Quandt, Carl Wilhelm Emil - Die Berge der Bibel - 6. Der Thabor.

Quandt, Carl Wilhelm Emil - Die Berge der Bibel - 6. Der Thabor.

Aus den galiläischen Höhenzügen, welche sich nördlich von Nazareth dahin ziehen, ragt, ausgezeichnet vor den Nachbarbergen, als höchster Gipfel der Thabor hervor. Mit Eichen und wilden Pistazienbäumen besetzt steigt die herrliche Kuppe bis in die Region der Wetterwolken gleichartig ohne Absätze auf, einem abgestupmften Kegel gleich. Wie der Thabor sich so über der Ebene von Jesreel erhebt und an die Berge von Nazareth sich anlehnt, hat er viel Aehnlichkeit mit der Felskuppe des deutschen Hohenzollernberges, die über dem Thale von Hechingen aufsteigt und sich an die Höhen der Alp anlehnt. Weit und großartig ist die Aussicht, die sich vom Thabor eröffnet; alle Reisenden, denen sie vergönnt war, reden davon mit Begeisterung. Sie reicht nordwärts bis zu den blendend weißen Schneehäuptern des Hermon und Libanon, westwärts bis zu den grünen Höhen des Karmel, hinter dem die schimmernden Fluthen des Mittelmeeres hindurchleuchten; in nächster Nähe überschaut man die Ebene Jesreel mit ihren reichen Fruchtgefilden. Ein Deutscher, der vor einigen Jahren den Thabor bestiegen hat, sagt, er habe unwillkührlich auf seine Knie sinken müssen, als er oben angekommen wäre und von diesem von Gott gebauten Thurm herabgeschaut hätte auf das umliegende Land und Meer.

Es ist daher nicht zu verwundern, daß der Thabor, der in seinem Waldschmucke wie ein grüner Gottes-Altar im Felde dasteht, früh die allgemeine Bewunderung auf sich gezogen, und daß er im alten Testament gepriesen ward als ein Berg, der da jauchze im Namen des Herrn. Aber alle seine gepriesene natürliche Schöne wird tausendmal übertroffen durch die geistliche Schönheit, die er als Stätte der Verklärung des Herrn Jesu erhalten hat. Zwar wird sein Name in dem evangelischen Bericht über die Verklärung Christi nicht genannt, und es giebt Schriftausleger, die die Verklärung des Herrn auf dem Hermon oder auf irgend einem unbekannten Berge geschehen sein lassen; aber die einstimmige Ueberlieferung der christlichen Kirche bezeichnet den Thabor als den heiligen Berg, auf dessen Gipfel der Heiland vor seinen Aposteln Petrus, Jacobus und Johannes verklärt ward. Die fromme Kaiserin Helene, die Mutter des ersten christlichen Kaisers, Constantin des Großen, ließ auf der Thaborhöhe eine Kirche zum Andenken an die drei Apostel bauen, und noch heute feiern römische und griechische Katholiken auf dem Thabor die Verklärung.

Drei Evangelisten, Matthäus, Marcus und Lucas geben uns Berichte von dem geheimnißvollen Vorgange auf dem Berge Thabor, und außerdem wird in der zweiten Epistel St. Petri desselben gedacht. Acht Tage nach der ersten Vorherverkündigung seines Leidens nahm der Herr zu sich Petrum, Jacobum und Johannem, die drei vertrautesten seiner Jünger, begab sich mit ihnen in die Zurückgezogenheit und führte sie auf den Thabor, um zu beten. Und während er betete, geschah vor ihren Augen die Verklärung und Verwandlung des Herrn. Die Gestalt seines Angesichts ward anders, leuchtend wie die Sonne; und seine Kleider wurden hell, wie Licht, und weiß, wie der Schnee, daß sie kein Färber auf Erden kann so weiß machen. Und siehe, zween Männer redeten mit ihm, welche waren Moses und Elias; dieselben erschienen in Klarheit und redeten von dem Ausgang, welchen er sollte erfüllen zu Jerusalem. Die drei Jünger aber waren schlaftrunken; da sie aber wach geblieben, so sahen sie des Heilands Klarheit und Herrlichkeit und die zwei Männer bei ihm stehn. Das erste Gefühl, das die Jünger beschlich, war Bestürzung und Furcht; dasselbe aber wurde bald überwogen von kindlichem Entzücken, dem Petrus Worte lieh, indem er sprach: Meister, hier ist gut sein; laß uns drei Hütten machen, dir eine, Mose eine und Elias eine. Während er noch so redete und selbst nicht wußte, was er redete, überschattete sie eine lichte Wolke, und Christus empfing von Gott dem Vater Ehre und Preis durch eine Stimme, die zu ihm geschah von der großen Herrlichkeit dermaßen: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Diese Worte der Stimme aus den Wolken prägten sich den Jüngern so unvergeßlich ein, daß Petrus noch in seinem späten Alter davon schreibt: „Wir haben gehört die Stimme vom Himmel gebracht, da wir mit ihm waren auf dem heiligen Berge.“ Als sie die Stimme hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und erschraken sehr. Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: Stehet auf und fürchtet euch nicht. Da sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie Niemand, als Jesum allein. Und da sie vom Berge hinabgingen, gebot ihnen Jesus und sprach: Ihr sollt das Gesicht Niemand sagen, bis des Menschen Sohn von den Todten auferstanden ist.

