Zuletzt angesehen: 10. Ein Kinderprediger.

10. Ein Kinderprediger.

Es war um die Zeit, wo das alte Jahr noch nicht zu Ende ist und doch schon ein neues Jahr seinen Anfang genommen hat, nämlich ein neues Kirchenjahr, um die Zeit, wo rauhe Winterstürme über die öden Fluren hinbrausen, aber immer im Heiligthum die Gemeinde ihrem Herrn Psalmen und grüne Zweige streut. Da saß im Schulzimmer eines ländlichen Pächterhauses das älteste Söhnlein und lauschte der Lehre seines Hauslehrers, der ihm den adventlichen Einzug des Hochgelobten in seine Stadt Jerusalem vor die Augen malte.

Der Hauslehrer war kein ganz junger Lehrer mehr. Er machte das Hauslehrerleben schon zum zweitem Male durch. Nachdem er es zum ersten Mal durchgemacht hatte, war er Prediger geworden und hatte sich seinem Predigtamte mit jauchzendem Gemüthe hingegeben. Aber nur ein paar Jahre hatte ihm der Herr verstattet, den ehrenden Talar zu tragen; er mußte bald aus dem Amte, das die Versöhnung predigt, ausscheiden, weil er eine unheilbare Halskrankheit sich zuzog, die ihm alles laute und feierliche Sprechen unmöglich machte. So hatte er denn den Hirtenstab, den er einst mit Wonne ergriffen, traurig wieder niedergelegt, und war um des Leibes Nahrung und Nothdurft willen wieder Hauslehrer geworden und saß nun bei seinem kleinen Schüler, ihm die Adventsgeschichte zu erzählen.

Ach, er hätte diese herrliche Geschichte ja lieber gepredigt im Hause des Herrn vor der feiernden Gemeinde, wie früher. Nun konnte er sie nur einem unmündigen Kinde erzählen. Und er erzählte sie, nicht fröhlich, wie man Adventsgeschichten erzählen muß, sondern fast wehmüthig; doch überwand endlich der heilige Geist, der in der Geschichte ist, den traurigen Geist, der in ihm war, und er konnte das: „Hosianna dem Sohne Davids; gelobet sei der da kommt in dem Namen des Herrn; Hosianna in der Höhe!“ so fröhlich und so feierlich sagen, als wenn er noch auf der Kanzel stände. Kaum aber hatte er das so gesagt, als sich des Knaben Wangen rötheten, und seine Augen leuchteten, und er faltete die Hände und rief aus: „Ach wie schön, wie schön ist das! So etwas kann doch nur in der Bibel stehen! Ach, das müssen Sie mir noch einmal sagen: Hosianna…?“ – „Hosianna dem Sohne Davids“, sagte der Lehrer und seine Seele jauchzte; „gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn; Hosianna in der Höhe!“ Er hatte dabei auch die Hände gefaltet und seine Wangen hatten sich dabei auch geröthet und seine Augen leuchteten auch; und es war in dem kleinen Schulstüblein bei den Zweien so feierlich-adventlich, wie es nur immer in einer großen Kirche bei Tausenden sein kann.

Wenn es ein köstliches Ding ist um die Andacht einer betenden Gemeinde, die dem Wort der Predigt stille hält, so ist es doch ein nicht minder köstliches Ding um den allerersten, frischen Eindruck des Wortes Gottes auf ein kindliches Gemüth. Und es ist im mindesten nicht eine Herabsetzung, wenn Gott Einen aus der Mitte der großen Leute wegnimmt und mit dem Evangelio zu den Kindern schickt. Es giebt Freuden der Kinderprediger, die zu den allerreinsten und allerzartesten Freuden unter dieser Sonne gehören.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/q/quandt/tropfen/10.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain