Quandt, Emil - Gethsemane und Golgatha - 3. Der Kelch von Gethsemane.

Quandt, Emil - Gethsemane und Golgatha - 3. Der Kelch von Gethsemane.

Ev. Matth. 26, 39.

Und ging hin ein wenig, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist es möglich, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.

„Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch von mir“ so betet unser Mittler in Gethsemane. Auf den Gemälden, die uns fromme Maler von Gethsemane entworfen haben, finden wir daher in der Regel neben oder vor dem knienden, betenden, ringenden Christus einen Kelch abgebildet. Unsre gottseligen Sänger singen in ihren Gethsemaneliedern von dem Herrn, „wie er auf sein Antlitz sank und den Kelch des Vaters trank.“ Auch wir selber schon, in unsern beiden vorigen Betrachtungen über diesen Text, da wir die Örtlichkeit und die Stunde von Gethsemane in andächtige Erwägung zogen, haben zum Öfteren des Kelches Jesu Christi gedenken müssen. Wir haben es alle im Gefühl, dass der Kelch von Gethsemane die große Hauptsache von der Gethsemanegeschichte ist, die Sache, auf die es eigentlich ankommt und auf der die Bedeutung dieser ganzen Passionsgeschichte beruht. Es wird euch daher nicht Wunder nehmen, Geliebte, wenn ich euch bitte, bei dieser dritten frommen Überdenkung des verlesenen Schriftabschnitts besonders und ausschließlich den Kelch von Gethsemane ins Auge zu fassen.

Es wird in den Heiligen Schriften der Kelche oft Erwähnung getan, sowohl in eigentlicher, als auch in bildlicher Rede. Jeder Bibelleser kennt den Josephskelch, den silbernen Becher, Josephs festlichstes und heiligstes Gerät, der sich in seines jüngsten Bruders Benjamins Sack fand, Benjamins, der eigentlich Benoni, Sohn der Schmerzen, hieß. Auch dass in der Stiftshütte und im Tempel des alten Bundes goldene Becher standen, wahrscheinlich für den Weihrauch, erfahren wir aus der Bibel. Am allerbekanntesten aber ist dem Christen der Kelch, den der Erlöser beim letzten Ostermahl nahm, beim Anbruch eben dieser Nacht, da er verraten war, und von dem er sprach, da er ihn seinen Jüngern reichte: „Dieser Kelch ist das Neue Testament in meinem Blut; solches tut, so oft ihr's trinket, zu meinem Gedächtnis.“ Es ist ja nun ohne allen Beweis uns klar und offenbar, dass in die Reihe der genannten Kelche der Kelch von Gethsemane nicht gehört; wenn auch die Maler ihn in ihre Bilder malen, so hat doch ein Kelch von Silber oder Gold in Gethsemane nicht gestanden. Der Weiseste der Griechen, Sokrates, hat vor seinem Sterben aus einem eigentlichen Kelche das tödliche Gift trinken müssen, von seinem eigenen Volk verkannt und verurteilt; der Heilige von Israel, Jesus Christus, da er von seinem Volk verworfen war, hat auch aus einem Kelche tödlichen Trank getrunken, aber nicht aus einem Kelche, den der Silber- oder Goldschmied gemacht.