So erzählen die heiligen drei Evangelisten Matthäus, Marcus, Lucas und St. Petrus. Wir verlieren keine Zeit mit Widerlegung der Phantastereien, mit denen die Herolde des Unglaubens gegen die Wahrheit dieses biblischen Berichts zu Felde gezogen sind. Wir fassen vielmehr sofort die Bedeutung der Verklärung Christi auf dem Thabor in’s Auge, zunächst ihre geschichtliche und sodann ihre sinnbildliche.

In Erwägung der geschichtlichen Bedeutung der Verklärung Christi haben wir das Dreifache zu beachten, einmal wie die Person Christi, sodann wie das Werk Christi, endlich wie das Reich Christi in der Beleuchtung des Thaborglanzes sich ausnimmt.

Die Wunderperson des Heilands wird nach ihren beiden Naturen, der göttlichen sowohl als der menschlichen, vom Lichte der Verklärung hell beleuchtet. Auf dem Thabor steht der Herr vor seiner Jünger und unsern Augen da in der überströmenden Fülle der Gottheit, die leibhaftig in ihm wohnte. Denn das ist der eigenthümliche Kern der Verklärung, daß das sonst verhüllt und verborgen gehaltene Göttliche im Herrn sichtbar auch an seinem Leibe hervorbrach, daß die ihm stetig innewohnende inwendige Gottesherrlichkeit sich auch über seine körperliche Gestalt verbreitete. Solchen göttlichen glanz hat von all‘ den Millionen, deren Füße diese Erde berührten, nie ein Zweiter ausgestrahlt. Auch Mosis Angesicht war auf dem Sinai im Umgang mit Gott glänzend geworden, aber hier ist mehr, als Mose. An Mose war die Herrlichkeit Gottes von außen getreten, wie man Staub ein wenig übergoldet; bei Christo brach die Herrlichkeit Gottes aus dem Innern hervor, wie das edle Gold durch den Staub, der seinen Rand bedeckt, hindurch blinkt; denn Christus war nicht blos ein Prophet wie Mose, sondern auch der himmlische Königssohn, der, ehe er im Fleisch wandelte, schon eine Ewigkeit hinter sich hatte und eine Klarheit bei dem Vater besessen hatte, ehe denn die Welt war. Daher müssen auf dem Thabor Mose, wie Elias seine Diener sein und ihre Klarheit die Folie für die herrlichere Klarheit Christi. Darum thut Gott vom Himmel kund, wie zuvor schon bei der Taufe und nachher kurz vor der Passion: „Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“ und bezeugt ihn damit als den Glanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens. So zeigt die Verklärung uns unsern Heiland als wahrhaftigen Gott vom Vater in Ewigkeit geboren, vor dem wir anbeten und jubeln: Glanz der Herrlichkeit, du bist vor der Zeit zum Erlöser uns geschenket und in unser Fleisch versenket in der Füll‘ der Zeit, Glanz der Herrlichkeit!

