Quandt, Emil - Gethsemane und Golgatha - 2. Die Stunde von Gethsemane
Ev. Matth. 26,40
Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend, und sprach zu Petro: Könnet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?
Es ist menschlich für uns Menschen, dass wir für die Feier der großen Tatsachen der Welt-Erlösung bestimmte Zeiten festsetzen und inne halten, dass wir das Wunder von Bethlehem in der Weihnachtszeit, die Erscheinung des Messias unter seinem Volk und für die Heiden in der Epiphaniaszeit, das Leiden des Herrn in der Passionszeit, seine Auferstehung in der Osterzeit, die Ausgießung seines Geistes in der Pfingstzeit feiern. Denn wir sind Kinder der Zeit und darum nicht nur in unserm Tun und Treiben, sondern auch in unsern religiösen Feiern an die Zeit und Zeiteinteilung gebunden. Ein Jegliches hat seine Zeit, sagt der weise Salomo, und dieses Wort gilt nicht nur für das bürgerliche, es gilt auch für das kirchlich-geistliche Leben. Ihr würdet es Alle als ein Missklang empfunden haben, wenn ich heute die Nummer eines Weihnachtsliedes hätte an die Tafeln schreiben lassen; so schön unsre Weihnachtslieder sind, sie passen nicht in diese Zeit; in diese Zeit passt nur eben so ein Lied, wie: „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld der Welt und ihrer Kinder;“ denn es ist eben Passionszeit. Und o ein treuer, ein langmütiger Gott, dass er seiner Christenheit diese stille, feierliche Zeit, die dem Andenken der heiligen Passion Jesu Christi gewidmet ist, durch alle Jahre der erlösten Welt unverrückt erhalten hat. So sehr sich auch der böse Feind bemüht hat, diese feierliche Gedächtniszeit aus der Christenheit zu verbannen, so sehr die Christen selbst an vielen Orten durch allerlei Ausgelassenheit, die sie bei Annäherung dieser Zeit ausüben, den Zorn Gottes gereizt haben, dass er uns die Predigt von dem Leiden seines Sohnes längst zu gerechtem Gerichte hätte teuer machen oder gar wegnehmen können: so funkelt doch der Name des Lammes Gottes, das der Welt Sünde trägt, auch in diesem Jahre noch der anbetenden Gemeinde! Und o ein barmherziger Gott, der in jeder neuen Passionszeit aus den alten Quellen neue Wasser des Segens sprudeln lässt, der seine armen Herolde bei jeder neuen Überdenkung der großen Geheimnisse von Gethsemane und Golgatha mit neuem Licht und neuer Salbung begnadigt, der in jedem neuen Jahre müdgeweinten Seelen unter den Flügeln des leidenden Immanuel Zuflucht, Trost und Frieden schenkt!
Blut'ge Leiden meines ein'gen Freundes,
was hat mein Herz an euch,
Wenn es euch betrachtet; o wie weint es,
Wie zerflossen wird's, wie weich!
Möcht' mir das Gefühl doch nie verschwinden,
Noch mein Geist sich jetzt wo anders finden,
Als auf der geliebten Höh':
Golgatha, Gethsemane!