Wir verstehen es, es ist bildliche Rede, was die heiligen Evangelisten von dem Kelch von Gethsemane schreiben. Es ist das ja der Bibel eine sehr geläufige Weise, von Bechern und Kelchen in bildlichem Sinne zu reden. Da bei den Gastmahlen des Morgenlandes jedem Gast ein besonderer Becher bestimmt war, so wurde der Kelch frühe ein Bild für das von Gott einem Jeden zugeteilte Maß, sei es der Freuden, sei es der Leiden. In den Psalmen wird der Herr selber der Kelch der Frommen genannt und zwar ein Kelch des Überflusses, ein Becher, der nie leer wird, weil Gott der Quell aller guten Gaben ist und die Seinigen reichlich mit Allem versorgt, was zur Erquickung auf ihrem Lebenswege dient; diesen Kelch als den Kelch des Heils sollen die Frommen nehmen und lobend und dankend ihren Schöpfer dafür preisen, die einzige Vergeltung, die der arme Mensch dem reichen Gott für seine Wohltaten bringen kann. Viel häufiger aber als das freudvolle Schicksal bildet der Kelch in der Heiligen Schrift das leidvolle Schicksal ab sowohl derer, die Gott fürchten, als auch derer, die Gott verachten, namentlich der Letzteren. „Du hast Deinem Volk ein Hartes erzeigt, Du hast Deinem Volk einen Trunk Wein gegeben, dass wir taumelten,“ so klagt David im Namen des schwerheimgesuchten Israel; von den Feinden des Herrn aber sagt er: „Zorneshauch ist ihr Becheranteil; ein Kelch ist in der Hand des Herrn und schäumt von Wein und ist voll von Mischtrank, und er schenkt daraus, und noch seine Hefen müssen schlürfen, trinken alle Bösen der Erde.“ In solchem bildlichen Sinne nun, das liegt vor Augen, steht auch der Kelch von Gethsemane, und dass er nicht als Bild der Freude, sondern des Leides steht, ist auch offenbar. Aber welcher Art das Leiden ist, welches unserm Heilande in dem Kelch von Gethsemane eingeschenkt wurde, das ist eben die Frage, und auf diese Frage suchen wir heute Antwort bei dem Heiligen Geiste, von dem uns verheißen ist, dass er andächtig forschende Jünger des Herrn in alle Wahrheit leiten soll. So richtet denn, Geliebte, mit mir jetzt eure Andacht auf den Kelch von Gethsemane.

1) Wir weisen zuerst die falschen Deutungen dieses Kelches ab
2) und machen uns sodann die richtige Deutung desselben klar.

Jesu, deine Passion
Will ich jetzt bedenken;
Wollest mir vom Himmelsthron
Geist und Andacht schenken.

In dem Bild jetzund erschein,
Jesu, meinem Herzen,
Wie du, unser Heil zu sein,
Littest alle Schmerzen. Amen. 1)

1.

Was ist das für ein Leiden, von welchem der Herr, da er in Gethsemane im Staube liegt und betet, sagt: Abba, mein Vater, es ist dir Alles möglich, überhebe mich dieses Kelches; doch nicht was ich will, sondern was Du willst!? Das ist die Frage, die uns heute beschäftigt. Wir halten uns nicht lange auf bei jener alten wunderlichen Deutung des christlichen Altertums, so fromme Namen sie auch unter ihren Vertretern zählt, die unter dem Leiden, um dessen Abwendung der Heiland hier fleht, nicht eigenes Leiden Christi versteht, sondern das Leiden Israels, insonderheit die Zerstörung Jerusalems. Es ist ja wahr, dass der Heiland von dem unvermeidlichen Untergange der Stadt, die allen seinen Lockungen widerstrebt hatte, schmerzlich bewegt war; seine Tränen über Jerusalem sind des ein Zeugnis und auch das Wort, das er am Karfreitag noch auf der Schmerzensstraße zu den mitleidigen Frauen Jerusalems sagt: „Ihr Töchter von Jerusalem, weint nicht über mich, sondern weint über euch und über eure Kinder!“ Aber so tiefes Mitleid der Heiland auch mit dem Volk des alten Bundes hatte, dass in Gethsemane nicht Mitleiden, sondern Leiden ihm das Herz beklemmt, geht nicht nur aus dem Wort des Heilands: „Ist's möglich, so gehe dieser Kelch von mir,“ sondern aus dem ganzen Vorgange in Gethsemane hervor; nicht vor einem Kelche, den Andere trinken müssen, schaudert dem Herrn am Ölberge, sondern vor einem Kelche, den er selber trinken muss. Die Schriftauslegung der gesamten christlichen Kirche ist denn auch in diesem Punkte dermalen vollständig einig: der Kelch von Gethsemane ist kein fremder, sondern des Heilands selbst eigenster Kelch.