Aber viel mehr noch als für den wahrhaftigen Gott vom Vater in Ewigkeit geboren, war für den wahrhaftigen Menschen von der Jungfrau Maria geboren, der Vorgang auf dem Thabor bedeutsam. Denn die Verklärung war seine Leidensweihe, eine Stärkung für den Dornenweg zum Kreuze, der vor ihm lag. Er selbst hatte von diesem Dornenwege zuvor mit seinen Jüngern geredet, und nun sprachen die Himmlischen mit ihm davon auf dem Berge: Mose und Elias redeten mit ihm von dem Ausgang, den er nehmen sollte zu Jerusalem. Dieser Ausgang war die Bluttaufe, mit der er sich taufen lassen sollte und wollte, damit eine ewige Erlösung für die sündige Menschheit erfunden würde, und vor der ihm doch nach seinem menschlichen Gefühle so bange war, bis daß sie vollendet würde. Es war ja nie ein Kampf so heiß, als der Kampf gegen Sünde, Tod und Teufel, den der Heiland um unsertwillen aufnahm. Es bangt dem Menschen die Strafe seiner Seele, einer Seele zu tragen; wie mußte dem Menschensohne bangen, die Strafen aller Seelen auf sich zu nehmen. Es kommt uns ein Grauen an vor dem Leid und Wehe, uns, die wir Sünder und darum auf Leiden angelegt und zu Leiden geboren sind; wie mußte der Eine, Reine, der ohne Sünde empfangen und geboren war und nie eine Sünde gedacht, geredet oder gethan und darum gar keine Anlage für das Leiden hatte, wie mußte Er, das Lamm Gottes unschuldig, vor dem namenlosen Leide, dem er um unsertwillen entgegenging, Bangigkeit fühlen. Darum war ihm nach seiner Menschheit Stärkung noth, und diese wird ihm auf dem Thabor zu Theil. Durch die Unterredung mit Mose und Elias ward er nach seinem menschlichen Denken und Empfinden gewisser, daß sein Leidenspfad in den Rathschluß Gottes eingeschlossen war; durch die Stimme des Vaters vom Himmel ward ihm bestätigt, daß Gott Wohlgefallen habe an dem Hingange des Sohnes am Kreuze. Und wie für ihn selbst, so war auch für seine Jünger die Verklärung ein Gegengewicht gegen das Aergerniß, das sie um des Kreuzes willen an seiner Person nehmen konnten. Wenn sie auch, ehe sie des heiligen Geistes voll wurden, weder die Nothwendigkeit, noch die Zweckmäßigkeit des hohenpriesterlichen Leidens Christi begriffen, so mußte doch, was sie auf dem Berge Thabor mit ihren Augen gesehn und mit ihren Ohren gehört hatten, sie in den Tagen des Kreuzes vor gänzlichem Mißglauben und Verzweiflung bewahren.

Mit der Person Christi hängt auf’s Engste sein Werk, sein Erlösungswerk zusammen. Daher erhellt das Licht, das vom Thabor auf seine Person fällt, auch sein Werk. Wenn Mose und Elias auf dem Thabor mit dem Heilande reden von dem Ausgang, den er nehmen sollte zu Jerusalem, so leuchtet ein, daß die Erlösung, die der Herr durch seinen Sühnetod vollbringen wollte und vollbracht hat, das große Endziel war, worauf das Gesetz Mosis sowohl, als die Propheten hinwirkten und vorbereiteten, daß, was in Gethsemane und auf Golgatha geschah, geschehen ist, auf daß die Schrift erfüllet würde. Wenn Boten des Himmels, von denen der eine schon seit 1500 Jahren, der andre wenigstens seit 900 Jahren die Erde verlassen hatte, herniedersteigen, Jesum zu besuchen und mit ihm von seinem Leiden und Sterben zu reden, so ist zum Händegreifen klar, daß der Tod des Menschensohnes nichts Alltägliches und Gemeines ist, wie andrer Menschen Tod, sondern etwas Großes, Bedeutendes, Außerordentliches, den Himmel selbst in Bewegung Setzendes. Und wenn auf dem Thabor Himmel und Erde sich küssen und arme Erdbewohner Jesum schaun, umgeben von himmlischen Gestalten und leuchtend in himmlischem Glanze: so wird uns damit, wenn auch nur in einem flüchtigen, bald verschwindenden Vorspiele, der hohe Zweck des Leidens und Sterbens Christi vor die Augen gemalt, nämlich, daß Frieden gemacht würde durch das Blut an seinem Kreuz und die Erde himmlisch gemacht und die Kinder der Erde selig gemacht würden. Der Vorgang auf dem Thabor zeigt uns die letzten Ziele des Werkes Christi und ist eine Vorfeier der Versöhnung zwischen Himmel und Erde, hinweisend auf die Feier der Ewigkeit, wo die ganze Erde zu einer einzigen großen Thaborhöhe voll himmlischen Glanzes verklärt sein wird.

