Quandt, Emil - Gethsemane und Golgatha - 1. Die Örtlichkeit von Gethsemane.
Ev. Matth. 26, 36.
Da kam Jesus mit ihnen zu einem Hofe, der hieß Gethsemane, und sprach zu seinen Jüngern: Setzt euch hier, bis dass ich dorthin gehe und bete.
Es gibt eine zwiefache Art gläubiger Betrachtung der Passion Jesu Christi. Die gewöhnliche Art ist die, da man die mannigfaltigen Gemälde, die der Heilige Geist in den vier Evangelien von dem Leiden und Sterben des Heilandes uns gegeben hat, der Reihe nach, eins nach dem andern, andächtig betrachtet. Jede neue Passionspredigt führt die Gemeinde zu einer neuen Station des Leidens Christi, an jedem Tage liest man sich zu Hause einen neuen Passionsabschnitt aus der Schrift und etwa eine erbauliche Auslegung desselben dazu aus einem der vielen köstlichen Erbauungsbücher, die von Menschen Gottes für die Passionszeit und ihre gottselige Benutzung geschrieben sind. Dass in dieser Art ein großer geistlicher Segen liegt, das werden, will's Gott, nicht Wenige aus unsrer Mitte kraft eigner vieljähriger Erfahrung bezeugen können. Dass in dieser Art auch eine Gefahr liegt, sei nur angedeutet: es ist bekannt, dass Reisende, die zu viel sehen wollen, oft über dem Vielen das Einzelne nicht recht auskaufen.
Eine andere Art gläubiger Versenkung in die Lehre der Schrift von Christi weltversöhnender Passion ist die, dass man die ganze Passionszeit eines Jahres dazu verwendet, eine einzige von den Passionsgeschichten der Schrift herauszugreifen, es mit ihren einzelnen Worten, Versen und Winken recht genau zu nehmen, über ihren Inhalt wieder und immer wieder zu sinnen, zu beten, zu danken, ihren Duft, als einen Geruch des Lebens zum Leben, so ganz und voll als möglich einzuatmen, ihre Sprache mit allem Fleiß ins eigne Leben und Lieben zu übersetzen. Es entspricht diese Art der Weise eines Liebhabers der Malerei, der, während andere in einer Gemäldegalerie von einem Bilde nach flüchtigem Besehen zum andern eilen, wie angewurzelt vor einem und demselben Hauptbilde betrachtend und genießend und kein Ende findend stehen bleibt. Nach dieser zweiten Art wollen wir verfahren.
Der verlesene biblische Abschnitt hat dasjenige Gemälde, dem wir unsre fortlaufenden Betrachtungen diesmal widmen wollen, vor euren Augen bereits aufgerollt. Es ist das Bild von Gethsemane. Es ist der schönsten und ergreifendsten eines; es ist, nächst dem heiligen Bilde von Golgatha, das erhabenste Passionsgemälde. Der Missionar Beck hatte es einmal den heidnischen Grönländern vorgemalt mit den Worten unseres Textes; da rollten einem der armen Eskimos, Kajarnak war sein Name, heiße Tränen über seine Wangen, und er rief mit wallender Bewegung: „Wie war das? Sage mir das noch einmal! Ich möchte gern auch selig werden!“ Der christliche Sänger Albert Knapp aber sang über das Passionsbild von Gethsemane das schöne Lied:
Eines wünsch' ich mir vor allem Andern,
Eine Speise früh und spät;
Selig lässt im Tränental sich's wandern,
Wenn dies Eine mit uns geht;
Unverrückt auf Einen Mann zu schauen,
Der mit blut'gem Schweiß und Todesgrauen
Auf sein Antlitz niedersank
Und den Kelch des Vaters trank.
Möge uns das Bild dieses Mannes mit blut'gem Schweiß und Todesgrauen in dieser ganzen Passionszeit umschweben, sonderlich so oft wir uns hier im Hause Gottes versammeln; möge der Heilige Geist das Bild von Gethsemane, so oft wir es hier in Andacht betrachten werden, in seiner rechten himmlischen Beleuchtung uns schauen lassen.