Ist es aber sein eigener Kelch, vor dem ihn schaudert, dann scheint es nahe zu liegen, die Deutung desselben von einem Worte herzunehmen, mit welchem früher selber einmal der Herr sein ganzes Leben und Sterben einen Kelch nannte. Es war in der Zeit, da der Heiland zum letzten Mal hinaufzog gen Jerusalem, da trat zu ihm die Mutter der Kinder Zebedäi mit ihren Söhnen, kniete vor ihm nieder und sprach zu ihm: „Herr, lass diese meine zween Söhne sitzen in deinem Reich, einen zu deiner Rechten und den andern zu deiner Linken.“ Aber Jesus antwortete der Mutter und den Söhnen: „Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde und euch taufen lassen mit der Taufe, da ich mit getauft werde?“ Sie sprachen zu ihm: „Ja wohl.“ Da sprach er zu ihnen: „Meinen Kelch sollt ihr zwar trinken und mit der Taufe, da ich mit getauft werde, sollt ihr getauft werden; aber das Sitzen zu meiner Rechten und Linken zu geben, steht mir nicht zu, sondern denen es bereitet ist von meinem Vater.“ Was der Herr in diesen Worten mit seinem Kelch meint, ist sonnenklar; er meint das, was er erst kurz zuvor und auch sonst öfters den Jüngern vorher verkündigt hatte: des Menschen Sohn wird überantwortet werden, und sie werden ihn verdammen zum Tode, und sie werden ihn verspotten, geißeln und kreuzigen; er meint damit sein Karfreitagsleiden, von welchem wir alle Sonntage mit der gesamten Christenheit bekennen, dass Jesus Christ, Gottes eingeborener Sohn, empfangen vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten hat unter Pontius Pilatus, gekreuzigt ist und gestorben. Aber die nun den Kelch von Gethsemane in diesen Kelch von Golgatha verwandeln; die die Vorgänge von Gethsemane dahin deuten, als ob der Herr gezittert und gezagt habe vor der Geißelung und Kreuzigung und all' diesen äußeren Strafen, die er als Gottes Lamm, das der Welt Sünde trug, an unserer statt zu erdulden hatte, die seinen Blutschweiß auf Rechnung der Furcht vor dem Sterben setzen: wahrlich sie wissen nicht, sie bedenken nicht, was sie sagen und sehen: Dass sie dem Herrn damit unverzeihliche Feigheit andeuten, bleibt doch auch trotz der Erwägung stehen, dass Christi Leiblichkeit, weil ohne Sünde, auch nicht auf den Tod als Sold der Sünde angelegt war, dass daher das natürliche Grauen, was schon unser Einer vor dem Tode hat, bei ihm, dem Sündlosen, in der allerhöchsten Steigerung zu denken ist. Denn wenn doch die Märtyrer ihr natürliches Grauen vor dem Sterben in der Kraft des ihnen verliehenen Maßes von heiligem Geist so vollständig überwanden, dass keiner von ihnen Hinwegnehmung seines Leidens begehrte: so konnte und musste Christus seinem, wenn auch noch so gesteigerten Grauen vor dem Tode seinen Geist, den er hatte, und das war der Geist ohne Maß, gegenübersetzen und durch denselben auch den leisesten Anflug von Furcht im Keime ersticken. Wahrlich was gegenüber äußeren Lebenstrübsalen von den Knechten gilt, vom Herzog gilt's zuerst und zu allermeist:

Unverzagt und ohne Grauen
Soll der Christ,
Wo er ist,
Stets sich besser schauen;
Wollt' ihn auch der Tod aufreiben,
Soll der Mut
Dennoch gut
Und fein stille bleiben. 2)

Wie? der Herzog sollte in Gethsemane gezittert haben vor dem Kelch des Todes, der Herzog, der seinen Knechten so kühn gebietet: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, aber die Seele nicht mögen töten!? Das hieße doch, dem Sohne Gottes Schmach antun; das hieße doch, ihn zum Chorführer jener jämmerlichen Prediger machen, von denen der Volksmund sagt: Richtet euch nach ihren Worten und nicht nach ihren Taten! Aber noch mehr, nicht nur zum Feigling degradiert diese Verwechslung des Kelches von Gethsemane mit dem von Golgatha den Herrn, sondern auch zu einem Mann voll innerlicher Widersprüche. Denn in Beziehung auf den Kelch von Golgatha schildern uns die Evangelien den Heiland sonst immer kühn und entschlossen; nie, nie werdet ihr eine Klage aus Jesu Munde hören, so oft er zuvor von seiner Kreuzigung und seinem Sterben spricht; alle seine Aussprüche darüber gehen immer in dem Tone von Joh. 10: „Ich bin ein guter Hirte, und ich lasse mein Leben für die Schafe. Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir selber. Ich habe es Macht zu lassen und habe es Macht wiederzunehmen. Solches Gebot habe ich empfangen von meinem Vater.“ Es ist unmöglich, dass derjenige Mund, in welchem nie ein Betrug erfunden ist, und der sonst immer so gelassen und entschlossen von der Dahingabe seines Lebens spricht, in Gethsemane sprechen sollte: Vater, ist's möglich, so gehe der Kelch der Dahingabe meines Lebens vor mir vorüber. Nein, nein, will man über den Kelch von Golgatha nachdenken und predigen, dann darf man nicht das Gebet von Gethsemane zu Grunde legen, sondern man muss vielmehr seinen Ausgang nehmen von dem Wort des Herrn an Petrus: „Stecke dein Schwert in die Scheide; soll ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater gegeben hat?“