Auch über das Reich Christi giebt uns der Thabor großes Licht. Der Herr, umgeben von schwachen Jüngern und verklärten Gestalten einer andern Welt, steht da als König eines Reiches, das Erde und Himmel umspannt. Ihm dienen arme Sünder hier unten im Glauben, ihn preisen oben im Schauen die lichten Geister der Verklärten. So ist sein Reich ein Doppelreich, ein Reich der Gnade auf Erden, ein Reich der Herrlichkeit im Himmel. Petrus wollte das Reich der Herrlichkeit schon auf Erden haben und festhalten, wie das die Kirche, die sich noch St. Peter nennt, zum guten Theil noch heute will; aber der Herr verwehrt ihm das Hüttenbauen auf dem Thabor; das Reich Christi auf Erden ist noch nicht das Reich der Herrlichkeit, die Kirche Jesu Christi auf Erden muß in Magdsgestalt wandern, wie das die evangelische Kirche, unser Aller Mutter, auch nie verkannt hat. Aber beide Reiche Christi, das im Himmel und das auf Erden, das zeigen uns die Vorgänge auf dem Thabor ebenfalls in höchst anschaulicher Weise, stehen in engster Verbindung; die Seligen des Himmels haben Kunde von den großen Gottesthaten, die sich auf Erden vollziehn, und nehmen an den Geschicken des Gnadenreiches den innigsten Antheil.

Die Verklärung auf dem Thabor hat aber nicht blos eine geschichtliche, sondern auch eine sinnbildliche Bedeutung, sowohl für das Leben, als auch für das Sterben und auch für das Auferstehn der Gläubigen. Zunächst versinnbildet, was die Jünger beim Hinaufsteigen auf den Thabor, beim Verweilen auf seiner Höhe und beim Herniedersteigen erlebten, die Führungen und Erfahrungen jeder Menschenseele, die zum Glauben kommt und im Glauben wandelt. Die Geschichte vom Thabor ist die Bekehrungs- und Lebensgeschichte jedes Gläubigen. Erst führt der Herr dich still beiseit, dann zeigt er dir sein Königskleid und seiner Heil’gen Herrlichkeit. Doch baust du Hütten an dem Ort, dann nimmt ihn eine Wolke fort und weist dich an sein heil’ges Wort. Und zagst du, wenn die Wunder fliehn, halt‘ dich in Demuth nur an Ihn, dann kannst du fröhlich heimwärts ziehn.

Der Herr sollte und wollte sich seinen Jüngern in Herrlichkeit offenbaren. Da leitete er sie zuvörderst beiseits und führte sie auf einen einsamen Berg und nahm sie in’s Gebet. So macht’s der Herr noch heute mit jeder Seele, der er sich in seiner Heilandsherrlichkeit offenbaren will. erst führt der Herr dich still beiseit. Da geht so ein Menschenherz hin durch diese arme Welt, verstrickt in all‘ das laute Leben, und kommt vor dem Lärmen und der Mühe und der Arbeit gar nicht zur Einkehr in sich und zur Erkenntniß der Herrlichkeit Jesu Christi. Da nimmt der Herr den Menschen plötzlich bei der Hand und führt ihn in die Stille beiseits aus all‘ dem Lärmen hinaus, führt ihn in ein Sterbehaus oder legt ihn auf’s Krankenbett oder macht ihn sonstwie einsam und verlassen. Da wacht das Herz, das im lauten Leben nicht zu sich selber kam, in der Stille auf und besinnt sich auf sich selbst.

Wenn in des Müllers Hause
Das Mühlrad wird gestellt
Und plötzlich das Gebrause
In Todtenstille fällt,

Dann springt von seinem Pfühle
Der Hausherr auf erschreckt,
Er schlief beim Lärm der Mühle,
Bis ihn die Stille weckt.