Unsre erste Betrachtung wird eine einleitende sein; wir wollen uns heute die Örtlichkeit ansehen, in welcher unser Herr und Heiland die Passion seiner Seele erduldet hat. Da über dem gesamten Leiden Christi, über dem Größten wie über dem Kleinsten, das mit demselben zusammenhängt, die speziellste Vorsehung Gottes gewaltet hat, so werden wir wohl tun, vor der Betrachtung der heiligen Rätsel von Gethsemane, Gethsemane selbst in Augenschein zu nehmen.
Die Örtlichkeit von Gethsemane.
betrachten wir heute, und fassen ins Auge, dass Gethsemane ist
1) ein Keltertal;
2) ein Garten;
3) ein Asyl.
Wo Du hingehst, mein Heiland, da will ich auch hingehen, wo Du bleibest, da bleibe ich auch. Amen.
1.
Es war am Abend, an welchem der Heiland das heilige Abendmahl eingesetzt hatte. Die Nacht war vor der Tür, die Nacht, in welcher er verraten ward. Da ging der Herr hinaus mit seinen Jüngern, hinaus aus der Stadt Jerusalem, deren Kinder er hatte sammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein sammelt unter ihre Flügel, und sie hatten nicht gewollt; er ging hinaus aus Jerusalem und wanderte nach Gethsemane, um hier betend den Kelch des Vaters zu trinken.
Gethsemane war ein Tal am Fuße des Ölberges, über dem linken Ufer des Kidron gelegen. Man zeigt es den Reisenden noch heute, und in demselben acht uralte Ölbäume, die inwendig hohl, mit Steinen gefüllt und gestützt sind; man zeigt die Stätte, wo die Jünger geschlafen haben, und die Stätte, wo Judas den Herrn verriet, welche letztere Stätte nicht nur von den jerusalemischen Christen, sondern auch von den Türken als eine verfluchte angesehen wird. Dass der Herr für die Nacht seiner Schmerzen ein Tal aufsucht und gerade ein Tal am Ölberg, ist nicht von ungefähr geschehen. Als der Heiland einst seine Herrlichkeit den Jüngern offenbaren wollte, da stieg er mit ihnen nicht ins Tal, da führte er sie vielmehr auf einen hohen Berg; Petrus hat das sein Lebtage nicht vergessen, noch in seinem Greisenalter schreibt er: Wir waren mit ihm auf dem heiligen Berge und haben seine Herrlichkeit gesehen. Auf den Bergen ist der Mensch dem Himmel näher; Bergeshöhen sind die würdigsten Stätten für Offenbarungen himmlischer Herrlichkeit. Dem Ölberge aber war die Offenbarung der höchsten Herrlichkeit vorbehalten, von seiner Höhe aus sollte des Menschen Sohn gen Himmel fahren. Jetzt aber galt es nicht die Himmelfahrt, jetzt galt es eine Höllenfahrt, jetzt sollte der Mittler sich in das tiefste, allertiefste Herzeleid tauchen. Darum geht er jetzt mit seinen Jüngern in die Tiefe, ins Tal, nach Gethsemane am Fuße des Ölbergs. Das tiefe Tal passt sich fürs tiefe Leid, das Tal am Fuße des Ölbergs passt sich für die geistliche Höllenfahrt dessen, der von der Spitze des Ölbergs einst seine Himmelfahrt halten sollte. So hat Christus Jesus Beides geweiht, Berg und Tal, Höhe und Tiefe, Herrlichkeit und Herzeleid; so hat er die Gegensätze des Lebens unter dieser Sonne in gewaltigster Weise an sich selber durchgemacht; so hoch ist keiner gestiegen wie er, so tief ist keiner erniedrigt wie er. Du aber willst ein Jünger Jesu sein, mein Christ und begehrst immer heitere Bergluft im Leben und beschwerst dich über den feuchten Nebel in des Tales tiefen Gründen? Du tust nicht recht, mein Christ. Der Jünger ist nicht über seinen Meister; er hat uns ein Vorbild gelassen, dass wir sollen nachfolgen seinen Fußtapfen, und seine Fußtapfen führen nicht nur auf Berge der Verklärung, sondern auch in Täler tiefer Erniedrigung. Wenn ihr wandern müsst im dunklen Tal, Christen, beklagt euch nicht; denkt an Gethsemane! Wenn ihr die kummervollen Nächte auf eurem Bette weinend sitzt, Christen, lasst den Mut nicht sinken; euer Herr und Meister hat, ehe er von der Ölbergshöhe gen Himmel fahren konnte, auch erst am Fuße des Ölbergs die Nacht von Gethsemane durchweinen müssen. Christenleben wechselt wie Christi Leben zwischen Berg und Tal, aber dicht neben dem allertiefsten Tal liegt die höchste Höhe, die Ölbergshöhe, die Höhe der Himmelfahrt.
