Quandt, Carl Wilhelm Emil - Die Berge der Bibel - 5. Der Berg der Seligkeiten.

Quandt, Carl Wilhelm Emil - Die Berge der Bibel - 5. Der Berg der Seligkeiten.

„O edler Berg, zwar namenlos, doch über alle Berge groß“ – so feiert ein christlicher Sänger denjenigen der heiligen Berge, der in der Geschichte des neuen Testamentes zuerst bedeutsam wird. Es ist das diejenige heilige Höhe, von der herab der Sohn Gottes als Prophet ohne Gleichen die Predigt hielt, die da beginnt: Selig sind, die geistlich arm sind.

Namenlos ist dieser Berg, insofern die heiligen Evangelisten ihn nicht mit Namen nennen. Aber die Ueberlieferung der Kirche nennt und bezeichnet ihn uns. Zwischen dem Berge Thabor und der Stadt Tiberias im galiläischen Lande erhebt sich ein niedriger, nur 30 bis 40 Fuß hoher Bergrücken, der an seinem östlichen Ende in eine höhere, etwa 60 Fuß aufsteigende Spitze ausläuft, während am westlichen Ende ihn eine Kuppe von geringerer Höhe begrenzt; beide Gipfel sind zu kleinen runden Ebenen abgeflacht. Kurun Hattin, die Hörner von Hattin, so heißt dieser Bergrücken bei den Umwohnern. Die kirchliche Ueberlieferung aber nennt ihn den Berg der Seligkeiten, anzudeuten, daß auf diesem Berge der Herr jene Predigt hielt, die mit den sieben Seligkeiten beginnt.

Die Richtigkeit der alten Tradition der Kirche wird durch die Lage und eigenthümliche Beschaffenheit der Hörner von Hattin bestätigt. nach den Mittheilungen beider Evangelisten, die uns die Bergpredigt aufbewahrt haben, lag die Stätte der Predigt in der Nähe der Stadt Capernaum; sowohl Matthäus, als Lucas erzählen, daß der Herr, nachdem er vor dem Volke ausgeredet hatte, in Capernaum einzog. Die Hörner von Hattin aber liegen zwei Meilen südwestlich von Capernaum. Nach dem Berichte des heiligen Matthäus geschah die Predigt auf dem Berge, nach der Schilderung St. Lucä auf einem Platz im Felde; die Hörner von Hattin bieten beides dar; es sind Berggipfel, selbst zu Ebenen abgeflacht, die eine tiefer liegende Bergebene begrenzen, die sehr wohl als ein großer freier Platz im Felde angesehn werden kann.

Die Hörner von Hattin haben in der Weltgeschichte eine traurige Berühmtheit als Schauplatz wilden Getümmels und blutiger Fehde. Hier hat einst im Mittelalter Saladin den letzten Rest des Kreuzheeres mit dem Schwerte vernichtet. Hier schlug Napoleon im Jahre 1799 mit 3000 Mann 25,000 Türken. Aber in der Geschichte des Reiches Gottes haben die Hörner von Hattin fröhlicheren Klang durch die große Predigt des Friedens, die der große Friedenfürst Jesus Christus in der Fülle der Zeit auf ihrer Höhe hielt. „O edler Berg, zwar namenlos, doch über alle Berge groß! Du Zion und du Gazirim, du Sinai, verneigt euch ihm: Der Heiland lehrt vom Berge!

