Quandt, Carl Wilhelm Emil - Micha - Das fünfte Kapitel.
In Jesu Namen. Amen.
Die erlösende Barmherzigkeit Gottes hatte der Prophet im vorigen Kapitel geschildert zum Troste derer, die in dem allgemeinen Abfall Israels dem großen Gott in aller Schwachheit Glauben und Treue bewahrten. Er hatte sie im ersten Theile des vorigen Kapitels in ihrer herrlichen Entfaltung, im zweiten Theile in ihrem Unterbrochenwerden durch zwischeneinlaufende Gerichte anschaulich dargestellt und hatte mit dem Hinweis auf diejenige Offenbarung des Gerichts, die der herrlichsten Offenbarung der Barmherzigkeit vorangeht, geschlossen. Jetzt geht er nun darüber, diese herrlichste Gnadenoffenbarung Gottes an Israel zu weissagen, nämlich die Erscheinung des großen Herrschers aus Israel, Jesu Christi, der als der größte Nachkomme Davids aus dem Orte hervorgehen soll, wo David, der Gesalbte des Herrn, geboren ist. Das fünfte Kapitel Michas schließt das Kleinod der Weissagung von der Geburtsstätte des Heilandes ein und ist deswegen das Hauptkapitel des ganzen prophetischen Buches.
V. 1. „Und du Bethlehem Ephrata, die du klein bist unter den Tausenden in Juda, aus dir soll mir der Kommen, der in Israel Herr sei, welches Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist.“ - Die Drangsal Israels unter römischen, Joche hatte der Prophet so eben mit seinem vom heiligen Geist erleuchteten Auge geschaut. Aber das schwarze Gewölk, das sein Herz bedrückt, zertheilt sich plötzlich, und ein süßer Sonnenblick vom Himmel bricht durch und beleuchtet Bethlehem Ephrata. Ein Bethlehem lag im Stamme Sebulon, Josua 19, 15 ist's erwähnt, wir wissen weiter nichts von ihm. Zum Unterschied von jenem führt das in Juda gelegene Bethlehem, aus dem der König David entsprossen war, den Beinamen Ephrata, d. i. das fruchtbare, wie denn Bethlehem selber Haus des Brodes heißt. Dies Bethlehem Juda finden wir in der Schrift alten Testamentes oft erwähnt. Auf dem Wege dahin starb an der Geburt Benjamins Rachel; ihr Grab wird noch heute in der Nähe von Bethlehem gezeigt. Aus Bethlehem war Boas, der Gatte der Ruth, der Großvater Isai's. Auch Jacob, der Feldhauptmann, war aus Bethlehem. König Rehabeam befestigte es als eine der nächsten Vormauern Jerusalems gegen Süden. Dennoch war es eine der kleineren Städte. Das Volk Israel war geschieden in gewisse Unterabtheilungen, jede Unterabtheilung bestand aus tausend Mann und hielt sich zu einem besonderen Ort. Zu Micha's Zeit nun war Bethlehem viel zu klein, als daß es einen Fürstenort bilden, einen Heerführer von Tausenden stellen konnte. Dessenohngeachtet sollte aus ihm kommen, der über Israel ewiglich herrschen sollte. Der Ort, der durch seine äußere Geringheit und Zerfallenheit das Elend des ganzen jüdischen Landes, wie es durch die Strafgerichte herbeigeführt ist, sehr treffend abspiegelt, soll doch der Ausgangspunkt der größten Herrlichkeit Israels sein und so in großartigster Weise seinem Namen Ehre machen, indem es in geistlicher Beziehung ein fruchtbares Brodhaus wird für das ganze Land. „Aus dem Orte, der zu klein ist, ein selbstständiges Glied des Leibes zu sein, geht das Haupt hervor.