Durch Gethsemane
Geht der Weg zur Höh',
Durch die dunkle Nacht
Geht's zur Tagespracht,
Durch den blut'gen Schweiß
In das Paradeis;
Wohl kommt aus dem Weh
Von Gethsemane.
Gethsemane war ein Tal und zwar ein Keltertal. Der Name Gethsemane bedeutet Ölkelter. Es zieht sich eine ganze Reihe bedeutsamer Namen durch das Erdenleben des Erlösers, ich nenne nur zwei der bekanntesten, Bethlehem und Nazareth. Der Geburtsort des Heilandes heißt Bethlehem, d. i. das Brothaus; es war geziemend, dass derjenige im Brothaus geboren ward, der für alle Welt das Brot des Lebens ist. Der Ort, wo Jesus die meisten Jahre seines Lebens verlebte, heißt Nazareth, d. i. schwaches Reis; es war geziemend, dass derjenige im schwachen Reislein wohnte, der selbst als ein Wurzelschössling aus dem abgehauenen Stamm Isais vorherverkündigt war. So merkt ihr wohl, Geliebte, wenn das Tal, in welchem der Heiland die Nacht seiner Seelenpassion durchlebte, Keltertal heißt, so will uns das auch etwas sagen. Habt ihr wohl einmal Jesaias 63 gelesen? Da fragt der Seher im Geiste den Messias: Warum ist dein Gewand so rotfarben und dein Kleid wie eines Keltertreters? Und der Messias antwortet: Ich trete die Kelter allein, und ist Niemand unter den Völkern mit mir. Es hat diese prophetische Stelle einen doppelten Sinn, einen nächsten, in die Augen springenden, der in die ferne Endzeit, auf den jüngsten Tag geht, wo Christus als der Weltenrichter die Kelter des Zornes treten wird über seine Verächter, und einen tieferen, verborgeneren Sinn, und auf diesen letzten Sinn deutet der Name Gethsemane, Keltertal. „Ich trete die Kelter alleine“ das ist eine von den vielen passenden Unterschriften unter dem Bilde von Gethsemane. Das Tal am Ölberg, es war für den Heiland in der Nacht, da er verraten ward, ein Keltertal, ein Tal, in welchem er alleine die Kelter unermessener Schmerzen treten musste, in welchem er alleine, als der Eine für Alle, aller Seelen ewiges Wehe auf sich nehmen musste, um allen Seelen das ewige Wohl zu erwerben. Wohl nahm er seine treu gebliebenen Jünger mit sich in die Nacht Gethsemanes; doch schon am Eingang des Tales ließ er die meisten zurück, sie waren seinem Schmerze nicht gewachsen, geschweige dass sie ihn hätten trösten können; und wenn er auch in echt menschlichen Gefühlen seine drei vertrautesten Jünger mit unter die Ölbäume nahm, sie haben ihm nicht geholfen, sie haben ihn nicht getröstet - sie sind eingeschlafen. Er trat die Kelter alleine, die Strafe lag auf ihm allein; Sünder, wie wir, leiden in ihren Gethsemanes zeitliche Schmerzen, die sie selber verdient; Er, der Eine Reine, duldete in seinem Gethsemane die ewigen Schmerzen aller Unreinen, aller Sünder. Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Gethsemane! Keltertal! Kein Jammertal auf Erden gleicht diesem Tal; kein Schmerz, der je gelitten ist, gleicht dem Schmerz, der dort gelitten ist; keine Kelter färbt das Gewand so dunkel, wie die Kelter von Gethsemane die Seele Christi färbte. Nächst der ewigen Hölle der Verdammten gibt es keinen peinlicheren Ort der Qual, als Gethsemane, und in diese Qual ist Jesus Christus allein getaucht.