Nicht Furcht vor dem äußeren Leiden, das seiner harrte, hat den Heiland in Gethsemane geängstigt, sondern, so lässt eine dritte Deutung sich vernehmen, Furcht vor dem Judaskuss, Grauen vor der heuchlerischen Berührung dessen, der sein Brot gegessen und ihn nun mit Füßen trat. Und gewiss schauderhafter, viel schauderhafter als aller Spott und alle Marter, die der Heiland von Kaiphas, Herodes und Pontius Pilatus, die nicht seine Jünger waren, erdulden musste, war jenes schlangenglatte Wort: „Gegrüßt seist du Rabbi,“ mit welchem Judas Ischariot, d. i. Mann der Lüge, der sein Jünger gewesen war, für dreißig elende Silberlinge seinen Herrn und Meister den Feinden verriet. Den Heiland nicht kennen und lästern, ist schlimm, aber noch lange nicht so schlimm, als den Heiland kennen, vom Heiland Gnaden empfangen haben und ihn verraten. So geben wir zu, dass bei unserm Herrn auch das Grauen vor dem Judaskuss gewaltiger gewesen ist, als das natürliche Grauen, das seiner heiligen Menschheit vor dem Tode innewohnte. Ist es doch so schon bei sündigen Menschen, wenn noch von menschlichem Adel irgendetwas in ihnen lebt, dass das Herzeleid, das ihnen von Kindern, Gatten, Freunden kommt, sie viel mächtiger anfasst und erschüttert, als die größte leibliche Qual. Ihr kennt das berühmte Wort des sterbenden Cäsar: Auch du, mein Sohn Brutus? Die Erfahrung eures Lebens zeigt euch auch vielleicht irgendeine liebende Mutter, die unter hundert Trübsalen und Sorgen sich aufrecht erhielt, bis ihr über das freche Betragen eines verlorenen Sohnes das Herz brach. Dennoch was in Gethsemane sich begibt, ist viel zu groß, ist viel zu feierlich, ist viel zu weh, als dass es aus dem Schauder des zitternden Zartgefühls Christi vor dem bevorstehenden Judaskuss erklärt werden könnte; und, was die Hauptsache ist, die Evangelien lassen sehr deutlich erkennen, dass der Heiland das Durchkämpfen seines Schmerzes über den Verrat schon hinter sich hatte, als er nach Gethsemane ging. Als er noch mit den Seinigen in dem gepflasterten Saale zu Jerusalem beim Ostermahle saß, da, so erzählen sie uns, da ward Jesus betrübt im Geist und zeugte und sprach: Wahrlich wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten. Man hat diese Betrübnis des Herrn über Judä Verrat, wie sie ihn noch im Abendmahlsaal ergriff, die Passion seines Geistes genannt und mit Recht, wie sein Leiden auf Golgatha die Passion seines Leibes ist. Nun was sich in Gethsemane begab, wie es nicht Furcht war vor der leiblichen Passion, die noch bevorstand, so war es auch nicht Wiederholung der Passion des Geistes, die der Herr schon hinter sich hatte, sondern es war eine Passion für sich.

2.

Es war die Passion seiner heiligen Seele. Und wie wir sie zu deuten haben, das ist nun der zweite, der Hauptpunkt unserer heutigen Betrachtung.