Aber nicht bloß menschlich ist es für uns Menschen, dass wir für die Betrachtung der Passion Jesu Christi eine besondere Zeit des Kirchenjahres aussondern, sondern es entspricht auch diese unsre Feierzeit einer ganz besonderen Zeit im irdischen Leben des Gottmenschen, eben der Zeit seiner Leiden. Es gehört mit zu der Erniedrigung, der sich der Gottmensch um unsertwillen unterzog, dass er sich dahingab wie in die Schranken des Raumes, so in die Schranken der Zeit. Gott selbst thront hoch über Raum und Zeit auf dem Throne der Allgegenwart und Ewigkeit; er ist das A und das O, tausend Jahre sind vor ihm wie ein Tag, und ein Tag wie tausend Jahre; und Jesus Christus als Gott von Gott in Ewigkeit geboren hat vor seiner Menschwerdung die Schranken des Raumes und der Zeit auch nicht gekannt. Aber indem das Wort Fleisch ward, ward es auch ein Kind der Zeit und lebte sein Erlösungsleben in irdischer Zeitentwicklung, dass auch bei ihm, wie bei unser Einem, die Unmündigkeit ihre Zeit hatte und die Kindheit ihre besondere Zeit und die Jugend und das Mannesalter auch ihre Zeit. Gott sei Dank, es ist ja keine leere Redensart, sondern die reellste Wirklichkeit, dass der Sohn Gottes seinen Brüdern, ausgenommen die Sünde, allerdinge gleich geworden ist, auf dass er barmherzig würde und ein treuer Hoherpriester vor Gott, zu versöhnen die Sünde des Volks. Er selber hat in den Tagen seines Fleisches sein irdisches Gebundensein an Zeit und Stunde oft und nachdrücklich ausgesprochen, sowohl im Allgemeinen, wenn er von den zwölf Stunden seines irdischen Tages sprach, wenn er sagte: „Ich muss wirken die Werke des, der mich gesandt hat, so lange es Tag ist, es kommt die Nacht, da Niemand wirken kann“ als in besonderen Fällen, wenn er zur unzeitig drängenden Maria sagte: „Weib, was habe ich mit dir zu schaffen? Meine Stunde ist noch nicht gekommen“ wenn er zu seinen ungestümen Verwandten sagte: „Geht ihr hinauf auf das Fest, ich will noch nicht hinaufgehen auf das Fest, denn meine Zeit ist noch nicht erfüllt.“ So hatte denn auch seine Freude ihre bestimmte Zeit und Stunde auf Erden; ja doch, auch Freudenstunden hat der Erlöser gehabt hienieden - war nicht die Hochzeitsstunde von Cana eine fröhliche Stunde, da er fröhlich war mit den Fröhlichen? Freute er sich nicht im Geist, als die Jünger wiederkamen und sprachen: Herr, es sind uns auch die Teufel untertan in deinem Namen! Und so hat denn auch seine Passion ihre bestimmte Zeit gehabt, und wenn auch in gewissem Sinne die ganze Erdenzeit des Heilandes eine Leidenszeit war, so ist doch die letzte Woche seines irdischen Lebens im besonderen Grade seine Passionswoche gewesen, so ist doch seine letzte Nacht und sein letzter Tag am leidenvollsten gewesen. Und dieser seiner Leidenszeit am Ende seines irdischen Lebens entspricht nun eben die Passionszeit, die wir in dankbarer und andächtiger Erinnerung feiern.
Wir feiern aber diesmal die Passion des Herrn, ihr wisst es, im besonderen Hinblick auf Gethsemane. Wir haben voriges Mal die Örtlichkeit von Gethsemane ins Auge gefasst, wir betrachten heute:
die Stunde von Gethsemane;
sie ist
1) des Heilandes bängste Stunde, und
2) seine längste Stunde.
Leidender Jesus, suche dir auch heute Seelen, die dir zur Ehre bekennen, dass sie dein sind und bleiben. Gelobt, geliebt seist du von ihnen, von uns Allen. Amen.
1.
Die Stunde von Gethsemane ist ein Teil der Nacht, da der Herr verraten ward. Diese Nacht zwischen Sonnenuntergang am grünen Donnerstag und Sonnenaufgang am Karfreitag, wir kennen sie von allen Erdennächten des Erlösers am genauesten, wir können ihm in dieser Nacht auf Schritt und Tritt, von Stunde zu Stunde folgen, und wir wissen, dass sie von allen seinen Nächten seine bängste und seine längste war. Ich darf euch nur, Geliebte, an den Wechsel von Szenen und Erlebnissen, von Gedanken und Gefühlen, die in dieser Nacht an dem Heiland vorüberzogen, kurz erinnern; und ihr werdet mir Recht geben: Es war seine bängste, seine längste Nacht. Die Zusammenkunft in dem gepflasterten Saal von Jerusalem, die Fußwaschung, das letzte Essen des jüdischen Osterlammes; des Herrn umwölkte Stirn, seine Warnungen an Petrus und Judas, die Einsetzung der geheimnisvollen Speise des heiligen Abendmahls, seine Reden vom Frieden, den er hinterlasse, vom Heiligen Geiste, den er senden werde; dann sein erhabenes hohepriesterliches Gebet, Joh. 17. dann der Gang über den Kidron ins Keltertal, die Gebetsseufzer hier und der gewaltige Seelenkampf; sodann die Annäherung des Sohnes des Hohenpriesters, der Verrat, die Gefangennehmung, die Flucht Aller, die Verleugnung des Einen; das Privatverhör vor Hannas, die öffentliche Gerichtsverhandlung vor dem hohen Rat, das Schweigen bei allen untergeordneten Anklagen, das große Bekenntnis, die schließliche und förmliche Verurteilung des Alleingerechten zum Missetätertode - das Alles drängt sich in diese Eine Nacht zusammen, das machte sie so bange und so lange! David klagt in einem seiner Bußpsalmen: „Ich bin so müde vom Seufzen, ich schwemme mein Bette die ganze Nacht und netze mit meinen Tränen mein Lager“, aber was ist eine durchweinte Nacht eines armen Sünders gegen das Grauen dieser Nacht des Herrn, da er verraten ward? Hiob, in seinen Lamentationen über das menschliche Elend, ruft aus: „Elender Nächte sind mir viele geworden“; aber was bedeuten alle elenden Nächte der Knechte gegen diese Eine Passionsnacht des Herrn und Meisters? Es ist keine Nacht, wie diese Nacht zwischen dem grünen Donnerstag und Karfreitag;
Dies ist die Nacht der Nächte,
Die Nacht im tiefsten Schmerz;
Es opfert für die Knechte
Der Herr sein eignes Herz.
