Quandt, Carl Wilhelm Emil - Die Berge der Bibel - 7. Die Berge Jerusalems.

Quandt, Carl Wilhelm Emil - Die Berge der Bibel - 7. Die Berge Jerusalems.

Als der fromme Sänger des Liedes im höheren Chor Psalter und Harfe rührte und sang: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hülfe kommt,“ da waren es weniger die heiligen Berge im Allgemeinen, als vielmehr die besonderen Berge Jerusalems, die als Berge der Hülfe und des Heils seine sehnsüchtigen Blicke auf sich zogen. Denn was die Sonne unter den Sternen des Himmels, was der Adler unter den Vögeln der Lüfte ist, das sind die Berge Jerusalems unter den Bergen der Bibel: sie sind des großen Gottes allerheiligste Offenbarungsstätten durch die Zeiten beider Testamente, des alten wie des neuen, hindurch. Zu ihnen heben auch wir am Schlusse unsrer geistlichen Bergreise die Augen unseres Glaubens und unserer Hoffnung auf. Ein Jeder sein Gesichte mit ganzer Wendung richte stracks gen Jerusalem!

Der erste Blick gebührt dem Berg Morija. Denn er ist der Patriarch unter den Bergen der heiligen Stadt. In grauer Vorzeit offenbarte sich hier der Herr in Gnaden dem Urahnen aller Gläubigen, dem Vater Abraham. „Nimm, Isaak, deinen einigen Sohn, den du lieb hast, so sprach der Herr zu ihm, und gehe hin in das Land Morija und opfere ihn daselbst zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde.“ Und Abraham machte sich auf und ging hin an den Ort, davon ihm Gott gesagt hatte und bauete daselbst einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak und legte ihn oben auf das Holz und reckte seine Hand aus und fassete das Messer, seinen Sohn zu opfern. Aber der Engel des Herrn rief vom Himmel: Lege deine Hand nicht an den Knaben; denn nun weiß ich, daß du Gott fürchtest und hast deines eigenen Sohnes nicht verschonet um meinetwillen. Da hob Abraham seine Augen auf und sahe einen Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes Statt. Die Stätte aber des Berges nannte er Morija d.h. der Herr siehet. Diese Geschichte der Opferung Isaaks gab dem Berge Morija die Vorweihe für seine zukünftige Bestimmung als Tempelberg. Als König David Jerusalem zu seiner Stadt gemacht hatte, diente der Berg Morija dem Jebusiter Arafna zur Tenne; David aber gewann ihn zum Eigenthum und bestimmte ihn zum Bauplatz für den Tempel. Sein Sohn Salomo ließ darum seine Spitze abtragen, seine Vertiefungen ausfüllen und den Boden ebnen und erbaute an der Stätte den großen und herrlichen Tempel des Herrn, das Haus der Lobgesänge, den Ort der Wonne Israels, von dessen Schöne die Kinder Korah jauchzend mit rauschendem Saitenspiele sangen: „Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Meine Seele verlanget und sehnet sich nach den Vorhöfen des Herrn; mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott. Denn der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ihr Nest, nämlich Deine Altäre, Herr Zebaoth, mein König und mein Gott.“