So wenn die Räder stocken
An meines Tagwerks Lauf,
Dann wacht mich erst erschrocken
Die tiefste Seele auf.

Es kommen dann in solcher Stille wohl dem Menschenkinde trübe Gedanken, und es denkt, das sei bös gemeint vom lieben Herrn und ein Stück von der Nacht des Lebens, der Niemand Freund ist. Aber nein, wenn der Herr einen Menschen beiseit führt und stille macht und in’s Gebet nimmt, dann hat er gar Großes und Köstliches mit ihm im Sinne. Wie’s die Mutter macht am Weihnachtsheiligabend mit ihren kleinen Kindern; ehe sie dieselben in das Zimmer führt, wo der helle Lichterbaum brennt und die schönen Geschenke liegen, führt sie dieselben erst in’s dunkle Nebenzimmer und läßt sie da ein wenig warten; so macht’s der Herr mit seinen großen Kindern auch. Erst führt der Herr dich still beiseit -:

Dann zeigt er dir sein Königskleid und seiner Heil’gen Herrlichkeit. Nämlich wenn ein Menschenkind in der Stille und Einsamkeit seine Sinne gesammelt hat, dann erkennt es, wie die ganze Welt mit all‘ ihrer Pracht und Macht doch gar nackt und bloß und jämmerlich ist, und wie gerade die Blumen, die in ihren Gärten am üppigsten blühen, durch und durch zerfressen sind vom Wurme der Sünde. Und dann wundert sich solch‘ ein Menschenkind, daß es in der Lust und Last der eitlen Welt so viel schöne Jahre hat versäumen und verträumen können, und dann überkommt es große Reue und Trauer wegen aller seiner Sünden, und es weinet bitterlich. Aber siehe, dann gerade stellt sich der Herr Jesus vor solch‘ ein Menschenkind und zeigt sich ihm in seiner ganzen Herrlichkeit und Schöne, in seiner ganzen überschwänglichen Leutseligkeit und Freundlichkeit und spricht: „Weine nicht, sei getrost, deine Sünden sind dir vergeben; das zerstoßene Rohr will ich nicht zerbrechen, das glimmende Tocht will ich nicht auslöschen. Stütze dich auf mich und glaube, hoffe, lieb‘ und fürchte nicht!“ Und wenn ein Mensch solches erfährt, das ist die Thaborstunde seines Lebens, wo er auf seliger Höhe Wonneblicke thut in die Heilandsherrlichkeit seines Jesus, und die Welt mit ihrem Wohl und Wehe tief unter ihm zu seinen Füßen liegt. Das ist die Stunde, wo Einem die Schuppen von den Augen fallen und man nun nicht mehr glaubt, weil’s Andre sagen und lehren, sondern vielmehr um deßwillen, weil man selber sieht und hört und erkennt, daß Jesus ist wahrlich Christus, der Welt Heiland. Diese seligste Stunde auf Erden aber birgt noch eine andre Seligkeit in sich. Wenn sich des Menschen Sohn vor einer Menschenseele verklärt, so strahlen auch seine Heiligen in seinem Lichte, die Zeugen und Träger seiner Heilsoffenbarungen, von Mose und den Propheten an bis auf die geistgesalbten Zeugen unsrer Zeit; die Glorie des Herrn wirft ihren goldnen Schein auch auf die Gemeinschaft der Heiligen, deren Haupt und König er ist. Ein Menschenherz, das Jesum auf Thaborhöhn gefunden und seine Herrlichkeit geschaut, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit, findet zugleich in der Gemeinde seiner Heiligen, sowohl der triumphirenden, als der streitenden, eine große geistliche Freundschaft und Verwandtschaft, die Ritterschaft vom Orden des Kreuzes, das Israel rechter Art, das aus dem Geist erzeuget ward. Das sind die alle, die da zeugen und reden von dem Ausgange des Herrn, von seinem Blut und Wunden, dadurch das Heil erfunden, jene drohen mit neuen Zungen, diese hienieden mit Lippen vom Staube. In ihre Mitte und Gemeinschaft tritt das Menschenherz, dem Jesus sich verklärte, ein und jauchzt: Längst vermißte Brüder find‘ ich nun in Jesu Jüngern wieder!