Den Höhepunkt nun der mannigfaltigen Ereignisse dieser Nacht bildet die Stunde von Gethsemane. Es ist uns zwar nicht mit mathematischer Genauigkeit angegeben, wie lange der Zeitabschnitt gewährt hat, den der Heiland in jener Nacht in dem Garten am Ölberg zugebracht hat; aber teils ergibt sich aus dem Zusammenhang der ganzen Leidenshistorie, dass der Aufenthalt des Herrn in Gethsemane nicht gut einen kürzeren, aber auch nicht einen viel längeren Zeitraum hindurch gewährt haben kann, als eine Stunde; teils berechtigt uns ein Wort aus dem Munde des Herrn selber, die Zeit seines Leidens in Gethsemane als eine Stunde des Leidens aufzufassen, wenn er nämlich zu den schlafenden Jüngern sagt: Könnet ihr denn nicht Eine Stunde mit mir wachen? Eine Stunde; aller Wahrscheinlichkeit nach war es die Stunde der Mitternacht; und diese Mitternacht draußen war der auswendige Rahmen für die Mitternacht drinnen. Die Stunde von Gethsemane war des Erlösers bängste Stunde.
Er hatte schon lange, lange vorher ein tiefes Bangen vor dieser Stunde gefühlt und geäußert. Von seinem Leiden und Sterben am Kreuze redete er immer im Tone der Festigkeit und Ergebung: „Seht, wir gehen hinauf gen Jerusalem, und es wird Alles vollendet werden, das geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn; denn er wird überantwortet werden den Heiden; und er wird verspottet und geschmäht und angespien werden, und sie werden ihn geißeln und töten, und am dritten Tage wird er wieder auferstehen.“ Vor dem äußerlichen Leiden am Kreuz, so groß, so schrecklich es war, hat der Herr sich nicht gefürchtet; im Gegenteil, als Petrus in fleischlicher Gutmütigkeit ihm zurief: „Herr, das widerfahre dir nur nicht!“ hat er ihn streng mit solcher Zumutung abgewiesen: „Du meinst nicht was göttlich, sondern was menschlich ist.“ Aber von der Stunde von Gethsemane hören wir den Herrn mehr als einmal mit Wehmut und tiefem Gefühl reden: „Ich bin gekommen, dass ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, denn es brennte schon! Aber ich muss mich zuvor taufen lassen mit einer Taufe, und wie ist mir so bange, bis sie vollendet werde!“ So sprach der Herr einmal zu seinen Jüngern. Und ein ander Mal im Tempel von Jerusalem rief er: „Jetzt ist meine Seele betrübt, und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde? Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen.“ Es war also gerade des Heilandes sehnliches Verlangen, zu unserer Errettung den Kelch des Vaters zu trinken, doch es war ihm bange und beklommen davor, und er wünschte, dass er erst überstanden wäre. Dünkt euch ein solches Bangen vor der schwersten Stunde des Lebens unwürdig zu sein der göttlichen Größe, die ihr sonst an eurem Heilande wahrnahmt, und scheint es euch den Heiland unter weltliche Helden zu stellen, die auch dem Schwersten, was sie zu erdulden hatten, mit ungebrochenem Mute entgegengingen: so bitte ich euch zu bedenken, ihr Lieben, dass eine Stunde, wie die von Gethsemane, keiner der gerühmten Helden zu durchkosten gehabt hat, und dass überhaupt die Welt nicht durch Heldenmut erlöst werden konnte, sondern nur durch den Gehorsam, den der Sohn Gottes lernte an dem, das er litte.