Halten wir ein wenig still am Fuße des Morija. Den alttestamentlichen Tempel erblicken wir nicht mehr auf seiner Höhe, der Tempel Salomos ist längst geschleift, und auch der zweite Tempel, der sich aus der Asche des ersten erhob, hat den Pflug über seine Grundvesten dahingehn sehn; denn an jenem Tage, da auf einem anderen Berge Jerusalems Gott seinen einigen Sohn, den er lieb hatte, für die Menschheit opferte, ist der Vorhang im Tempel auf Morija zerrissen, und darnach ist der Tempel zerstört und auf immer zerfallen. Gott will im neuen Bunde andre Tempel haben; unser eignes Leben soll der Morija sein, auf dem sich der Tempel des Allerhöchsten erbaue, wie St. Paulus an die Corinther schreibt: „Der Tempel Gottes ist heilig, der seid ihr!“ Sollen wir selber aber uns bauen als lebendige Steine zum Hause Gottes im Geist und in der Wahrheit, dann darf auch uns jene Vorweihe nicht fehlen, die dem Morija ward durch den Opfergang Abrahams. Abraham hatte den Herrn im Anfang nicht recht verstanden; Gott wollte nicht sein Blut, sondern sein Herz haben. So dürfen auch wir nicht meinen, daß wir uns durch unser eignes Blut und mit unserm eignen Wollen und Laufen mit Gott versöhnen könnten, das Blut, das uns rein macht von aller Sünde, ist Christi Blut, welches durch das Blut des Widders vorbedeutet war. „Der ew’ge Gott ist fromm und gut, er dürstet nicht nach Menschenblut; er hat sein Opfer schon ersehn, du, Menschenkind, sollst frei ausgehn.“ Gott verlangt nicht unser Blut; Gott verlangt unser Herz. Und Abraham hat denn auch den Herrn verstehn gelernt und ihm sein Herz hingegeben, und das ist ihm zur Gerechtigkeit gerechnet. So müssen auch wir als rechte Kinder Abrahams dem Herrn unser Herz zum Opfer geben, das ihm sei geheiliget, unser Herz mit all‘ seiner Angst über unsre Sünden, mit all‘ seiner Zerschlagenheit wegen unsrer Missethaten, dann findet der Herr ein Morija und zieht ein zu uns, als in seinen Tempel und weiht ihn durch sein ewiges Nahesein. Herr, du hast nicht Lust zum Opfer, ich wollte dir’s sonst wohl geben, und Brandopfer gefallen dir nicht. Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist; ein geängstetes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten. So lasset uns denn ihm uns selbst zum Opfer bringen, das ist: lasset uns unser mühseliges und beladenes Herz Ihm schenken, so wird Er selber in uns auf dem Grunde des Blutes seines Sohnes seinen Tempel haben und bauen: einen Tempel, der viel edler ist als jener auf Morija, einen Tempel, der nicht zerstört werden kann, wie jener auf Morija, sondern der da bleibt in Ewigkeit.

Vom Tempelberg wenden wir uns zum Königsberg, zum Berge Zion. Derselbe ist mit dem Berge Morija so eng verbunden und verwachsen, daß sein Name in der Schrift vielfach auch zur Bezeichnung des Tempelberges gebraucht wird. Der Zion überragt den Morija weit, er hat eine Höhe von 2400 Fuß und beherrscht die ganze Stadt; darum wählte ihn König David zur Stätte seiner Burg und fügte zu der natürlichen Befestigung, die der Berg hatte, noch künstliche Befestigungswerke hinzu. Alles Vergängliche aber ist nur ein Gleichniß. Die höchste und festeste Höhe im irdischen Jerusalem war ein von Gott selbst gegebnes Gleichniß für die höchste Höhe im oberen Jerusalem, für die ewigfeste Königsburg des Monarchen aller Dinge, des großen Gottes im Himmel. An das Zion, was droben ist, dachten die Israeliter rechter Art, wenn sie das Zion des unteren Jerusalem schauten. „Die Erlöseten des Herrn werden gen Zion kommen mit Jauchzen, singt Jesaias; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein.“ Der Apostel aber schreibt von dem Zutritt, den die Gläubigen haben zu dem Berge Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, zu dem himmlischen Jerusalem und zu der Menge vieler tausend Engel.

