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5. Die andere Sonne.

Ein blinder Mann, ein armer Mann. Ach ja wohl, es ist eine bittere Armuth, wenn die goldene Sonne am Himmel prangt und das Auge schaut’s nicht mehr, weil es überfallen ist von der dunklen Nacht. „Wo bist du Sonne blieben? die Nacht hat dich vertrieben, die Nacht des Tages Feind“ – o es singt sich das für sehende Leute so leicht hin als Abendlied, aber wer das singen und sagen muß auch am hellen Mittag als Lebenslied, der singt’s mit tiefem, tiefem Ernst und mit tiefer, tiefer Wehmuth. Denn das ist die größte Plage, wenn am Tage man das Licht nicht sehen kann.

Und doch auch ein blinder Mann kann ein sehr reicher Mann sein. Er ist ein reicher Mann, wenn er nicht mit den Lippen nur, sondern aus dem Grunde des Herzens bei Tag und bei Nacht weiter singen kann: „Fahr‘ hin, ein andre Sonne, mein Jesus, meine Wonne, gar hell in meinem Herzen scheint!“ Unaussprechliches Elend, wenn Einer weder die Sonne der Natur, noch die Sonne der Gnade schaut. Unaussprechliche Tröstung, wenn Einer, der den Himmel draußen mit seinem goldenen Sonnenschein nicht schaut, den Himmel drinnen hat mit dem Morgenglanz der Ewigkeit.

Sie trugen den Himmel beide im Herzen, die zwei blinden Männer, die sich auf dem Hofe eines Blindeninstituts zum ersten Male nicht sahen, ach sie konnten sich ja nicht sehen, aber trafen. Sie hatten beide, obwohl sie verschiedenen Nationen angehörten, schon viel von einander gehört, denn jeder von ihnen leitete daheim unter seinem Volk eine fromme und weithin bekannte Anstalt für Blinde. Nun trafen sie sich am dritten Orte, in dem Vorhof eines fremden, von Sehenden geleiteten Blindenhauses. Als man sie einander vorstellte, spielte um ihrer beider Lippen das Lächeln der Freude; aber als sie nun ihrer Freude Ausdruck geben wollten, da fand sich’s, daß keiner des andern Sprache verstand.

Die sehenden Leute, die diese Begegnung mit ansahen, murmelten seufzend: „Wie arm! Wie arm! Sie können einander nicht sehen, und nun können sie auch nicht einmal mit einander sprechen!“ Eine mitleidige Seele, die beider Sprachen kundig war, wollte sich ihnen schon zum Dolmetscher anbieten. Aber noch ehe das geschah, ergriff der eine blinde Mann die Hand des andern blinden Mannes und führte sie an sein Herz; darauf faßte der andre seines blinden Bruders Hand und führte sie in die Höhe. Dann umarmten sie sich und küßten sich und waren zusammen sehr glücklich. Sie hatten sich nun gesehen ohne Augen, sie hatten sich nun gesprochen ohne Worte, sie hatten sich sehr gut verstanden als die Unbekannten und doch bekannt im gemeinschaftlichen Glauben an das große wahrhaftige Licht, das blinde Sünder sehend macht.

Schön ist die goldene Sonne des Himmels, aber tausendmal schöner noch ist „die andere Sonne, mein Jesus meine Wonne“, und wem diese sonne im Herzen scheint, der ist sehend, ob er gleich blind ist, und reich, unendlich reich, ob er gleich arm ist. Ein frommer Mann, ein reicher Mann.

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