“ Der in Israel Herr sei, wörtlich: Einer zu sein Herrscher in Israel, das ist also, ein Herrscher über ganz Israel soll aus Bethlehem erstehen, aber nicht ein gewöhnlicher, menschlicher, wie weiland David war, da er aus Bethlehem hervorging, sondern Einer göttlichen, großen Ursprungs, „welches Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist“, wörtlich: dessen Ausgänge sind die Vorzeit, die Tage der Ewigkeit; der schon vor seinem zukünftigen, zeitlichen Hervortreten aus Bethlehem existirt, ja der seit Ewigkeit existirt. Damit ist der Messias bezeichnet in derselben Art, wie St. Johannes von ihm spricht: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Mir soll aus Bethlehem der Messias kommen, so spricht Micha als im Namen Gottes, so spricht Gott durch den Mund Micha's, mir, das ist so viel, als nach meinem Willen, um die Rathschlüsse meines Erbarmens hinauszuführen. Diese herrliche Weissagung von der Geburt des Weltheilandes in Jerusalem, 700 Jahre vor der heiligen Weihnacht gegeben, wurde frühe in Israel als messianisch anerkannt. Zur Zeit Christi stand auf Grund dieses Verses in Israel die Erwartung fest, daß der Messias aus Bethlehem kommen würde. Als Herodes nach der Ankunft der Weisen aus dem Morgenlande die Schriftgelehrten über den Ort der Geburt Christi fragen ließ, erklärten sie's als eine ausgemachte Sache: Bethlehem sei der Ort seiner Erscheinung. Sie citiren unseren Michavers Ev. Matth. 2, 6 nicht wörtlich, sondern aus dem Gedächtnis;, aber dem Sinne nach richtig: „Und du Bethlehem im jüdischen Lande bist mit nichten die kleinste unter den Fürsten Juda; denn aus dir soll mir kommen der Herzog, der über mein Volk Israel ein Herr sei.“ Als ferner einmal über die messianische Würde des Herrn Jesu unter den Juden sich Streit erhob und Einige ihm dieselbe absprachen in dem Wahne, daß er ein Galiläer sei, so wurde der Grund angeführt, daß ja Christus von dem Samen Davids und aus dem Flecken Bethlehem kommen solle. Wir Christen wissen aus den Weihnachtsgeschichten des neuen Testamentes, wie der allwaltende Gott bei der Geburt unseres Herrn und Heilandes buchstäblich erfüllt hat, was er durch Micha vorherverkündigt hatte, wie große Weltbegebenheiten und kleinere Fügungen sich ereignen mußten, um seinen Rath in's Werk zu setzen. Wenn spätere Juden aus Haß gegen den Herrn Jesum das Micha-Zeugniß für ihn zu entkräften suchten und unseren Spruch von Hiskias oder Serubabel erklärten, so wird man sich darüber nicht wundern; daß aber auch christliche Gelehrte diese jüdische Behauptung, daß die Weissagung des alten Testamentes nichts von der Geburt des Messias aus Bethlehem wisse, wiederholt haben, ist allerdings verwunderlich, doch auch aus ihrem Unglauben erklärlich; denn es gilt auch von ungläubigen namenchristlichen Gelehrten: Sie haben Augen und sehen nicht. Wir aber preisen den Herrn, daß er das Hephata über unsere Augen gesprochen hat und wir die Erfüllung sehen von alle dem, das er zuvor geredet hat durch die Propheten. Wir wissen aber auch, in Bethlehem war der Herr geboren, doch „war' Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in mir, so war' ich ewiglich verloren.“ Das jüdische Bethlehem ist längst verfallen und kein fruchtbares Brodhaus mehr; nicht das heutige Bethlehem, dessen arme Einwohner sich ernähren vom Verfertigen kleiner Andenken für die Pilger aus den Steinen und Muscheln des todten Meeres, sondern eine bekehrte Christenseele ist heutzutage die rechte Geburtsstätte für den Heiland. Darum falten wir unsere Hände über Micha 5, 1 und beten:
Eins bitt' ich, Herr, das laß geschehn,
Du hörst ja gerne bitten,
Mach unser Herz zu Bethlehem,
Und unsre arme Hütten,
Die laß dir eine Wohnung sein,
Die du dir auserkoren.
So arm, so niedrig und so klein
Wie du, da du geboren.