Die Davidsburg auf dem irdischen Zion ist längst zerfallen, und die Höhe des Berges ward schon durch Simon Makkabäus abgetragen. „Durch öde Gemächer lustwandeln die Nattern; die Säulen zerbröckeln, die Raben umflattern geborstene Thürme mit krächzendem Flug.“ Aber die Burg unsers Gottes im Himmel steht feste, und das himmlische Zion weicht nicht und wanket nicht; Throne fallen und Fürstenschlösser sinken in Trümmer, aber der Stuhl Gottes im Himmel steht unerschütterlich und seine Burg in Ewigkeit. Wohl uns wankenden Kindern der schwankenden Erde, daß wir einen Vater haben in der oberen Heimath, bei welchem ist keine Veränderung noch Wechsel des Lichts und der Finsterniß. Wenn ein Schiff in See geht und das Wanken und Schwanken die Passagiere unheimlich berührt, dann schützen sie sich vor dem Krankwerden dadurch, daß sie den Blick unverwandt auf das feste Land richten, so lange sie es sehen können. Desselbigen gleichen wenn auf der großen Reise dieses Lebens das Wanken und Schwanken alles Irdischen, das Blühen und Welken, das Aufleuchten und Verglimmen das arme Herz mit Bangigkeit erfüllt und ihm ist, als ob der Boden unter seinen Füßen je länger, je mehr ihm entweiche: kann es sich gegen Krankheit der Seele, gegen Mißglauben und Verzweiflung nicht besser schützen, als wenn es seine Augen unverwandt auf das Zion richtet, was droben ist, auf das feste, bleibende, wechsellose Himmelsland. Und es gilt nicht blos zu blicken nach diesem himmlischen Zion während der Reise; es gilt, dies himmlische Zion auch zum Ziele zu nehmen für die ganze Reise dieser Zeit. Nur wo ein ewiges Bleiben ist, kann auch unseres Bleibens einst sein; nur wo der Gott thront, auf den unser Herz angelegt ist, kann unser Herz in Ewigkeit das Leben und volle Genüge haben. Der Heiland ist uns dahin vorangegangen, hat uns den Weg dahin, hat uns die Stätte dort bereitet, und thront nun heute auf der himmlischen Zionsburg zur Rechten des Vaters und bittet für uns, daß seine Diener auch einst sein mögen, wo er ist. Seine Engel aber umtönen ihn mit ewigen Lobgesängen, und der Schall ihrer Lieder klingt leise lockend hinein in unser Erdenleben und schürt die Flamme der Sehnsucht nach dem Zion, was droben ist. „Ach wie schön, ach wie schön ist der Engel Lobgetön; hätt‘ ich Flügel, hätt‘ ich Flügel, flög‘ ich über Thal und Hügel heute noch nach Zions Höhn.“

Morija und Zion, der Opferberg und der Königsberg – das ist das alttestamentliche Bruderpaar der Berge Jerusalems. Wir wenden uns zu dem neutestamentlichen Bruderpaar unter den Bergen der heiligen Stadt, sie heißen Golgatha und Oelberg, auch ein Opferberg und ein Königsberg. So aber die Berge, die geweiht sind durch die Gottesoffenbarungen des alten Bundes, Klarheit haben, wie viel mehr haben die Berge, auf denen der ewige Gott im neuen Bunde seine Gnade und seine Wahrheit geoffenbaret hat, überschwängliche Klarheit.

Golgatha – schon der Name dieses Berges hat einen Klang für uns, als ob alle Glocken der Welt zusammen den Charfreitag einläuteten. Der fromme Zinzendorf hat nur klar ausgesprochen, was aller Gläubigen Herz und Sinn bewegt, wenn er sagt: „Ich bin durch viele Zeiten, wohl gar durch Ewigkeiten in meinem Sinn gereist; doch wo ich hingekommen, nichts hat mir’s Herz genommen, als Golgatha; Gott sei gepreist!“ Golgatha, mit lateinischem Namen Calvarienberg, heißt zu deutsch Schädelstätte; die Vermuthung, daß er seinen Namen von seiner Form trug, die rund und schädelartig war, scheint besser begründet als die, daß er Schädelstätte geheißen sei von den Schädeln, die auf und neben ihm herumgelegen hätten. Die Schrift lehrt uns, daß die Schädelstätte nicht in der Stadt Jerusalem, sondern nahe bei der Stadt lag; aber heutzutage läßt sich ihre Lage nicht mehr mit Sicherheit nachweisen; denn daß dort, wo heute die große Kirche des heiligen Grabes in Jerusalem steht, die Stätte der Kreuzigung gewesen ist, wird von vielen tüchtigen Gelehrten bestritten. Doch was kümmert uns der Streit? Der Glaube weiß wie mit sicherem Tacte die Stätte der Kreuzigung wohl zu finden und flüchtet sich oft und gerne aus dem Lärmen der Welt in die heilige Stille von Golgatha.