Du bau’st gern Hütten an dem Ort. Es ist dem heiligen Petrus vielfach sehr übel ausgelegt worden, daß er seinem seligen Entzücken freien Lauf läßt in den Worten: „Herr, hier ist gut sein; willst Du, so wollen wir Hütten bauen.“ Aber was gilt’s? Wir hätten alle ebenso geredet. Es sind diese Worte eben nichts Anderes, als der natürliche Ausdruck des höchsten Wohlbehagens, das Petrus und seine Mitjünger auf dem Thabor empfanden. Da wollten sie gern die selige, schöne Stunde festhalten und ließen außer Acht, daß der Weg von da, wo es gut ist, von Taborhöhe, zu dem, wo es noch tausendmal besser ist, zum Himmel, sich noch durch viele Thäler des Leidens und des Todes winden muß. So ist es sehr natürlich für ein armes Menschenherz, wenn es nach all‘ dem Weh der Welt und der Sünde sich sonnen darf in dem Morgenglanz der Ewigkeit, der von Jesu Antlitz leuchtet, wenn es seinen Heiland gefunden hat und von ihm getränkt wird mit der Wohllust himmlischer Gnade, wie mit einem Strome, daß es diese Zeit der ersten Jesusliebe und frühen Glaubensherrlichkeit festhalten möchte, daß es Hütten bauen möchte in Thaborerfahrungen. Da ruft man wohl, wie Dr. Hermes: „Das war so prächtig, das ich im Geist gesehn; du bist allmächtig, drum ist dein Licht so schön! Könnt‘ ich an diesen hellen Thronen doch schon von heute an ewig wohnen!“ Allein der schmale Weg geht aus der Höhe in die Tiefe, ehe er in den Himmel mündet. Der Strom geistlichen Lebens, auf Thaborhöhen entsprungen, muß hinunter in’s Thal und sich lange hindurchwinden durch manche Enge und manches Gedränge, ehe er einmünden kann in das große, blaue, rauschende Meer. Die Zeit der ersten Glaubensherrlichkeit vergeht, wie alle Zeit vergeht, und es folgt die Zeit der ernsten, oft recht mühseligen Glaubenswanderung, wo der Glaube durch Proben gehen und glauben lernen muß, ohne zu sehen. Denn bau’st du Hütten an dem Ort -,

so nimmt Ihn eine Wolke fort und weist dich an sein heilig Wort. Eine lichte Wolke überschattete die Jünger auf dem Thabor und blendete ihre Augen; des Vaters Stimme aber ertönt aus der Wolke und spricht: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören“ und weist sie damit in das regelmäßige Geleise gottseligen Lebens auf Erden hinein: nicht Jesum in seiner Verklärung fortgesetzt zu schauen, ist hienieden seinen Jüngern beschieden, sondern hören sollen sie Ihn und dem Wort aus seinem Munde trau’n. So ist der neubekehrte Mensch eben noch selig im Anschaun seines Jesus, der ihm leuchtete wie die Sonne; eben öffnete er noch seinen Mund zum Preise und wußte selbst fast nicht, was er jauchzte: Da umwölkte sich der Himmel seines neugebornen Glaubens. Schmach und Spott von Seiten derer, mit denen er vormals am Joche der Sünden gezogen, überschütten ihn. Für das, was ihm jetzt das Theuerste und Liebste ist, hat die Welt nur ein Hohngelächter. Dazu tritt der Ernst des Lebens mit seinen strengen Forderungen gewaltiger an ihn heran als jemals. Der Herr aber weist den Menschen in solchem Falle einfach an und in sein heiliges Wort. Am Worte unsers Herrn, am Worte Gottes und an der Predigt desselben muß sich im gewöhnlichen Geleise des Lebens genügen lassen, wer an Jesum Christum gläubig geworden ist. Das Christenthum, das nur in seligen Gefühlen und Empfindungen besteht, hat wohl für einzelne festliche Augenblicke besonderer Erhebung seine Berechtigung; aber es würde in bodenlose Schwärmerei ausarten, wenn nicht das einfältige gehorsame Hören des Worts dazu käme und der Grundton des Lebens würde und bliebe. Wie wird ein Mensch seinen Weg unsträflich wandeln? Wenn er sich hält nach Gottes Wort. Unserm Heiland auf’s Wort gehorchen, das ist der Weg zum oberen Jerusalem.