V. 2. „Indeß läßt er sie plagen bis auf die Zeit, daß die, so gebären soll, geboren habe; da werden dann die uebrigen seiner Brüder wieder kommen zu den Kindern Israel.“ - Micha predigt zunächst nicht für die Nachwelt, sondern für seine Zeitgenossen. Mußte ihnen die Weissagung von dem einst aus Bethlehem entsprossenden messianischen Herrscher, der von Ewigkeit, also auch damals schon existirte, zu reichem Troste sein: so hätte die einseitige Spendung dieses Trostes doch nur Unheil anrichten und in den Schlaf gefährlichster Sicherheit wiegen können. Darum macht der Prophet sofort auf die ernste Thatsache aufmerksam, daß bis zur Geburt des Heilandes hin ein Interim der Plage bevorstehe. Indeß heißt hier wörtlich darum, weil das Gottes Rath und Plan ist, Zion seiner Sündenwegen zuvor zu betrüben und dann erst in Christo, dem Bethlehemiten, zu erquicken. Die Dahingabe in die Plage in ihrer dreifachen Erscheinungsform, wie sie das vorangehende Kapitel schildert, wird nicht vor, sondern erst mit der Geburt des Heilandes ein Ende nehmen. Wer ist aber die, so da gebären soll? Die Gemeinde Israel ist ja allerdings im weiteren Sinne die Gebärerin des Messias, denn das Heil kommt von den Juden, und die Drangsale und Leiden Israels vor dem Auftreten Christi waren ja von dem Propheten selbst im vorigen Kapitel mit den Wehen einer Kreisenden verglichen. Allein die enge Beziehung, in der dieser zweite Vers zum ersten steht, macht es mehr als wahrscheinlich, daß der Prophet eine in Bethlehem Gebarende, also die Mutter des Heilandes, die heilige Jungfrau, vor Augen hat, dieselbe, von der der Prophet Jesaias 7, 14 schreibt: „Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebaren, den wird sie heißen Immanuel.“ Dieser vom Weibe in Bethlehem Geborene hat trotz seiner überirdischen Krone und seines ewigen Wesens durch diese seine Geburt die Israeliten zu seinen Brüdern gemacht. „Du unser Heil und höchstes Gut vereinest dich mit Fleisch und Blut, wirst unser Freund und Bruder hier, und Gottes Kinder werden wir.“ Die erste seiner messianischen Segnungen ist nun die, daß er „die Uebrigen seiner Brüder“ zu den Kindern Israel zurückbringt, daß er das Verirrte und Verlorene in Israel zurechtbringt und in die heilige Gemeinschaft des Israels rechter Art führt, eine Segnung, die durch alle Zeiten des neuen Testamentes fortgeht und sich erst am Ende der Zeiten vollendet. Die Apostel, die galiläischen Frauen, der Schacher waren solche „Uebrigen“, die durch den Herrn zur heiligen Gemeinde des echten Israel gesammelt wurden; desgleichen die drei Tausend, die am ersten Pfingstfest der Stimme des heiligen Geistes gehorchten, und noch heute jeder Jude, der sich bekehrt.
V. 3. „Er aber wird auftreten und weiden in Kraft des Herrn und im Siege des Namens seines Gottes. Und sie werden wohnen, denn er wird zu derjenigen Zeit herrlich werden, so weit die Welt ist.“ - Er, der Bethlehemssohn von ewigen Ursprüngen, der zukünftige Herrscher Israels, wird auftreten, wörtlich: wird stehen, ohne Straucheln, ohne Wanken, wie ein Hirt auf seinen Stab gelehnt, und wird seine gereinigte und geeinigte Heerde, das Israel seiner Kirche, weiden in der Kraft des Herrn, in der Majestät (so heißt es wörtlich, statt: im Siege) des Namens Jehovah. Er wird Israel weiden, nicht durch Furcht regieren wie ein Tyrann, sondern als ein guter Hirte mit Sanftmuth und Liebe leiten und gegen alle Feindschaft der Welt als der Starke in Israel hüten und bewahren in der Kraft des Herrn, die seine Kraft ist, da er selbst der Herr ist, in der Majestät des Namens Gott, d. i. seiner geoffenbarten Herrlichkeit, die ihm zu eigen gehört, da er selbst ist Gott, geoffenbaret im Fleisch. Wer den Messias zum Hirten hat, findet bei ihm beides, Weide und Schutz; „er lässet mich mit Freuden auf grüner Auen weiden; führt mich zu frischen Quellen, schafft Rath in schweren Fällen.“ Bei Ihm wird die Gemeinde des Herrn wohnen, nicht mehr in der Zerstreuung umherirren, sondern in guter Ruhe sicher leben unter dem milden Regimente dessen, der nicht blos Canaan, sondern die ganze Erde, sich zum Kirchspiel machen wird. Diese Verheißung Micha's wiederholt der Engel Gabriel am Tage Maria Verkündigung, wenn er (Ev. Luc. 1, 32. 33) von dem Sohne, den Maria empfangen soll, sagt: „Der wird groß und ein Sohn des Höchsten genannt werden, und Gott der Herr wird ihm den Stuhl seines Vaters David geben, und er wird ein König sein über das Haus Jacobs ewiglich, und seines Königreichs wird kein Ende sein.“