Nichts hat mir’s Herz genommen, als Golgatha. Denn es ist der Hügel, auf dem mein Jesus stirbt. Der Christ wandert oft in stillem Ernste zu den Grabeshügeln seiner Lieben, der Eltern, der Gattin, der Kinder, wie sollte nicht vielmehr noch ihn magnetisch an sich ziehn der Hügel, auf dem sein Jesus stirbt? Denn viel enger, als das Kind mit dem Vater, als der Vater mit dem Kinde, als der Gatte mit der Gattin, ist der Christ mit dem Herrn Jesu verwachsen. Der Christ trägt nicht blos seinen Christennamen nach dem Herrn Christus, er hat nicht blos das Leben von dem Herrn Christus, in dem das wahre Leben erschienen ist für alle Menschen; sondern auch des Christen ganzes Sein und Haben ist so mit dem Namen Jesu verwebt und von Gnaden des Heilandes umschlungen, daß ihm kein Anderer so nahe steht, so blutsverwandt ist, als der Herr Jesus. Als man uns noch auf dem Arme trug, wurden wir getauft in seinem Namen, und als wir allmälig zu Sinn und Verstand kamen, da war der liebste, beste Name, den uns die Mutter nannte, wenn sie uns auf den Schooß nahm, der Name des Herrn Jesu. Und als wir in die Schule geschickt wurde, es wurde uns erzählt von vielem Neuen und Schönen; aber das Allerschönste, was uns genannt ward, war wieder der Name Jesu. Im Namen Jesu wurden wir eingesegnet. Der Name Jesu wurde uns Sonntag für Sonntag in der Kirche gepriesen; im Namen Jesu sind unsre Ehen geschlossen. Im Namen Jesu wird einst der Leichenprediger an unserm frischen Grabe unsern Leichnam segnen. So eng sind wir mit dem Herrn Jesu verwachsen. Und Golgatha ist des Herrn Jesu Sterbestätte. O wenn einst die Juden von der Maria sagten, als Lazarus gestorben war: Sie geht zum Grabe, daß sie daselbst weine – bezeichnet dieses Wort nicht auch die tägliche Neigung unserer Seele, jeder gläubigen Seele? „Ich geh‘ nach Golgatha zu weinen, wenn alle Welt voll Freuden ist: ich kann nur weinen um den Einen, um meinen Heiland Jesus Christ! Da sitz‘ ich stundenlang allein und denk‘ an seine Todespein.“

Nichts hat mir’s Herz genommen, als Golgatha. Denn es ist der Hügel, auf dem Jesus als das Lamm Gottes unschuldig für mich armen Stünden stirbt. Was Gott auf dem alttestamentlichen Berge Morija dem Vater der Gläubigen ersparte, daß er seinen einigen Sohn, den er lieb hatte, Gott opfere für seine Sünden: das hat auf dem neutestamentlichen Berge Golgatha Gott selber vollbracht, hat seines einigen Sohnes, den er lieb hatte, nicht verschonet, sondern hat ihn für uns dahin gegeben in den Tod am Kreuze, den Unschuldigen für die Schuldigen, den Gerechten für die Sünder, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Für uns stirbt der unschuldige Jesus am Stamme des Kreuzes auf Golgatha. Nachdem er für uns seine Himmel verlassen, achtete er für uns auch der Schande und des Schmerzes nicht und liebte sich für uns zu Tode. Was haben wir ihm denn zuvorgegeben, daß er uns solche unerhörte, gleichnißlose Liebe beweist? O seine Feinde sind wir gewesen, seine Verächter, seine Spötter. Er kam in sein Eigenthum, die Seinen nahmen ihn nicht auf. Er überhäufte sie mit Wohlthaten, sie nannten ihn einen Uebelthäter. Er predigte Worte des ewigen Lebens, wie sie nie ein menschlicher Mund gesprochen hatte, sie sagten: Er hat den Teufel. Er nahm uns durch Taufe und Lehre auf in sein Reich; wir haben ihm oft den Rücken gewandt. Er grüßte uns, wir dankten kaum. Er segnete uns, wir lobten ihn nicht. Und doch Er stirbt für uns auf Golgatha. Er hat auch an dich, an mich gedacht, als er sprach: Es ist vollbracht. Er hat dürstend gerungen auch um meine Seele, daß sie ihm zu seinem Lohn nicht fehle. Darum weilt die gläubige Seele gerne auf Golgatha, umklammert das Kreuz des Heilandes und betet die Macht der Liebe an, die sich in Jesu offenbart.