Namenloses Weh
Von Gethsemane,
Da im Keltertal
Aller Seelen Qual
Auf dem Einen ruht,
Dessen Schweiß wie Blut;
Namenloses Weh
Von Gethsemane!
2.
Es wird uns aber in den Evangelien das Tal der Seelenpassion des Mittlers noch eigentlicher und näher bestimmt als ein Garten; Hof, das will sagen Ackerland, nennen die ersten Evangelien das Tal, und Johannes sagt geradezu: Jesus ging hinaus mit seinen Jüngern über den Kidron, da war ein Garten, darein ging Jesus und seine Jünger. Wir haben uns also Gethsemane als einen weiten Talgarten vorzustellen, in welchem nicht nur Ölbäume standen, sondern auch Früchte der Erde wuchsen. Das Gethsemane, das heutzutage den Pilgern bei Jerusalem gezeigt wird, ist ein ummauerter Platz von 150 Fuß Breite und 160 Fuß Länge. Ein Garten ist Gethsemane, und, wisst ihr, welches anderen Gartens Gegenbild? Ach, eines Gartens, den man nicht mehr zeigen kann auf Erden, weil er verloren ist, eines Gartens, dessen Bäume heller grünten, dessen Blumen süßer dufteten, dessen Früchte schneller reiften, dessen Winde milder wehten, eines Gartens, dessen Wonnen die schönsten Erinnerungen der Menschheit bilden, eines Gartens, dessen Verlust der Menschheit schon Millionen und aber Millionen Tränen gekostet hat! Der Garten Gethsemane ist das Gegenbild des verlorenen Paradieses.
Eden und Gethsemane, der Garten des ersten Adam und der Garten des zweiten Adam welch' einen ergreifenden Gegensatz bilden diese beiden merkwürdigsten Gärten der Weltgeschichte! Welch' eine wunderbare Fügung Gottes, dass des Menschensohn in einem Garten erfüllte, was der erste Mensch in einem Garten übertreten, dass Christus Jesus in einem Garten gebüßt, was Adam in einem Garten verschuldet, dass der barmherzige Hohepriester in einem Garten uns schenkt, was der erste Sünder in einem Garten verscherzt hat!
Es war der Wille des gnädigen Gottes, dass der Mensch des Paradieses, die Krone aller Kreaturen, essen sollte von allerlei Bäumen des Gartens, nur nicht von dem einen verbotenen Baum. Wie nahe lag es dem ersten Menschen, diesen Willen seines Gottes zu erfüllen. War er doch Alles, was er war, von Gottes Gnaden, hatte er doch Alles, was er hatte, von Gottes Gnaden, da musste ihn doch die allergemeinste Dankbarkeit schon treiben, Gottes Willen zu erfüllen. Aber nein, mit einer Undankbarkeit ohne Gleichen, mit einem Leichtsinn ohne Grenzen setzt sich der erste Mensch über Gottes heiligen Willen hinweg und die Adams Blut in ihren Adern haben, sie übertreten Gottes Gebote mit derselben Kaltblütigkeit. Aber was der erste Adam im Garten Eden übertrat, der zweite Adam hat's im Garten Gethsemane erfüllt. Von Anfang an war es seine Speise gewesen, den Willen seines Vaters im Himmel zu tun. Es war des Vaters Wille gewesen, dass er aus des Himmels Herrlichkeit in das Elend dieser Welt hinabstiege, und sieh', er hatte gesprochen:
Ja, Vater, ja, von Herzensgrund;
Leg' auf, ich will dir's tragen,
Mein Wollen hängt an deinem Mund,
Mein Wirken ist dein Sagen.