Es hat dem Sohn Gottes gebangt vor der Stunde von Gethsemane aber was waren diese bangen Vorgefühle gegen die Bangigkeit, die ihn in der Stunde selbst ergriff. O, mein Heiland Jesus Christ, traurig bist du ja öfters gewesen, am Grabe Lazari gingen dir die Augen über Angesichts der Verwesung, in die der Tod die gefallene Menschheit zerrt, und als du vor deinem letzten Einzug in die unheilige heilige Stadt ihre Mauern ansahst, weintest du über sie und sprachst: „Wenn du es wüsstest, so würdest du es auch bedenken zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient; aber nun ist es vor deinen Augen verborgen!“ O du wunderbarer Herr, traurig bist du oft gewesen in einer Welt, die du zu erlösen kamst und die dich verkannte, verhöhnte, verbannte - aber so traurig, so namenlos betrübt als in der Stunde von Gethsemane hab' ich dich nie gesehen, o du, den meine Seele liebt! O, wenn's mein König wäre, mein irdischer Fürst und Herr, von dem ich das hören müsste, dass er anfinge zu trauern und zu zagen - mich würde tiefe Ehrfurcht ergreifen vor dem Schmerz der Majestät. Weinende Majestäten haben etwas tief tragisch Ergreifendes. O wenn's Eines meiner Lieben wäre, Vater, Mutter, Gattin oder Kind, aus dessen Herzen der gewaltige Seufzer an mein Ohr erklänge: „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod!“ - wie würden meine Kniee schlottern und ich würde mein erblasstes Angesicht mit meinen Händen bedecken! Nun aber sehe ich dich, dich trauern und zagen, nun klagst du, du mir, dass deine Seele betrübt ist bis in den Tod, nun liegst du, du wie ein Wurm im Staube und schauderst vor dem bitteren Kelche und betest so heftig, dass du mit dem Tode ringst und dass dein Schweiß wie Blutstropfen von deinem Angesicht auf die Erde tropft, - du, der du mir tausendmal mehr bist und tausendmal näher stehst als Vater, Mutter, Gattin oder Kind, du, der du auch meines Königs König bist und meiner Seele und aller Seelen König, Gott von Gott in Ewigkeit geboren, mein Gott, zu dessen Bilde ich geschaffen bin und auf den ich angelegt bin, wie das Eisenteilchen auf dem Magnet, Gott offenbart im Fleisch mir zu gut, Mensch gewordener Gott, Immanuel, mein Heiland, der mich verlorenen Menschen erlöst hat, erworben und gewonnen, du, du Schönster unter den Menschenkindern, an dem ich so lange blind vorüberging und den ich dann jauchzend erkannt an meinem Tage von Damaskus, und der mir nun schöner, immer schöner geworden ist, mein hochgelobter, heißgeliebter Herr, dessen frommes Bild mich von Jahr zu Jahr gewaltiger gefasst hat, dessen Namensklang Tag und Nacht in meines Herzens tiefsten Gründen klingt du, von dem ich es sonst gewohnt bin, dass die Menschen staunend auf das gewaltige Wort deiner Lippen hören, dass die bösen Geister vor dir fliehen, dass schäumende Wogen vor dir sich ebnen und brausende Stürme vor dir stille werden - du zagst in Gethsemane, dass dir die Kniee wanken und du erschüttert zusammenbrichst, du opferst Gebet und Flehen mit starkem Geschrei und Tränen zu dem, der dir vom Tode aushelfen kann; du wartest, ob es Jemand jammerte, aber da ist Niemand, und auf Tröster, aber du findest keine, denn selbst deine allertreuesten Jünger können nicht Eine Stunde mit dir wachen! Und diese ganze unaussprechliche Angst und Traurigkeit deiner Seele warum kommt sie über dich? Ach, nicht um deinetwillen;
Du bist ja nicht ein Sünder,
Wie wir und unsre Kinder,
Von Missetaten weißt du nicht;
du hättest ja für dich selbst ununterbrochen Freude haben mögen im Himmel, wie du sie hattest von Ewigkeit her!