Nichts hat mir’s Herz genommen, als Golgatha. Denn es ist der Hügel, in dessen heiliger Stille sich alle Räthsel des Lebens lösen. Wie kann ich armer, sündenvoller Mensch dem heiligen Gotte mich nahn, daß ich fröhlich und selig werde? Ich blicke nach Golgatha: Der dort am Kreuze hängt, hat für mich genug gethan und alle meine Sünde gesühnt; im Glauben an ihn rufe ich kühn in meine eigenen mich verklagenden Gedanken hinein: So ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind. Wie kann ich unter der alles Denken übersteigenden Fülle von Creaturen Gottes, wie kann ich Stäublein vom Staube dieser Erde es wagen, des allmächtigen Gottes specielle Vorsehung für mich in Anspruch zu nehmen; wie kann ich glauben, daß der, der das Scepter des Regimentes über Millionen Welten in Händen hat, sich um meine kleinen Angelegenheiten kümmern, über meinem Wohl und Wehe wachen wird? Ich blicke nach Golgatha: Der seinen eingebornen Sohn um meinetwillen hat sterben lassen, kann und wird mich auch durch mein ganzes Leben tragen; er hat mich für zu theuren Preis erkauft, als daß er je seine Hand von mir abziehn könnte; in seine Hände hat er mich gezeichnet, meine Mauern stehen immerdar vor ihm. Wie kann ich in der Trübsal dieser Tage, in der Hitze der Anfechtung ein in allzeit getrostes Herz bewahren? Ich blicke nach Golgatha: Da hängt mein Meister am Kreuze, ich weiß, er ging durch’s Kreuz zur Krone; kein Jünger ist über seinen Meister, die Knechte dürfen es nicht besser haben wollen als der Herr, sondern müssen wandeln in seinen Fußtapfen durch’s Kreuz zur Krone. Und so, was auch immer gefragt und gesorgt werden mag, es löst sich alles in der heiligen Stille von Golgatha. „Drum über alle Berge, die ich auf Erden sah, geht mir der stille Hügel, der Hügel Golgatha.“

Wir heben aber unsre Augen noch einmal auf und blicken zu guter Letzt empor zum Oelberge. Ist der Hügel Golgatha der Morija des Herrn Jesu gewesen, so ist der Oelberg sein Zion, der Berg seines königlichen Glanzes. Von den großartigen Oelbaumpflanzungen, die diesem Berge den Namen gegeben haben, sind nur noch kümmerliche Reste vorhanden. Der Berg selbst liegt der heiligen Stadt östlich gegenüber, hundert Fuß höher, als die höchsten Punkte der Stadt, von Norden nach Süden sich eine gute Stunde lang ausdehnend. Er steigt in mehreren Kuppen auf, und die Aussicht, die dieselben gewähren, ist eine der prachtvollsten, die auf dieser Erde dem menschlichen Auge geboten werden können. Im Norden zeigen sich aus weiter Ferne die Hochgegenden Samarias; im Westen liegt, nur durch das enge Kidronthal getrennt, Jerusalem; gegen Sünde schweift der blick über das Gefilde Bethlehems hin; gegen Südost blickt man hinab in den tiefen Felsenkessel des todten Meeres, dessen Spiegel fast viertausend Fuß tiefer liegt, als der Gipfel des Oelbergs; man sieht die Einmündung des Jordan und jenseit des Jordans eine hohe Gebirgswand, zu der der Berg Nebo gehört, von welchem einst Mose, ehe er schied, sehnsüchtig nach dem Oelberg hinüberschaute. Der östliche Abfall des Oelberges ist der am wenigsten steile und hohe, hier lagen die Dörfer Bethphage und Bethanien; am Fuße des Westabhanges aber lag die Meierei Gethsemane d.i. Oelkelter; acht uralte Oelbäume, die inwendig hohl und mit Steinen gefüllt sind, ragen hier noch aus heiliger Vergangenheit in die Gegenwart hinein.

