht nur gottesfürchtig, sondern auch gehorsam gegen unsre Oberen und bescheiden gegen alle Menschen. unsern Lebensweg zu pilgern. Wenn die Ähren steigen ohne Neigen, dann sind sie leer und hohl; wen die Gnade stolz macht, an dem ist sie verloren. Die Gnade will uns beugen; der begnadigtste Zionspilger muss auch der beste Erdenbürger sein. Jesus war es. Ein Jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war. Amen.

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