Es war des Vaters Wille gewesen, dass er, der die Kräfte der Ewigkeit in sich trug, dreißig Jahre lang in der Verborgenheit lebte, und siehe, er übte die hochherzige Entsagung, in der Zimmermannswerkstatt zu Nazareth die kräftigsten Jahre seiner Jugend zuzubringen. Es war des Vaters Wohlgefallen, dass er, den Niemand einer Sünde zeihen. konnte, sich taufen ließ mit der Taufe Johannis im Jordan, und siehe, obwohl Johannis wehren wollte, stieg er doch in den Jordan, alle Gerechtigkeit zu erfüllen. Wo er gescholten ward, er schalt nicht wieder; wo man ihn kränkte, er drohte nicht; wo man ihn versuchte, er strauchelte nicht; das ganze Gesetz und die Propheten, er hat sie nie und nimmer aufgelöst, sondern allerwege erfüllt. Da ward er nun am Ende vom Geist in den Garten Gethsemane geführt und ihm geboten, zu essen von dem Baum des Todes; sein heiliges Fleisch, als das Fleisch dessen, der das ewige Leben selber ist, schaudert vor diesem Baum des Todes, dass ihm der Schweiß wie Blutstropfen von seinem Antlitz rann und doch, es war des Vaters Wille, dass der zweite Adam die Frucht des Todes essen sollte; sollte die Welt erlöst werden, so war es nicht anders möglich, als dass der Erlöser sich auch mit dieser Taufe, vor der ihm bange war, taufen ließ. Und er ließ sich damit taufen. „Nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe,“ so rief der Heiland aus dem nächtlichen Garten zum Himmel hinauf. Den Willen Gottes, den Adam im Garten Eden mit lachendem Munde übertreten, hat der andere Adam in Gethsemane blutschwitzend und mit dem Tode ringend erfüllt. Eden Gethsemane, der Garten der Übertretung und der Garten des Gehorsams! Das Essen der verbotenen Frucht im Paradiese war, wie eine Übertretung, so auch eine todeswürdige Schuld. „Welches Tages du davon isst, wirst du des Todes sterben,“ hatte Gott gesagt; und wie er gesagt, so hat er getan; der gefallene Adam und seine Kinder tragen in ihrer Sterblichkeit und Hinfälligkeit das Merkzeichen ihrer Verschuldung. Von Adam auf Kain, vom Vater auf den Sohn, von Kind zu Kindeskind hat sich Adams Schuld vererbt, vermehrt, gehäuft, und es ist der Tod zu allen Menschen hindurchgedrungen, dieweil sie alle gesündigt haben. Es haben die Menschen versucht, die gemeinsame Schuld, die aus dem Garten Eden stammt, zu büßen und zu sühnen. Wie viel Ströme Bluts von Stieren und Lämmern sind zur Sühne der Schuld geflossen, nicht bloß in dem Tempel Jerusalems, sondern auch in den Tempeln Griechenlands und Roms und auch in den schattigen Hainen der germanischen Länder! Aber der Böcke und der Stiere Blut konnte die Gewissen nicht reinigen, konnte der Menschheit nicht den Tod vom Herzen nehmen. Die Schuld, die Adam im Garten Eden auf sich geladen und in die er alle seine Nachkommen verwickelt hat - die heilige Seele des zweiten Adam hat sie gebüßt im Garten Gethsemane. In diesem Garten hat er seine Seele zum Schuldopfer gegeben für die Sünde aller Sünder; in diesem Garten schlugen die Wogen unserer Qual hinüber in sein Herz, da hat er mit seines Herzens Herzeleid gebüßt der Sünder Eitelkeit.
Und so wird denn auch, was im Garten Eden verscherzt war, im Garten Gethsemane der Menschheit wiedergeschenkt - die verlorene Gotteskindschaft, die verlorene Gottwohlgefälligkeit, der verlorene Friede, die verlorene Freude. Es ist wahr, erst auf Golgatha war das Opfer vollbracht, aber Golgatha wäre nichts ohne Gethsemane; dass Christi Opfer ein seelenvolles und darum vollgültiges Opfer ist, das liegt an Gethsemane und an dem großen Wort: Nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe. In Gethsemane hat der Mittler das Opfer in seinem Geiste vollzogen, darum weht auch aus Gethsemane ein Geruch des Lebens zum Leben, dass jede schuldbeladene Seele unter den Fittichen des Mannes der Schmerzen, der hier mit seinem Gott und Vater ringt, Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit empfangen kann.
Sünd'ge Seele geh'
Nach Gethsemane:
Der dein Leid hier trug
Tat für dich genug;
Er büßt' alle Pein.