Der Oelberg und seine Umgebungen haben den Sohn Gottes oft beherbergt schon in den Tagen, da er als Prophet umherzog und lehrete gewaltiglich, und nicht wie die Schriftgelehrten. So oft der Heiland in Jerusalem war, pflegte er hinaus zu pilgern an den Oelberg, um nach der Arbeit des Tages dort allein zu sein mit dem Vater oder wenigstens abgeschieden von der Welt in der vertraulichen Gemeinschaft seiner nächsten Jünger und Jüngerinnen. Als das Heiligthum der einsamen Gebete des Herrn mahnt uns der Oelberg, daß es auch uns geziemet, nach der Arbeit und vor der Arbeit uns zu sammeln durch Stille und Gebet; wehe dem Menschen, der keine Oelbergs-Stunden kennt in Leben; ihm muß die Seele zerrinnen in den Bildern dieser Welt. Als die Stätte der vertraulichsten Gemeinschaft des Herrn mit seinen Jüngern mahnt uns der Oelberg, daß es auch für uns in diesem armen Leben nächst dem Umgang mit dem großen Gott nichts Köstlicheres und Herzstärkenderes giebt, als den Genuß der Gemeinschaft der Heiligen, das heißt der Gemeinschaft armer Sünder, die an den Herrn Jesum glauben. Wir haben es alle im Gefühl, daß zu den menschlich schönsten Stunden des Menschensohnes vor Allem die Stunden zu rechnen sind, wo er in dem Oelbergsdörflein Bethanien unter seinen Gläubigen saß im Hause seines Freundes Lazarus, Martha sorgte sich um ihn, Maria saß zu seinen Füßen und Er redete von dem Einen, was noth ist. „O Bethania, du Friedenshütte, du vom Herrn geliebtes Haus, liebend sahst du ihn in deiner Mitte, liebend ging er ein und aus. Wohl uns, wenn er seine Lieblingsstätte auch bei uns im Haus und Herzen hätte, Freund, so gern den Deinen nah, hier sei dein Bethania!“ Es ist aber ein Bethanien überall, wo zwei oder drei zusammen sind im Namen Jesu, denn da ist er mitten unter den Seinigen, wie weiland in dem Dörflein auf dem Oelberge, mitten unter ihnen mit seiner Gnade und mit seinem Glanze, mit seinem Worte und mit seinem Segen. In solcher Gemeinschaft liegt die Welt zu unsern Füßen, und wir schmecken unter Reden und Hören, unter Lieben, Loben und Singen die Kräfte einer andern Welt.

Der Oelberg hat aber nicht nur durch die Gegenwart Christi während seiner prophetischen Amtsthätigkeit Weihe empfangen, sondern vielmehr noch durch die Thränen und durch den Schweiß, die von dem hohenpriesterlichen Antlitz Christi auf ihn herniederflossen. Es wird von dem Herrn niemals in der Schrift berichtet, daß er gelacht habe, wohl aber mehrmals, daß er geweint hat, daß er Thränen geopfert hat als mitleidiger Hoherpriester, Thränen über die Sünde und über der Sünde Sold auf Erden. Die Thränen aber, die er vergossen, haben den Oelberg genetzt. Auf einer Terrasse des Oelbergs hat er gesessen, als er die Stadt Jerusalem ansah und weinete über sie und sprach: „Wenn du es wüßtest, so würdest du auch bedenken zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient, aber nun ist es vor deinen Augen verborgen.“ An einer Grabeshöhle auf dem Oelberge hat der Herr gestanden, als ihm im Blick auf Tod und Verwesung die Augen über gingen. So ist der Oelberg des Herrn Jesu Thränenberg; dahin blicke, wenn dich das Leid um Sünde, Noth und Tod faßt und schäme dich deine Thränen nicht; seitdem auf dem Oelberge die Thränen des Sohnes Gottes geflossen sind, kann es nicht mehr unmännlich gescholten werden, wenn Sünder Thränen des Leides und des Mitleides weinen. So ist der Oelberg für uns aber auch ein Berg des Trostes; es tröstet, wenn Sünder traurig sind mit den Traurigen, wie vielmehr muß es trösten, wenn der Gottmensch weint mit den Weinenden. Doch nicht nur über unser Leid, sondern viel mehr noch über sein eignes Leid, das doch auch unseres war, hat der Heiland geweint im Schatten der Bäume des Oelbergs. Er hat in den Tagen seines Fleisches Gebet und Flehen mit starkem Geschrei und Thränen geopfert zu dem, der ihm vom Tode konnte aushelfen. Und das ist geschehen in der Nacht, da er verrathen ward. Da lag er im Garten Gethsemane am Abhange des Oelbergs. Da war es, dwo seine Seele betrübt war bis in den Tod, also daß er mit dem Tode rang und sein Schweiß war, wie Blutstopfen, die fielen auf die Erde. Da hat er unser Leid als sein eigenstes auf hohenpriesterlichem Herzen getragen; fürwahr er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. All‘ die millionenfache Sündenschuld der Menschheit als der Menschheit Stellvertreter tragend, hat er in Gethsemane gelitten, wie das Haupt leidet, wenn alle Nerven zittern vom Todesfieber, hat den letzten großen Angriff aller Höllenabgrundsmächte für uns ausgehalten und hat das ungeheure Mysterium des Schmerzes im Gehorsam gegen des Vaters Willen durchgekämpft zum Siege; Er nahm den Becher und trank mit Einem Zug der Liebe siegreich die Höllenstrafen aus. So ist der Oelberg die Stätte des geheimnißvollen hohenpriesterlichen Seelenleidens Jesu Christi, voll Kraft für unser Leben, voll Trost für unser Sterben; wir blicken im Leben und im Sterben voll Zuversicht zum Oelberg und beten: Durch deinen Todeskampf und blutigen Schweiß hilf uns, lieber Herr Jesu.