Den Jüngern war bange, als sie aus dem Schauen auf’s Hören verwiesen wurden. Sie zagten, daß das Wunder geflohn war, daß die Himmelslust, die sie eben umweht hatte, dahin war. Der Herr richtet sie freundlich auf. Moses und Elias, Wolke und Herrlichkeit, Alles war verschwunden; aber der Herr war geblieben, sie sahen Niemand, denn Jesum allein. Er führt sie von der Thaborhöhe hinab auf den Weg, der nach Gethsemane und Golgatha ging, und ermahnt sie auf dem Gange, von dem Herrlichen, was sie gesehn, zu schweigen, bis das Kreuz aufgerichtet sei und sein blutiges Versöhnungswerk vollbracht und durch die Auferstehung besiegelt sei.

Das kostete ja freilich demüthige Selbstverleugnung, daß sie die Erinnerungen an ihre Thaborerfahrung bis zur Auferstehung für sich behalten sollten; ihr natürliches Herz hätte ja wohl gerne wenigstens mit der Erinnerung an den Thabor als mit einem Raube geprangt; aber nur durch stilles demüthiges Versenken konnten sie bleibenden Segen gewinnen und für Andre zum Segen werden. Was jenen drei vertrauten Jüngern galt, gilt auch uns. Und zagst du, wenn die Wunder fliehn, halt dich in Demuth nur an Ihn, dann kannst du fröhlich heimwärts ziehn.

Wenn die seligste Stunde der ersten Liebe, da unser Herz im Himmel war und unser Himmel bei Jesu, vorüber ist; wenn nicht mehr aus dem geöffneten Himmel Mannaströme regnen, sondern wir gewiesen sind allein an das Wort Gottes – dann sind die Wunder geflohn. Wir lagen so selig an Jesu Brust, jetzt sollen wir, wenn auch an seiner Hand, doch auf eignen Füßen wandeln; einst träumten wir auf goldnen Höhn, jetzt gilt’s sehr bescheidene, mühevolle Wege im Thale zu wandeln. Und je länger diese Wanderung währt, desto rascher zerrinnen alle Ideale. so Mancher, den wir in seiner Gebetskraft als einen Moses anstaunten, so Mancher, in dem wir einen Eiferer um Gott wie Elias sahen, verliert in der Länge seines Lebens seinen Heiligenschein vor unsern Augen, und wir fliehn, oft in bitterer Enttäuschung und allertiefster Wehmuth von den jämmerlichen Knechten zu dem majestätischen Herrn, von den Christen zu dem Gotte der Christen. Aber es schadet nichts, daß uns das Alles schwindet, wenn uns nur Jesus bleibt. Wir sollen auch Alles, Alles für Schaden achten lernen um Christi willen. Es soll auch Alles abnehmen, damit der Herr uns immer größer werde. Denn Er allein ist unsers Lebens Heil und will diese seine Ehre keinem Andern geben. Selig, wer aus allen Wirren und Irrungen des Lebens, aus allen Erfahrungen lieber und trüber Art, aus seinen Trauerstunden und aus seinen Freudenstunden Jesum sich rettet; er darf getrost das Hüttenbauen auf Erden aufgeben und, sein Angesicht dem oberen Jerusalem zuwendend, seine Straße ziehn fröhlich. Denn er hat eine vergebene Vergangenheit, eine gesicherte Gegenwart und eine unaussprechlich selige Zukunft.

Wohl werden unsre Wünsche kleiner
Und kleiner wird um uns die Welt,
Doch wird auch unsre Freude reiner
Und nicht durch Täuschungen vergällt.
Wir werden stille und bescheiden
Im Glücke, voll Geduld im Leiden;
Wir sind des Heilands Eigenthum
Und das ist unser höchster Ruhm.