Sondern um meinetwillen musst du zagen, um meinet- und meines Geschlechtes willen musst du so klagen, dein Blutschweiß ist der Schweiß des Lammes Gottes, das der Welt Sünde trägt, deine Angst ist meine Angst, der gute Hirte leidet für die Schafe. O wunderbare, geheimnisvolle Stunde von Gethsemane, meines Mittlers bängste Stunde, Stunde der Ohnmacht des Allmächtigen dieser Stunde will ich mich getrösten im leidvollen Leben und will immer bedenken, dass ich einen barmherzigen Hohenpriester habe, der menschliche Not und menschliche Betrübnis aus selbsteigenster bitterster Erfahrung kennt und darum Mitleiden haben kann mit meiner Schwachheit; dieser Stunde will ich mich getrösten in meiner Todesstunde, wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein und meinem Jesus trauen, dass er mich reißt aus meinen Ängsten kraft seiner Angst und Pein! Kyrie Eleison! Herr, erbarme dich!
2.
Des Heilands bängste Stunde ist die Stunde von Gethsemane, und auch seine längste. Rasch rann ihm sonst das irdische Leben dahin, und ganz besonders rasch verrannen ihm die letzten drei Jahre, da er gesalbt mit dem heiligen Geist und Kraft umherzog im jüdischen Lande, Worte des Lebens predigend und Wunder der Liebe verrichtend an Kranken und Armen. Auch darin ist der Heiland uns gleich geworden, dass er die Wahrheit des Psalmspruchs an sich erfahren hat: Unser Leben fährt schnell dahin, als flögen wir davon. Er selber nannte es „eine kleine Zeit“, die er unter Israel verlebte, und zu seinen Jüngern sagte er: „Über ein Kleines, so werdet ihr mich nicht sehen“. Aber so rasch sein Lebensgang von Bethlehem bis Golgatha auch war, diese Eine Stunde in Gethsemane ist ihm eine lange, lange Stunde gewesen. Das sehen wir an der großen Unruhe, die wir sonst gar nicht an ihm gewohnt sind, da er auf die Knie fällt und betet, dann zu den Jüngern geht, um zu sehen, ob sie mit ihm wachen, dann wieder zurückkehrt zum Gebet und wieder zu den Jüngern kommt, obwohl sie schliefen, und wieder dann sich auf die Knie wirft; das merken wir besonders an dem Gebet: „Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch von mir“, mit welchen Worten der Heiland recht eigentlich um eine Verkürzung der Leidensstunde von Gethsemane bittet, dass die große Angst, die ihn umfing, bald vorüberginge, dass das finstere Ungewitter, das auf seine Seele stürmte, sich bald verziehen möchte; das merken wir auch aus dem Hochgefühl des Mutes und der Freudigkeit, von welchem wir den Heiland beseelt finden, als die Stunde endlich, endlich vorbei ist; denn da sind alle Wolken weg, da leuchtet wieder die volle, ungebrochene Klarheit von dem Angesichte Jesu Christi, dass er zu seinen Jüngern sprechen kann: Stehet auf, lasset uns gehen, siehe, er ist da, der mich verrät.
So haben wir also einen Heiland, der das auch erfahren hat, wie schrecklich langsam die sonst so eilende Zeit verstreicht, wenn der Jammer und der Kummer sich an die Gewichte der Lebensuhr hängen! Sagt das doch in dieser Passionszeit euren kranken Freunden, die, an das Siechbett gebannt, klagen müssen, dass die Minuten sich ihnen zu Stunden und die Stunden zu Tagen dehnen! Betet doch mit ihnen und lehrt sie ihr Herz ausschütten vor dem Mann zu Gottes Rechten, der irdisches Leben und irdisches Leid nicht bloß aus der erhabenen Perspektive der in seliger Unwandelbarkeit thronenden Gottheit kennt, sondern der es in den Tagen seines Fleisches an sich selber im allerhöchsten Maße erfahren hat, welch' einen trägen, entsetzlich trägen Gang für den Leidenden die Minuten einer Stunde haben. Und stärkt euch selber das Herz an dem Bilde des Mannes von Gethsemane, ihr Dulder unter uns - O ich weiß es ja, es schlägt hier ja manches kummervolle Herz, der Kummer, den man Jedem nennen kann, ist ja der größte noch nicht, im Gegenteil, so lange das Leid noch geschwätzig ist, so lange ist es noch nicht groß, stummes Leid ist größeres Leid.