Der Oelberg hat den Propheten ohne Gleichen und den Hohenpriester ohne Gleichen gesehen. Aber die herrlichste Offenbarung des Herrn Jesu ward ihm zuletzt zu Theil. Von allen Bergen der Erde hat der Oelberg die Auszeichnung erfahren, daß er gewürdigt ward, dem Herrn Jesu zum Schemel seiner Füße zu dienen, als er im Königskleide mit der Osterkrone auf dem Haupte gen Himmel fuhr und sich setzte zur Rechten Gottes des Vaters, von dannen er wiederkommen wird zu richten die Lebendigen und die Todten. Den Gipfel des Berges, an dessen Fuße er alle Bitterkeit seines Leidenskelches im ersten Zuge geschmeckt hatte, erkor der, der von dem Himmel ist, um von ihm seine Heimfahrt zum Himmel zu halten. Auf dem Gipfel des Oelbergs war es, wo die Erde mit dem Herrlichsten, das sie in ihrer Leiblichkeit getragen, dem Himmel entgegenkam, wo der Himmel mit all‘ seinen Kräften der Ewigkeit sich zur Erde niedersenkte. Hier in noch höherem Sinne als zu Bethel ist die Stätte heilig und eine Pforte des Himmels. Noch heute erinnert hier eine alte Denksäule an den Ort, da die Engel standen, welche, als der Herr aufgefahren war, zu den Jüngern sprachen: „Ihr Männer aus Galiläa, was stehet ihr hier und sehet gen Himmel? Dieser Jesus, welcher von euch ist aufgenommen in den Himmel, wird kommen, wie ihr ihn gesehen habt gen Himmel fahren.“ Noch heute steht auf dem Punkte, auf dem der Herr gestanden haben soll, da er aufgehoben ward, die alte, vor 1500 Jahren begründete Himmelfahrtskapelle; und ein Eindruck im Felsenstein, der mit der Gestalt eines Menschenfußes verglichen wird, ist Gegenstand der Verehrung christlicher Pilgrime. Wir aber stehen im Geiste auf dem Oelberge, nicht um eine zweifelhafte, eingedrückte Fußtapfe des Erlösers mit zweifelhaftem Glauben zu verehren, sondern um anzubeten vor dem, der in den Himmel fuhr als das Haupt eines Leibes, an dem wir die Glieder sind, und um zu jubeln: Lässet auch ein Haupt sein Glied, welches es nicht nach sich zieht?