Es war eine Passion für sich, die Christus Jesus, unser Herr, in Gethsemane erduldete; der Kelch von Gethsemane war ein besonderer, einzigartiger, dem Herrn eben nur in Gethsemane zum Trinken dargereichter Kelch - das lassen die evangelischen Berichte selbst zum Händegreifen klar erkennen. Ist es möglich, so gehe dieser Kelch von mir vorüber; mein Vater, ist es nicht möglich, dass dieser Kelch von mir gehe, ich trinke ihn denn; so geschehe dein Wille; dieser Kelch, dieser Kelch, so betet der Herr, zum Zeichen, dass er ein ungeheures Leiden meine, das eben in den Augenblicken von Gethsemane selbst ihn ergriffen hat und welches ihn umwogt, während er betet. Besonders beweisend aber für ein in Gethsemane selbst den Herrn bedrängendes Leiden ist der Ausdruck, dessen Markus sich bedient, wenn er sagt, dass der Herr betete, dass, so es möglich wäre, die Stunde vorüberginge; denn damit ist doch eben gesagt, dass der Heiland betete nicht um Abwendung eines ihm erst drohenden Leidens, sondern um Verkürzung, wenn es sein könne, eines in der Gegenwart von ihm aufs allerschmerzlichste empfundenen Leidens. Dass aber diese Passion für sich, die dem Herrn in Gethsemane überkam, eine Passion seiner Seele war, geht aus den evangelischen Berichten aufs bestimmteste her „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod,“ so spricht der leidende Erlöser selbst; und die Ausdrücke, deren sich die Evangelisten bedienen, dass der Heiland in Gethsemane getrauert und gezagt, geschaudert und gebebt habe, sprechen alle für unheimliche Empfindungen der Seele des Herrn. Wenn aber zugleich uns erzählt wird, dass der Heiland in Gethsemane körperlich gelitten, dass er nämlich Schweiß vergossen habe gleich herabfallenden Blutstropfen, so spricht diese Bemerkung des Evangelisten Lukas, der ein Arzt war, nicht gegen, sondern auch nur für eine Passion der Seele; denn dass der große Schmerz der Seele sich auch leiblichen Ausdruck gibt, ist allgemeine Erfahrung. Angstschweiß vergießen ja auch andere Geplagte, wenn ihre Seele sich windet unter Schmerzen; und was speziell den Blutschweiß anbetrifft, so wird uns von dem Könige der Bartholomäusnacht, Karl IX. ganz Ähnliches berichtet, dass er auf seinem Sterbebette unter den entsetzlichsten Gewissensqualen blutigen Schweiß vergossen habe. Der Kelch von Gethsemane bedeutet die Seelenpassion des Erlösers, so lautet der Oberabsatz der richtigen Deutung unseres Schriftabschnittes.

Diese Seelenpassion war, wie die ganze Passion des Herrn, vom Vater verhängt: das liegt in dem, dass der Heiland sie einen Kelch genannt, den ihm der Vater zum Trinken gereicht und den der Vater allein von ihm nehmen kann. Diese Seelenpassion war mit geheimnisvollen Einwirkungen der höllischen Mächte verbunden: das beweist der Schlaf der drei Jünger in Gethsemane; wahrlich so schwach die Jünger waren, so hätten doch nimmermehr ein Jakobus, ein Johannes, ein Petrus zumal in dieser Leidensstunde, wo ihr geliebter Meister sie so dringend um ihr Wachbleiben bat, sie hätten nicht einschlafen können, wenn nicht dämonische, geisterhafte Vorgänge überwältigend auf ihr Fleisch eingewirkt hätten. Übrigens hatte auch der Herr vor seinem Eintritt in Gethsemane mit unmissverstehbarer Klarheit gesagt: „Es kommt der Fürst dieser Welt und hat nichts an mir; aber auf dass die Welt erkenne, dass ich den Vater liebe und ich also tue, wie mir der Vater geboten hat, steht auf und lasst uns von hinnen gehen!“ Diesem Ausspruche des Herrn wird man nicht gerecht, wenn man sich den Satan nur in seinen Werkzeugen, in Judas und den hohen Priestern und Kriegsknechten gegen Christum geschäftig denkt, sondern dies Wort weist hin auf ein neues Herantreten des Versuchers an Christum in Gethsemane, wie einst in der Wüste. „Christus und der Satan,“ hat Jemand gesagt, „das sind die eigentlichen Faktoren der Weltgeschichte; alles Andere, so breit es sich auch machen mag, so sehr es die Augen der kurzsichtigen Welt auf sich zieht, ist nur Beiwerk und Werkzeug,“ und Gethsemane, so setzen wir hinzu, war die Hauptwahlstatt dieses weltgeschichtlichen Kampfes. Schrecklich und ganz entsetzlich, diesen Eindruck gewinnen wir alle unmittelbar aus den evangelischen Berichten, war die Seelenpassion des Herrn; schrecklicher und entsetzlicher, als irgendeine andere Trübsal, die je über ihn gekommen; denn selbst am Kreuz auf Golgatha finden wir unsern Herrn nicht von so unheimlichen Empfindungen erschüttert, wie hier in Gethsemane; nur jener einzige Augenblick auf Golgatha, da der Heiland rief: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen,“ lässt sich der Stunde von Gethsemane an die Seite stellen, es ist jener Augenblick ein nachgebliebener Tropfen aus dem Kelche dieser Stunde. Ganz allein, auch das ist ersichtlich, muss der Herr seine Seelenpassion durchkämpfen; selbst die drei treusten Jünger können nicht einmal mit ihm wachen, die Andern aber hat er selber absichtlich fern gehalten.