O ihr stummen, verschwiegenen Dulder unter uns, die ihr am Tage arbeitet und betet wie die Andern, und abends, wenn die Andern zu Bette sind, im Stillen seufzt: „Ach du Herr, wie so lange!“ und morgens, wenn die natürliche Nacht vorüber ist, sofort wieder der Nacht eures stillen Kummers eingedenk seid und die Tränen unterdrückt, unter denen ihr fragt: „Hüter, ist die Nacht schier hin?“ teure Brüder und Schwestern, die es trifft, denkt an Gethsemane! Ihr habt einen Heiland, der's euch nachfühlt, wie euch zu Mute ist; kann und darf er euch euer Leiden nicht nehmen, nicht verkürzen, so wird er euch doch herzlich gern irgendeinen Engel des Trostes senden, wie ihm der Vater solchen Engel sendete in die lange, lange Stunde von Gethsemane. Endlich, endlich aber wird auch für euch die finstere Wolke verschwinden, wie sie ihm verschwand, dass man an eurem Grabe sagen darf: „Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben.“
Aber dass ihr nur nicht meint, meine Lieben, damit erschöpfe sich die Stunde von Gethsemane als die längste Stunde im Erdenleben des Herrn, damit, dass sie dem Herrn so träge, so langsam verronnen. O nein, in einem viel tieferen, viel gewaltigeren Sinne noch ist die Stunde der Nacht am Ölberg die längste Stunde Christi. Wenn wir doch die Stunden eines Menschenlebens mit dem meisten Recht die längsten nennen dürfen, in welche am meisten die Ewigkeit hineinragt, die darum den größten Inhalt und Gehalt haben und von denen die dauerndsten Wirkungen ausgehen, so gebührt der Stunde von Gethsemane unter allen irdischen Stunden des Erlösers um deswillen der allerhöchste Preis, weil er in dieser Stunde an sich durchlebt hat, was die Strafe und der Schmerz für Ewigkeit ist, weil er in dieser Stunde das Größte geleistet hat, was je unter der Sonne geleistet worden ist, weil die heilbringenden Wirkungen dieser Stunde bis zu dieser Stunde fortdauern und fortdauern werden bis in die Zeit ohne Zeit. So war von dem ganzen Leben Luthers offenbar die längste und bedeutendste Stunde jene Stunde des 31. Oktober 1517, in welcher er seine Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche schlug, denn in dieser Einen Stunde lag die Bedeutung des ganzen Lebens Luthers, in dieser Einen Stunde lag die ganze Reformation und die ganze neuere Weltgeschichte im Keime. Aber was ist der Reformator gegen den Heiland, was ist die Abendstunde des 31. Oktober gegen die Nachtstunde von Gethsemane? In dieser Heilandsstunde konzentriert sich das ganze Heilandsleben; es war die Stunde, in welcher die Balken des heiligen Tempels seiner Seele die Sünden der Welt nicht nur trugen, was sie immer getan, sondern unter der ungeheuren Last krachten und bebten und doch nicht brachen; es war die Stunde, in welcher er in unsre Fußstapfen getreten, bis in die Angst des Todes hinabstieg, damit er uns seinen Fußtapfen nach zum Leben zurückführe; es war die Stunde, in welcher der Heiland um unsertwillen das Gefühl der äußersten Unseligkeit durchkostete, auf dass er uns erwürbe Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit. Die Stunde von Gethsemane, es war die Stunde, in welcher der Heiland, der immer gehorsam gewesen, seinen Gehorsam vollendete, in welcher sein menschlicher Wille gänzlich und blindlings einging in den Willen des Vaters, hindurch durch alle Hindernisse und Anfechtungen, in welcher der, der sich auf Golgatha selber zum Opfer darbrachte, die Funken der Opferwilligkeit trotz der rauschenden Ströme übermenschlicher Versuchungen zur hellen, lodernden, unauslöschlichen Flamme anfachte. Die Stunde von Gethsemane, es ist die längste Stunde des Lebens Christi; denn Christus trug in ihr den Zorn Gottes, der um unserer Sünden willen auf uns hätte lasten müssen ewiglich. Und gleichwie die Sünde eines Menschen, sei sie auch nur von einer kurzen Zeit umspannt, ewige Strafe verdient, weil sie begangen wird gegen Gott, das ewige Gut, so ist das Leiden Christi in Gethsemane, obwohl nur eine Leidensstunde, doch von unendlichem Verdienst und ewigem Wert, weil der, der in dieser Stunde litt, der wahrhaftige Gott im Fleische, das ewige Gut selber ist.