Man sagt, der Oelberg habe noch eine große Zukunft. Der Prophet Sacharja, da er im vierzehnten Kapitel seiner Weissagungen von der allerletzten Zeit redet, der Zeit der Vollendung aller Rathschlüsse Gottes, verkündet: „Der Herr wird ausziehen -: und seine Füße werden stehen auf dem Oelberge, der vor Jerusalem liegt gegen Morgen. Und der Oelberg wird sich mitten entzweispalten vom Aufgang bis zum Niedergang sehr weit auseinander, daß sich eine Hälfte des Berges gegen Mitternacht und die andere gegen Mittag geben wird.“ Diese Kluft im Oelberge aber soll zum Flußbette werden; denn also weissagt der Prophet weiter: „Zu der Zeit werden frische Wasser aus Jerusalem fließen – und der Herr wird König sein über alle Lande; zu der Zeit wird der Herr und Einer sein, und sein Namen nur Einer.“ Die Zeichen dieser Weissagung zu deuten, und zu scheiden, was nach dem Geist und was nach dem Buchstaben gemeint ist, ist ebenso schwer, als gefährlich. Es genüge uns, daß wir uns durch den Hinweis auf die Zukunft des Oelbergs zum Schlusse mahnen lassen an die allerletzte Zeit, da der Herr wird alle Berge umreißen und alle Felsenwände und alle Mauern vernichten und wird Alles neu machen, nämlich eine neue Erde unter einem neuen Himmel, wo alles Land wird voll sein der Erkenntniß des Herrn, wie Wasser das Meer bedecket. Wir wissen aber, daß auf der neuen Erde unter dem neuen Himmel mit Jesu und allen Heiligen auch wir selber leben werden, so Viele unser ihre Kleider helle gemacht haben im Blute des Lammes. Eia, wären wir da! Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid, damit ich kann vor Gott bestehn, wenn ich zum Himmel werd‘ eingehn. –

Und so kehren wir denn nun von den Bergen Jerusalems, von den Bergen der Bibel wieder heim in die Thäler der Mühe und der Arbeit. Aber wenn schon eine gewöhnliche Gebirgsreise den Leib stärkt und das Herz erfrischt, daß die Hände sich wieder fleißig rühren und der Mensch mit neuer Kraft sein Tagewerk angreift und den Schweiß nicht scheut, der von der Stirne rinnt: so dürfen wir getroster noch vertrauen, daß unsre geistliche Wanderung zu den heiligen Bergen der Bibel uns Kraft und Segen hinterlassen werde für unser Tagewerk hienieden. Es bleibt ja auch wohl bei Gebirgsreisenden, wenn sie wieder daheim sind, eine Sehnsucht zurück nach den Berge, wo des Staubes weniger ist und die Lüfte frischer wehn. Gott wollte Gnade geben, daß auch bei uns eine Sehnsucht zurückbleibe nach den Bergen, von dannen uns die Hülfe kommt, nicht nach jenen nur, die in dem heiligen Lande dieser Erde stehn, sondern vielmehr nach jenen, die durch sie bedeutet sind, nach den Bergen des heiligen Landes der Ewigkeit! Droben, droben sind die Berge, auf denen die Freiheit, die ewige Freiheit der Kinder Gottes wohnt. Droben, droben sind die Berge, auf denen das himmlische Jerusalem gebauet ist. „Jerusalem, du hochgebaute Stadt, wollt‘ Gott, ich wär‘ in dir. Mein sehnlich Herz so groß Verlangen hat und ist nicht mehr bei mir. Weit über Berg und Thale, weit über blaches Feld, schwingt es sich über alle und eilt aus dieser Welt.“

Nach den Bergen fern im Morgen
Blickt mein Auge unverwandt
Hier im Thal der Müh‘ und Sorgen,
Hier im dunkeln Abendland.

Wenn ich hier nur Schatten sehe,
Schatten nur und Nachtgestalt,
Blick‘ ich nach des Thabors Höhe,
Wo die schönste Sonne strahlt.

Wenn in trüben Leidenszeiten
Mich das Kreuz zu Boden drückt –
Nach dem Berg der Seligkeiten
Blickt mein Auge unverrückt.

Will vor Sündenweh verbluten
Meine Seel‘, ist Heilung nah;
Denn auch unter Thränenfluthen
Schau‘ ich hin nach Golgatha.

Von den Bergen fern im Morgen
Ist mir Hülfe stets bereit;
Ist die Sonn‘ im Thal verborgen,
Glänzt sie dort in Herrlichkeit. Amen.

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