V. 4. 5. „Dazu werden wir auch Frieden haben vor dem Assur, der jetzt in unser Land gefallen ist, und unsere Häuser zertreten hat. Denn es werden sieben Hirten und acht Fürsten über ihn erwecket werden, die das Land Assur verderben mit dem Schwert und das Land Nimrod mit ihren bloßen Waffen. Also werden wir von Assur errettet werden, der in unser Land gefallen ist und unsere Grenze zertreten hat.“ - Der Anfang lautet in buchstäblicher Uebertragung: „Denn dieser ist der Friede. Wenn Assur kommt in unser Land und unsere Paläste zertritt, dann werden wir gegen ihn sieben Hirten und acht Menschenfürsten stellen.“ Er, der verheißene Messias und Herrscher Israels, wird der Friede sein; gleichwie es Psalm 72, 7 von ihm heißt: „Zu seinen Zeiten wird blühen großer Friede.“ So rühmt auch der Apostel Ephes. 2, 14 von Christo: „Er ist unser Friede“; der Messias ist der rechte Salomo, unter dessen Schutz das erlöste Israel jauchzt: Nun ist groß' Fried' ohn' Unterlaß, all' Fehd' hat nun ein Ende. Aber ist dieser Friede, den Christus den Seinen giebt, nicht ein geistlicher, während Micha redet von einem Frieden, der durch Kampf und Schwert erfochten wird? Micha's Schilderung ist eine bildliche. Daß das wirkliche Assur, das dem Volke Israel zur Zeit des Propheten so gefährlich war, zur Zeit Christi längst den Weg alles Fleisches gegangen sein würde, hatte er im 10. Verse des vorigen Kapitels schon ausgesprochen. Es kann also hier nur in Betracht kommen als Bild der feindlichen Weltmacht überhaupt, die ja trotz des Kap. 4 geweissagten Strömens der Völker nach Zion unter wechselnden Formen fortexistirt, so lange die Sünde in der Welt existirt. In aller Angst der Welt wird der Messias sein Israel erhalten und bewahren, daß es die Feinde nicht untertreten können; er wird geistlicher Weise seinem Volke dasselbe leisten, was eine ganze Anzahl tapferer Fürsten mit ihren Heeren (sieben Hirten, acht Menschenfürsten, nicht als 15 Personen zu zählen, sondern es soll die Vollzahl, ja die übervolle Zahl kräftiger Helfer ausgedrückt werden) ihrem Volke nützen. Assur, das Land Nimrods, das ist die Welt, soll nicht nur selbst Israel vergeblich angreifen, sondern auch durch den Messias und sein Israel selbst angegriffen werden. So muß jeder Gedanke an Unsicherheit im Reiche Gottes schwinden und das Wort sein Recht behalten: Christus ist der Friede.
Aber nicht nur voll Friedens wird die durch Gottes erlösende Barmherzigkeit in Christo gesegnete Gemeinde der Zukunft sein, sondern auch lieblich und erquickend inmitten der Völker. Davon redet Micha weiter.
V. 6. „Es werden auch die Uebrigen aus Jacob unter vielen Völkern sein wie ein Thau vom Herrn und wie ein Tröpflein auf's Gras, das auf Niemand harret, noch auf Menschen wartet.“ - Die Uebrigen aus Jacob sind eben die heilige Gemeinde des Herrn im messianischen Reiche, der heilige Same, der Eichenstamm, der geblieben ist, als die Blätter abgestoßen wurden. Dieses Israel rechter Art wird für die weite Völkerwelt sein, was der vom Himmel kommende Thau für das Gras ist. Der Thau ist in der Schrift immer das Bild der Lieblichkeit und der Frische. Israel wird die anderen Völker befruchten und erquicken, daß sie neu aufblühen; Israel wird das Salz der Erde sein. Die ganze Geschichte der Welt seit Christo ist ein einziger großer Beweis für die Wahrheit dieser Weissagung. Die Segnungen, die die Christenheit der Welt gebracht hat, sind nicht zu zählen. Doch nicht nur lieblich wird Israel der Heidenwelt sein, sondern zugleich furchtbar und unwiderstehlich.