Du kannst sicher sein,
Glaube nur und geh'
Nach Gethsemane!
Gethsemane, ein Keltertal, Gethsemane, ein Garten - so haben wir's betrachtet; betrachten wir denn noch zum Schluss:
3.
Gethsemane, ein Asyl. Als solches wird es uns ausdrücklich von dem Evangelisten Johannes bezeichnet, der uns erzählt: Judas, der ihn verriet, wusste den Ort auch; denn Jesus versammelte sich oft daselbst mit seinen Jüngern; und auch nach Lukas war es eine Gewohnheit des Heilands, dort hinzugehen. Es musste ja freilich der Herr während seines Wandels im Fleische von sich sagen: Die Füchse haben ihre Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben ihre Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege. Jesus Christus, unser Heiland, hat kein Eignes gehabt auf Erden, keine Wiege für seinen Säuglingsschlummer, kein Sterbebett für seine letzten Augenblicke und keinen eignen Herd während seiner Mannesjahre tröstet Euch damit, ihr Lieben, die ihr nicht zu den Glücklichen gehört, denen nach den Lehr- und Wanderjahren des Lebens ein fester Sitz und eigner Herd beschieden ist, tröstet euch mit dem Exempel eures Meisters, ihr Lieben, die ihr euer Leben lang an andrer Leute Tische essen müsst. Aber wenn ihr euch dankbar freut, dass ihr durch die Güte eures Gottes bis auf diesen Tag noch immer liebe Menschen fandet, die euch an ihrem Herd ein freundliches Asyl geboten, dann denkt auch in diesem Danke wieder an euren Herrn und Meister und wisst: Obwohl er in sein Eigentum kam und die Seinen nahmen ihn nicht auf, so hat es ihm doch andrerseits auch nie an frommen Seelen gemangelt, die es sich zur Ehre und zur Wonne rechneten, dem Sohne Gottes ein Asyl zu gewähren. Nicht wie jener Graf von Württemberg hat der König des Himmelreichs sich rühmen können, dass er jedem seiner Untertanen kühnlich sein Haupt in den Schoß legen dürfe; aber es sind doch auch nicht alle seine Untertanen Rebellen gewesen. Es war ja auch der Saal des Hauses in Jerusalem, in welchem der Herr mit seinen Jüngern das letzte, das erste Abendmahl gehalten, ein Asyl für den Herrn, ihm von einem guten Freunde gewährt; aber nicht in der Stadt mitten in dem Freudenjubel der Passanacht wollte der Heiland seinen heiligen Seelenkampf auskämpfen; er hatte immer die Stille geliebt und hatte sich zum Beten, wo er irgend konnte, an abgelegene Orte zurückgezogen; darum sucht er auch jetzt angesichts seiner allerheiligsten Passion einen stilleren Zufluchtsort auf. Solcher Zufluchtsorte hatte der Heiland in der Nähe von Jerusalem zwei. Der eine war Bethanien, auch am Ölberg gelegen, in einem engen Talabhang, nach Jericho zu; hier war der Heiland noch in der letzten Woche oft gewesen, bei Lazarus, den er von den Toten auferweckte, bei Martha, die immer so treulich für ihn sorgte, bei Maria, die immer war beflissen auf des Einigen Genuss und sich fromm zu Jesu Füßen voller Andacht niederließ und die noch zu guter Letzt den Heiland gesalbt hatte mit der köstlichen Narde zu seinem Begräbnis. Der andere Zufluchtsort, den der Herr am Ölberg hatte, war Gethsemane, und ihn wählte er für die letzte Nacht. Der Besitzer von Gethsemane wird in der Schrift weder beschrieben, noch genannt, aber wir werden ihn im Himmel kennen lernen, denn er muss auch einer von den guten Freunden des Herrn gewesen sein, sonst würde Christus Jesus, der sich Niemanden aufdrängt, Gethsemane nicht als sein letztes und liebstes Asyl auf Erden aufgesucht haben. Gethsemane, der stille Garten am Ölberge, wie heilig ist diese Stätte, sie ist des Heilands letztes irdisches Asyl.