Wie für das Leben der Gläubigen auf Erden, so sind auch für ihr Sterben die Vorgänge auf dem Thabor ein Gleichniß in dem Einen Punkte vornehmlich, daß Alles zerrinnt und verschwindet und Niemand uns bleibt, als Jesus allein. Wie ein großes Traumgebilde liegt in dem letzten Stündlein das Leben hinter dem Gläubigen; alle Herrlichkeit, auch alle Wolken dieser Erde sind dahin. Die Todesfurcht zittert mehr oder minder leise durch die Seele, und kein Mensch und kein Heiliger, kein Moses, noch Elias kann uns durch die bange Stunde hindurch helfen. Nur Einer ist treu geblieben, nur Einer von Allen ist bis an’s Ende mitgegangen, geht auch durch’s dunkle Thal mit, geht bis in den Himmel mit. Das ist Jesus Christus. Wenn uns am allerbängsten wird um die Seele sein, reißt Er uns aus den Aengsten kraft seiner Angst und Pein. Sein Ausgang, den er genommen hat in Gethsemane und Golgatha, davon auf dem Berge Thabor die Himmlischen mit Ihm redeten, sein Ausgang verklärt uns unsern Ausgang. Was Er zu den Jüngern sprach, da sie den Thabor verließen und Niemand sahn, als Ihn allein, spricht er zu allen Gläubigen, wenn sei das Leben verlassen und Niemand sehen, als Ihn allein: Fürchtet euch nicht! Und wie Er selbst, vom Thabor steigend, in den Tod ging und durch den Tod zur Auferstehung, so führt er auch die Seinen beim Scheiden aus dem Leben hinab in den Tod und hinauf in die Auferstehung. Erst geht’s hinab und dann hinauf, kraft seines Leichnams stehn wir auf als seines Leibes Glieder. In der Auferstehung der Gläubigen aber werden sich die Vorgänge vom Thabor noch einmal wiederholen; dann nicht mehr um wieder zu verschwinden, sondern um ewig zu bleiben. Auf der neuen Erde unter dem neuen Himmel wird Jesus Christus unter uns sein in ewiger Verklärung, und in seinem Glanze werden ewig glänzen nicht blos Moses und Elias und die Gläubigen des alten Testamentes, auch die Apostel und die Gläubigen des neuen Testamentes und auch wir selbst, wenn wir Glauben gehalten haben bis an’s Ende und unsre Kleider helle gemacht haben durch sein Blut. Da werden Hütten stehn, nicht mit Händen gebaut, ewige Friedenshütten, nicht blos für den Herrn und Mose und Elias, sondern auch für Petrus, Jacobus und Johannes und auch für uns, wenn wir Glauben gehalten haben bis ans Ende und unsre Kleider helle gemacht haben durch sein Blut. Denn auf dem himmlischen Thabor sind viele Wohnungen, und der Herr ist uns vorangegangen, uns die Stätte zu bereiten. Da werden wir alle, nicht blos Mose und Elia, da werden wir alle mit unserm königlichen Heiland reden von seinem Ausgang, den er genommen hat zu Jerusalem und durch den er die ewige Erlösung erfunden, und werden unsre Harfen schlagen und werden mit verklärten Zungen vor Ihm singen: Das Lamm, das erwürget ist, ist würdig zu nehmen Kraft und Reichthum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob. Da werden wir dann rufen wie die Träumenden, und nichts wird diesen Traum zerstören, denn es ist kein Traum, sondern Wirklichkeit: Herr, hier ist wahrlich gut sein! Das ist das Ziel, noch sind wir auf dem Wege.

Alle Jahre am 6. August feiert die römische Kirche das Fest der Verklärung Christi mit großem Gepränge. Wir Gläubigen der evangelischen Kirche feiern auf Erden ein solches Fest nicht, wir halten uns auf Erden vielmehr einfach an die Stimme des Vaters, die auf dem Thabor erscholl: Das ist mein lieber Sohn, den sollt ihr hören! Aber in der andern Welt wird es für Alle, die in dieser Welt den Herrn Jesum und sein Wort im rechten Glauben hörten, ein ewiger 6. August sein, ein ewiges Verklärungsfest. Gott mache uns dem Worte des Herrn Jesu auf Erden recht gehorsam, so werden wir im Himmel einst aus Gnaden an seinem ewigen Feste Theil nehmen auf himmlischen Thaborhöhn. Dahin, dahin, laß uns an Deiner Hand, Herr Jesu, ziehn. Amen.

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