V. 7. 8. „Ja, die Uebrigen aus Jacob werden unter den Heiden bei vielen Völkern sein, wie ein Löwe unter den Thieren im Walde, wie ein junger Löwe unter einer Heerde Schafe, welchem Niemand wehren kann, wenn er dadurch gehet, zertritt und zerreißet. Denn deine Hand wird siegen wider alle deine Widerwärtigen, daß alle deine Feinde müssen ausgerottet werden.“ - Der Löwe, in der Bibel unter allen Thieren am häufigsten, nämlich mehr als 70 Mal genannt, ist sowohl ein Bild segnender Macht und wohlthätiger Heldenkraft, als auch ein Bild verderblicher Stärke und räuberischer Gewaltthätigkeit. Daher sowohl Christus als auch der Teufel in der Schrift mit einem Löwen verglichen wird, jener als der Löwe aus Juda's Stamm voll kräftiger, siegreicher Majestät, dieser als der brüllende Löwe des Abgrunds, der da gierig ist, die Menschen zu verderben. Nach dem ganzen Zusammenhange ist in unserm Verse das Bild des Löwen im ersten, guten Sinne zu deuten. Nicht den Seelen, sondern den Sünden der Völker wird Israel furchtbar wie ein Löwe sein; denn der Friede, den der Messias giebt und der er selber ist, ist seiner Natur nach Streit gegen die Sünde. Unwiderstehlich wird Israel im Aufdecken und Strafen der Sünde der Völker sein, damit die Wohlthat der Vergebung, die in Christo vorhanden ist, ihnen zu Theil werden könne. Freilich wer sich verstockt und den Frieden Gottes beharrlich haßt, fällt unter allen Völkern dem Gericht und der Ausrottung anheim - gleichwie Israel das zuvor an sich selber erfährt, da die ausrottende Thätigkeit des Herrn sich zuvor an Israel selber kund geben wird durch Gerichte, die der Prophet schon mehrfach geschildert hat und auf die er nun noch einmal zurückkommt:
V. 9. „In derselbigen Zeit, spricht der Herr, will ich deine Rosse von dir thun und deine Wagen umbringen.“ - Roß und Wagen kommen als Gegenstände fleischlichen Vertrauens in Betracht. Der Morgenländer gebrauchte das Roß viel weniger zu den Geschäften des Friedens, als der Abendländer; fast in allen Bibelstellen erscheint das Roß als Werkzeug des Krieges, und fast immer haben Roß und Wagen an Schild, Schwert und Streit ihre Genossen. Israel, je mehr es vom lebendigen Gott abfiel, setzte desto stärker sein Vertrauen auf Roß und Reisige. Aber schon David hatte gesagt Psalm 33, 7: Rosse helfen auch nicht, und ihre große Stärke errettet nicht. Micha sagt nun, Gott werde sein Volk, ehe er es erhöhe zu messianischer Herrlichkeit, erst dieser fleischlichen Stützen gänzlich berauben. Die Mission eines der Rosse und Wagen beraubten Volkes kann dann selbstverständlich nur eine friedliche sein, und die Art seines Ausrollens unter den Heiden (V. 8) kann dann nicht eine äußerliche mit Schwert und Scheiterhaufen sein, sondern nur eine geistliche, mit dem Schwerte des Wortes Gottes wirksame.
V. 10. „Und will die Städte deines Landes ausrotten und alle deine Vesten zerbrechen.“ - „Die Städte und Vesten“, das ist so viel als die Städte, die Festungen sind. Sie fallen unter den Gerichten Gottes dahin, damit das Vertrauen auf sie hinfalle. An die Stelle äußerer Bollwerke und Mauern soll der Gemeinde des messianischen Reiches das Heil, der Schutz und Schirm des guten Hirten treten, der als eine feurige Mauer um sie her sein wird. Gott nimmt das Geringere, um das Höhere geben zu können.