Ihr sagt, dies Alles sei nun aber doch nur eine äußere Beschreibung des Kelches; ihr fragt, was es denn nun eigentlich gewesen sei, was die Seele des Herrn aus diesem Kelch getrunken habe. Ihr werdet euch, Geliebte, selber die Antwort geben, wenn ihr an solche Schriftstellen denkt: Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht; fürwahr er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Was unsere Seelen, was aller Sünder Seelen um ihrer Sünde willen in Ewigkeit hätten dulden müssen, das hat die Seele des Menschensohnes an unserer statt in Gethsemane erduldet, auf dass Alle, die an ihn glauben, sich auf ihn berufen können und sprechen:

Mein Siegeskranz ist längst geflochten
Und nichts mehr für mich abzutun;
Seitdem der Held für mich gefochten,
Darf ich in Friedenszelten ruhn. 3)

Was aber hätten wir denn an unseren Seelen in Ewigkeit dulden müssen, wenn es kein Gethsemane gäbe? Ach, die höllische Qual, sie lässt sich in zwei Worte fassen: Abgeschnittensein von Gott, Hingegebensein in die Gemeinschaft der satanischen Mächte. Das war der bittere Trank des Kelches von Gethsemane für unsern Heiland und Bürgen, dass der Zorn Gottes und die Anfechtungen der Hölle wie Sturzwellen sich über seine heilige Seele ergossen, dass seinem Gefühle der Himmel in namenlose Ferne und die Hölle in namenlose Nähe rückte. „Es lag,“ so erklärt Melanchthon, „in Gethsemane der Sohn Gottes hingestreckt vor dem ewigen Vater und schmeckte den Zorn Gottes gegen deine und meine Sünde.“ Wir haben uns dabei die Fülle des göttlichen Lebens und den Beistand, den sonst seine menschliche Natur von der göttlichen zu genießen hatte, so zurückgezogen als möglich zu denken; der Gottmensch war ja von dem Tage von Bethlehem an immer und wird in alle Ewigkeit sein wahrhaftiger Mensch von der Jungfrau Maria geboren, aber nie ist er's so sehr gewesen, als in Gethsemane, so sehr, dass sein menschlicher Wille zwar nicht in Widerspruch mit dem göttlichen Willen geriet, aber doch für sich selbst heraustrat, freilich um sich sofort in den Willen des Vaters hinzugeben. Der Mensch im Gottmenschen fühlte in der Stunde von Gethsemane, wie später noch einmal in dem Einen Moment von Golgatha, was David im 22. Psalm zuvor geklagt hatte aus der Seele des leidenden Gerechten: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ebenso fern aber, wie der Seele Christi in Gethsemane das Gefühl der Gottgemeinschaft trat, ebenso nahe trat ihm das Gefühl der Satansnähe; seine Seele zagte unter den legten, wütendsten Angriffen des Höllenreichs auf ihn; hatte der Versucher in der Wüste des Heilands Seele zu erobern gesucht, durch die Lust der sündigen Welt, so suchte er in Gethsemane seine Seele zu zermalmen durch ihre ewige Last, durch ihren ewigen Gram. Siehe da, der Kelch von Gethsemane ist der Kelch des göttlichen Zorns und des dämonischen Grams.