Asyle, in denen fromme Liebe ihm Gastfreundschaft gewährt, sucht der Mann der Schmerzen noch heute auf Erden, obwohl er längst aus der Angst und dem Gericht genommen ist und eingegangen ist in den Himmel durch sein eigenes Blut. Denn trotz seiner Erhöhung zur Rechten der Majestät kann er nicht lassen von der Erde, die er mit seinem Blute. benetzt hat, und wandert im Geist immerdar umher von Land zu Land, von Herz zu Herz, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Aber es ist noch heute so wie weiland, es verhält sich in den Tagen seines Geistes nicht anders, als in den Tagen seines Fleisches: an wie viele Türen der Heiland auch klopft, die meisten Türen bleiben verriegelt und verschlossen, und Niemand ruft: Komm herein, du Gesegneter des Herrn, warum willst Du draußen stehen? Gleichwie in großen und vornehmen Häusern trotz der Menge der Zimmer und Kammern oft kein Platz ist, wenn ein entfernter und armer Verwandter sich zu Besuch anmeldet, dass man ihm höflich oder unhöflich erklärt, man könne ihn nicht aufnehmen aus Mangel an Raum, aber der Mangel an Raum ist nur eine Phrase, und es müsste eigentlich heißen Mangel an Herz: so ist in den allermeisten Häusern kein Raum für den Herrn der Herrlichkeit in dem Armensünderkleid, man fühlt sich beengt und geniert, schon wenn man nur den Namen Jesu hört, dieser Name tönt so feierlich, so ernst und das stört dem Einen die Gemütlichkeit und dem Andern das leichte Leben. Bei den allermeisten Menschen ist der Heiland noch heute nicht gern gesehen, und vielen ist er geradezu verhasst; die Einen rufen: „Was soll ich denn machen mit diesem Jesus?“ und die Andern: „Kreuzige, kreuzige ihn!“ Wahrhaftig, wäre Jesus nicht Jesus, er hätte längst die arge Welt verschlossener Türen und verschlossener Herzen aufgegeben; aber weil er Jesus ist, so kommt er immer wieder, so lange es heute heißt, kommt sonderlich zur Passionszeit immer wieder und lockt und fragt und schauet sich um, ob von hundert Seelen nicht eine doch spreche, wie Sulamith im Hohenliede: „Stehe auf, Nordwind, und komme, Südwind, und wehe durch meinen Garten, dass seine Würze triefen; mein Freund komme in seinen Garten.“
Der Mann der Schmerzen, er sieht sich auch heute hier in dieser kirchlichen Versammlung um nach Menschenseelen, die ihm die Tür auftun und Eingang gewähren. Gethsemane, Gethsemane - wo ist hier ein Gethsemane? Wo ist hier ein Asyl für den von der Welt verkannten, verbannten, ausgestoßenen Erlöser der Welt? Gethsemane wollte Gott, ihr trüget Alle in eurem eigenen Busen ein Gethsemane, ein Asyl für Jesum Christ! Lasst ihn ein, lasst ihn ein, den Mann der Schmerzen, das Lamm, das eure Sünde trägt, den Hohenpriester, der sich selber für euch opfert; euer Herz sei sein Garten, so wird sein Schmerz euer Heil sein, seine Dornen eure Rosen, seine Pein euer Paradies! Das Gethsemane, das man noch heute am Ölberg zeigt, das tut's nicht, das ist heutzutage ein ziemlich wüster Ort, und von den acht alten Ölbäumen, die da stehen, geht alle Jahr die Hälfte der Früchte als Steuer an den Sultan der Türkei. Das Gethsemane, das in der Bibel steht, das tut's, doch nur, wenn es ins Herz verpflanzt wird. Wie bringen wir Gethsemane, das Keltertal, den Garten des zweiten Adam, das Asyl Jesu Christi - wie bringen wir's aus der Bibel ins Herz? Ach, wir nicht, aber der Heilige Geist. Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christum, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann, sondern der Heilige Geist muss uns den Glauben schenken, mehren, erhalten. Brüder, Schwestern, dämpft den Geist nicht, der Geist arbeitet an euren Herzen, dass sie ein Gethsemane werden! Haltet still dem heiligen Geist! Amen.