„Einen Propheten wie mich,“ so hatte Mose, der alttestamentliche Bergprediger, weiland dem Volke Israel geweissagt, „einen Propheten wie mich wird der Herr, dein Gott, dir erwecken, dem sollt ihr gehorchen.“ Der nun auf dem Berg der Seligkeiten steht, umgeben von andächtigen Jüngern und lauschendem Volk, und seinen Mund aufthut und die Leute lehrt und spricht: „Selig sind, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihr“ – das ist nun der Prophet, den im Geist Mose zuvor gesehn. Er ist ein Prophet wie Mose, wie er gesandt vom großen Gott, wie er der Mittler eines Bundes zwischen Gott und den Sündern, wie er Gottes Willen verkündend vom Berge. Dennoch, trotz dieser Gleiche, welche große Verschiedenheit zwischen dem Propheten vom Sinai und dem vom Berg der Seligkeiten! Dort der Mittler des alten Bundes auf einem einsamen Wüstenberge, einsam im Gewölk verborgen, unter Donner und Blitz die Worte Jehovahs empfangend und an das Volk vermittelnd, das scheu und abgezäunt in der Ferne steht. Hier der Mittler des neuen Bundes auf einem belebten Berge, von Jüngern und Volk umringt, mit holdseligen Lippen freundliche Worte redend aus der Tiefe seines gottmenschlichen Herzens heraus, und alles Volk hört freudig zu. Dort der rauhe Verkündiger des göttlichen Gesetzes, das steinerne: Du sollst! in’s Volk hineinrufend und mit eiserner Strenge die Drohung hinzufügend, daß der große und heilige Gott ein starker und eifriger Gott sei, der da dräue zu strafen alle, die seine Gebote übertreten. Hier der sanftmüthige Herold des süßen Evangeliums, anhebend mit lauter Seligpreisungen zum Troste der vom Gesetz zerschlagenen Herzen. Dort der Knecht des Hauses, selbst ein armer Sünder, ein Uebertreter seines eigenen Gesetzes. Hier der Sohn des Hauses, den Niemand einer Sünde zeihen konnte, der das Evangelium, das er lehrte, selber lebte, ja der seines eigenen Evangeliums Stern und Kern in seiner eigenen Person war. So sind sich Mond und Sonne gleich, sie sind beide Gottes Zeichen am Himmel, sie laufen beide in der von Gott verordneten Bahn, sie leuchten beide den Menschen. Aber trotz dieser Gleiche, welche Verschiedenheit! Der Mond ein kleiner Trabant der Erde, die Sonne eine große Königin des Himmels. Der Mond seinen falben Schein in dunkle Nacht werfend, die Sonne den hellen lichten Tag heraufführend und bewirkend; der Mond wachsend, zunehmend und erbleichend, die Sonne in steter, unveränderter, majestätischer Größe. Wie Mond und Sonne sich gleichen und sich unterscheiden: also und noch tausendmal mehr gleichen und unterscheiden sich der alttestamentliche und der neutestamentliche Bergprediger, der Prediger auf dem Sinai und der Prediger auf dem Berge der Seligkeiten. Du Zion und du Garizim, du Sinai, verneigt euch im - der Heiland lehrt vom Berge.

Was lehrt der Heiland denn vom Berge? In drei großen Kapiteln theilt St. Matthäus uns den Inhalt der Bergpredigt mit. Es würde den uns hier zugemessenen Raum bei Weitem überschreiten, wollten wir hier diese ganzen drei Kapitel in die Betrachtung ziehn und sie Vers für Vers erwägen. Andrerseits würde uns mit einer bloßen, trockenen Skizze der Bergpredigt auch wenig gedient sein. So fassen wir denn hier lieber allein das erste Wort der Bergpredigt, die erste Seligpreisung in’s Auge, und, will’s Gott, in’s Herz. Damit aber erlangen wir auch zugleich vollständige Kunde von Allem, was der Herr vom Berge lehrt; denn wie oft im ersten Striche ein ganzes Gemälde vorgezeichnet liegt, so sind in der ersten Seligpreisung alle andern Seligpreisungen und die ganze Bergpredigt, ja Alles, was der Herr als Prophet gelehrt, enthalten. “Selig sind, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihr,“ so lehrt der Herr vom Berge, und das ist das Programm des neuen Bundes, das in allen folgenden Versen und Kapiteln der Bergpredigt nur weiter entfaltet und näher ausgeführt wird. Geistlich arme Leute sind ihm die rechten Leute; ihnen will er die Seligkeit des Himmelreiches schenken. So lehrt der Heiland vom Berge; versenken wir uns in diese Lehre.