So wundert ihr euch denn nicht mehr, Geliebte, dass unter dem Trinken dieses Kelches den Heiland ein Schaudern ergreift; er hätte ja nicht Gottes Sohn sein müssen, wenn er das Gefühl des Verlassenseins von Gott mit Seelenruhe hätte tragen können; er hätte ja nicht der heilige Menschensohn ohne Makel und ohne Sünde sein müssen, wenn die feurigen Pfeile des Bösewichts, die in Gethsemane ihn umschwirrten, ohne fürchterlichen Eindruck auf ihn geblieben wären. So wundert ihr euch auch nicht mehr, dass der Herr betet: „Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch, so gehe diese Stunde vorüber;“ im Gegenteil, ihr müsst ihn bewundern und preisen, den großen Versöhner der Welt, dass er den bitteren Kelch, den er an unserer statt leert, so menschlich trinkt und doch so heilig so menschlich, er, der nie gezagt, zagt, als seinem Gefühl Gott ferne tritt und der Satan nahe, wahrhaftig das ist die echteste Menschlichkeit, die Alles, Alles tragen kann, ruhig tragen kann, nur das Eine nicht, das Geschiedensein von Gott, nur das Andere nicht, das Begrüßtwerden von der Hölle; das ist ja kein Mut mehr, meine Lieben, wenn man trotzt: Was mach ich mir aus Gott? Das ist frevelhafter Übermut; das hat ja keinen Sinn mehr, meine Lieben, wenn man als ein Held in die Hölle fährt, wie jener Jul. Cäsar Vanini, der sterbend die erblassten Lippen noch zu einem Hohnlächeln zwang und sagte: „Der Nazarener hat sich in Gethsemane gefürchtet, ich aber sterbe ohne Furcht,“ das hat keinen Sinn mehr, das ist atheistischer Wahnsinn. Menschlich hat unser Heiland den Kelch von Gethsemane getrunken, so menschlich und so heilig; ist ihm jedes selige Gefühl entschwunden, eins ist ihm nicht entschwunden, nie entschwunden, das ist der Glaube an seinen Vater und an den ewig guten Rat seines göttlichen Waltens; in nacktem Glauben klammert er sich an seinen Gott und Vater an; und tritt ihm dieser Gott und Vater auch noch so ferne, doch lässt er ihn nicht, „Vater“, ruft er in Gethsemane, „mein Gott, mein Gott“, ruft er auf Golgatha; und ist der menschliche Wunsch, aus dieser entsetzlichen Spannung und Beengung bald, bald herauszukommen, so betet er dennoch: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe, Vater, wie du willst!“ Ach, wollte Gott, wir lernten unserm Heiland von diesem seinem frommen Dulden seines unnennbaren Wehs nur etwas ab für das Tragen unseres viel kleineren Wehs, dass wir auch da glaubten, wo wir nichts sehen, dass wir in unsern dunklen Stunden unser Vertrauen nicht wegwerfen, dass wir in der größten Trübsalshitze bei dem Einen blieben: Herr, ich laffe dich nicht, du segnest mich denn. So hat Christus, der Herzog unserer Seligkeit, gerungen, so hat er gekämpft und gebetet in Gethsemane; und der Apostel belehrt uns Hebr. 5: Christus hat in den Tagen seines Fleisches Gebet und Flehen mit starkem Geschrei und Tränen geopfert zu dem, der ihm vom Tode konnte aushelfen, und ist auch erhöret, darum, dass er Gott in Ehren hielt. Gott hat ihm nicht ausgeholfen vom leiblichen Tode, Christus ist ja vielmehr am andern Tage für uns gestorben am Kreuze; aber Gott hat ihm ausgeholfen von dem geistlichen Tode, der hier in Gethsemane auf seiner Seele um unsertwillen ruhte; er hat ihn gestärkt durch einen Engel vom Himmel, er hat den Versucher aus Gethsemane geworfen.

Der Kelch von Gethsemane war geleert, Christus Jesus ging aus dem Keltergarten vollendet hervor und ist kraft seiner stellvertretenden Passion geworden Allen, die ihm gehorsam sind, eine Ursache zur ewigen Seligkeit, also dass wir sagen dürfen: Mein Heiland hat den Kelch des Zorns geleert; mir ist der Kelch der Wonne nun beschert.

Gethsemane es birgt eins der tiefsten Geheimnisse des Evangeliums, der Weltgeschichte. Wir weisen alle Lichtlein, mit denen sich die Weisheit dieser Welt die Nacht von Gethsemane zu erhellen sucht, ab; wir halten fest, dass nur Augen der Buße und des Glaubens in dies Geheimnis schauen können. Je tiefer unsere Buße, je einfältiger unser Glaube, desto goldener wird uns von dem Kelche von Gethsemane die Inschrift in die Augen leuchten: Fürwahr, er trug unsere Krankheit! Amen.

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