V. 11. 12. 13. „Und will die Zauberer bei dir ausrotten, daß Keine Zeichendeuter bei dir bleiben sollen; ich will deine Bilder und Götzen von dir ausrotten, daß du nicht mehr sollst anbeten deiner Hände Werk, und will deine Haine zerbrechen und deine Städte vertilgen.“ - Verführerischer noch als Streitrosse und Festungsmauern waren für das alte Israel die Zauberer und Zeichendeuter, die auf von Gott verschlossenen und verbotenen Wegen, gleichsam durch nächtliche Einbrüche, über den verzäunten Weg zum Baume des Lebens und der Erkenntniß zu führen suchten. Die Zauberer suchten ein Uebel zu entfernen, ein Gut zu beschaffen durch sündliche Beschwörungsformeln oder durch Anwendung sündlicher Mittel. Die Zeichendeuter suchten die Zukunft zu bestimmen aus Vorzeichen. Ihre Handthierung war im Gesetz Mosis auf's strengste verpönt, aber das abtrünnige Israel übertraf zur Zeit der Römer sogar die Heiden in diesen Künsten; und jüdische Zauberer, Wahrsager und Wahrsagerinnen durchzogen die Welt, wie jetzt die Zigeuner, um Lohn prophezeiend. Diese Gräuel mußten vor allen Dingen ausgerottet werden, sollte ein neues Israel in heiligem Schmucke dem Herrn blühen. Nicht minder aber auch das ganze Götzenwesen, das sich in Israel eingenistet hatte und in welchem die Wurzeln aller Zauberei und Zeichendeuterei lagen. „Ich will deine Haine zerbrechen“ heißt wörtlich: „Ich will deine Ascheren zerbrechen.“ Die Ascheren waren hölzerne Säulen, Stand- und Sinnbilder des unzüchtigen Götzendienstes der Mondgöttin Astarte, welche Phönizier und Philister neben dem Sonnengott Baal verehrten. Als Israel einst Kanaan einnahm, fand es das Land voll solcher heidnischer Holzsäulen und erhielt den Auftrag, dieselben auszureißen, umzuhauen, zu verbrennen. Aber abgöttische Könige Israels richteten sogar deren selber auf, und Manasse stellte sogar solche Säule im Tempel auf. Sonst standen diese Säulen auf Höhen in eingehegten Lusthainen und unter immergrünen Bäumen. Gottselige Könige Israels suchten sie immer wieder auszurotten, nichtsdestoweniger wucherte das Unwesen fort, und 100 Jahre nach Micha muß noch Jeremias (17, 2) klagen, daß die Ascheren im Lande stehen auf den Höhen und unter den grünen Bäumen. Der Herr aber, so verheißt Micha, wird die Ascheren sammt allen heidnischen Gräueln selbst abthun von seinem Volk durch seine Gerichte, damit Israel, nachdem ihm seine Götzen zerschlagen sind, zu Gott sich wende.
V. 14. „Und ich will Rache üben mit Grimm und Zorn an allen Heiden, so nicht gehorchen wollen“ - Es ist Gottes Art immer, mit zerstoßenen Rohren Wunder zu thun. Erst wenn er Israel mit der scharfen Lauge seiner Gerichte gewaschen und ihm Alles genommen hat, worauf es seine eitlen Hoffnungen setzte, ist es ihm ein passendes Werkzeug, durch dasselbe Rache zu üben an der Heidenwelt. Die Rache aber, die Gott durch solche ausübt, denen er vorher ihre Rosse und Festungen genommen, die er äußerlich wehrlos gemacht hat, kann keine äußerliche, in Streit und Schwert sich kundgebende sein. Das wahre Israel rächt seinen Gott und sich durch die Bezeugung im Wort, daß Gott nicht ungestraft läßt Alle, die an den nicht glauben, der unsere Strafe getragen, und durch den prophetischen Hinweis auf den großen jüngsten Tag, wo derselbe Herr und Messias, der zur Freude seines Volks aus Bethlehem Ephrata hervorgeht, seine Heerde zu weiden und zu schützen, wie ein guter Hirte, Rache geben wird mit Feuerflammen über die Ungläubigen und Widerwärtigen.
Möge für uns die herrlichste Gnadenoffenbarung Gottes an Israel, die Geburt des Weltheilandes in Bethlehem, keine vergebliche sein. Der Friede, den Christus uns darbietet in sich selbst, möge er von uns ergriffen und festgehalten werden mit demüthiger Glaubenshand. Halten wir unserem Gotte auch stille, wenn er je länger, je mehr zu nichte macht unsere aus dem Holze der Gedanken gezimmerten Götzen und Bildsäulen. - Er will uns ausleeren, um uns zu füllen, uns alles Heillose nehmen, um uns immer mehr mit Heil zu speisen. „Leiden sammelt unsre Sinne, daß die Seele nicht zerrinne in den Bildern dieser Welt; ist wie eine Engelwache, die im innersten Gemache des Gemüthes Ordnung hält.“ Wären die Leiden der Gerichte nicht über das alte Israel gekommen, es wäre Niemand übergeblieben, der den Heiland, als er kam, in das Bethlehem des Herzens aufgenommen hätte. Beugen wir uns allezeit unter die gewaltige Hand Gottes, wenn sie uns straft, so werden wir sie küssen können für ihre erlösende Barmherzigkeit, für die die richtende Gerechtigkeit nur ein Zuchtmeister ist. Amen.