Unser Herr ist längst aus der Angst und dem Gericht dieser Stunde entnommen aber wer will nun dieser seiner Lebensstunde Länge ausreden? Wer zählt sie all', die Tausende und Abertausende von Seelen, die der Herr sich durch diese Stunde erworben hat; wer zählt die Lebendigen, die zum Leben gekommen sind durch die Angst von Gethsemane, die Sterbenden, die sich unter ihrem Todesschweiß getröstet haben mit dem Blutschweiß ihres Erlösers? Wer zählt nun die gläubigen Predigten alle, die nun in bald neunzehnhundert Jahren über jene Stunde sind gehalten worden zur Stärkung und Erbauung der Seelen und des Volkes? Wer zählt die goldenen Lieder alle, die in allen Sprachen der christlichen Welt gesungen worden sind nach der Einen Melodie:
Für uns ging mein Herr in Todesnöten
In Gethsemane hinein,
Wo wir ihn hör'n weinend für uns beten
Auch um unser Seligsein!
Für uns überfiel ihn Todesschauer,
Unser Heil ward seiner Seele sauer,
Für uns ist er im Gebet
Bald erblasset, bald erröt't.
Und nun unter Gebet, Gesang und Predigt ragt die bange, lange Schmerzensstunde unseres Herrn auch in diese unsere Sonntagsstunde hinein, beides mit ihrem tiefen Ernst und mit ihrem süßen Trost. Das ist der bittere Ernst, mit welchem die Stunde von Gethsemane unsere Seele füllt. Wenn unser Mittler und Bürge die Sünde der Welt mit solcher Angst über alle Angst, mit solchem ungeheuren Zittern und Zagen hat büßen müssen, wie schwer muss dann die Schuld unserer Sünde vor Gott wiegen! Ihr sagt, dass Jeder seine Schwächen hat, dass wir alle unsere Fehler haben. Aber wahrhaftig, das ist zu wenig gesagt; ein paar Schwächen und Fehler des Menschen erklären die Todesangst am Ölberg nicht. Ihr sagt: wir sind allzumal Sünder, ja, setzt nur hinzu, verlorene und verdammte Sünder; ach hättet ihr bisher noch daran gezweifelt, der Anblick eures Mittlers und Bürgen in Gethsemane muss euch den letzten Zweifel nehmen, aus der Größe der Trauer eures Jesus mögt ihr schließen, wie abscheulich die Sünde sein muss, welche den gerechten Gott gegen euren Stellvertreter zu solcher Strafe gereizt hat. Das aber ist der selige Trost, den die Stunde von Gethsemane dem Mühseligen und Beladenen mit ins Herz und mit nach Hause gibt: So groß, so riesengroß unsre Schuld ist, sie ist durch die Huld des Mittlers ganz und vollständig gebüßt; durch seine unermessliche Angst hat der Heiland auch die unermesslichste Schuld gesühnt. Glauben wir an den Namen Jesu, so kann uns keine Anklage mehr treffen, so können wir im Weltgericht getrost unser Haupt erheben. Gott ist nicht ungerecht, dass er eine Schuld, die sein Sohn mit so unnennbarer Angst und Traurigkeit gebüßt, noch einmal von uns fordern sollte.
Vor der Hölle Weh
Schützt Gethsemane;
Wenn im Weltgericht
Mich der Tod anficht,
Lehn' ich still mich an
An den Schmerzensmann!
Vor dem ew'gen Weh
Schützt Gethsemane!
Die Stunde von Gethsemane sie ist des Heilandes bängste Stunde und seine längste Stunde. Leidvoll wie keine andere für den Heiland, ist sie doch freudvoll für Alle, die an ihn glauben. Vergessen wir je dieser Stunde, so werde unsrer Rechten vergessen. Amen.