Es lag sehr nahe, daß unser Herr, da er seinen Mund aufthat, das Volk vom Berge zu lehren, eben die anblickte, die um ihn waren; und als er bemerkte, daß die Berggemeinde nicht in Purpur und köstlicher Leinewand prangte, sondern in Arbeiterröcken und Fischerkleidern da saß, davon Veranlassung nahm, die leiblichen Dinge auf die geistlichen anzuwenden und also anhub: Selig, eigentlich glücklich, glückselig sind die, die geistlich arm sind. Der große Bergprediger war ja selbst ein Armer auf Erden. ob er wohl reich war von Ewigkeit, war er arm geworden um unsertwillen, auf daß wir durch seine Armuth reich würden. Füchse haben Gruben, Vögel haben Nester, aber des Menschen Sohn hatte nicht, da er sein Haupt hinlegte, hatte als Kind keine Wiege, als Mann kein Haus, als Sterbender kein Sterbebette. Was Wunder, wenn sich in den Tagen seiner Niedrigkeit gerade die Armen und Geringen um ihn schaarten; wenn die Berggemeine unter ihren Gliedern nicht viel Weise nach dem Fleisch, nicht viel Gewaltige, nicht viel Edle zählte. Gleich und gleich gesellt sich gern. Zum armen Menschensohne kamen arme Menschenkinder; sie sieht er an und hebt dann an: Selig sind, die da geistlich arm sind!

Ist es nun diese äußerliche Armuth, die der Herr von den Leuten fordert, die er gekommen ist, zu suchen und selig zu machen? Ist sie die Grundbeschaffenheit, die einem Menschen nöthig ist, wenn er in’s Himmelreich kommen will? Ein hoher Sinn hat sich die geistliche Armuth in der That also gedeutet, als ob sie die freiwillige Verzichtleistung bedeutete auf Alles, was die Erde und das Erdenleben dem Menschen Liebes und Angenehmes darbieten, und in diesem Sinne haben sich Tausende geistlich arm gedünkt, wenn sie Vater und Mutter, Weib und Kind verließen, wenn sie sich lossagten von den Annehmlichkeiten des Reichthums geistlicher und leiblicher Art und in die Einsamkeit des Klosters gingen, um arm an Allem, was irdisch ist, reich zu sein am Ewigen. Die erste Seligpreisung hat unter dieser Deutung in der alten und mittelalterlichen Zeit Städte vereinsamt und Wüsten bevölkert.

Aber was im Geiste gesprochen ist, darf nicht auf’s Fleisch gedeutet werden. Es ist doch nur ein hoher fleischlicher Sinn, der das wahre Christenthum erreicht zu haben meint in einem äußerlichen Lossagen von den Gütern dieser Welt, der den Weg zum Himmel durch die Klöster der Bettelmönche gehen läßt. Wohl kann es in einzelnen Fällen für den reichen Mann zur Pflicht werden, sein Alles zu verkaufen und den Armen zu geben; das wäre die Pflicht jenes armen reichen Jünglings gewesen, dem der Mammon mit seinen goldenen Klammern das Herz so umspannt hatte, daß er, der mit dem Kopf ein Heiliger war, im Herzen ein vom Gelde geknechteter Heide war; für ihn waren die Güter dieser Welt das ärgerliche Auge, das er ausreißen mußte, wollte er von seinen hochmüthigen Einbildungen befreit und ein Jünger Jesu werden. Aber hätte er’s gethan, so wäre doch auch für ihn die äußerliche Armuth noch lange nicht die geistliche Armuth gewesen, die der Herr selig preist, sondern nur für seinen speciellen Seelenzustand die Unterlage dazu. Von einem Nicodemus, von einem Joseph von Arimathia hat der Herr eine solche Verzichtleistung auf irdischen Besitz nicht gefordert, und doch waren sei seine Jünger, also geistlich arme Leute mitten in irdischem Reichthum. Die geistliche Armuth, der das Himmelreich gehört, ist nicht äußerliche Armuth.

Fürwahr es wäre ein Kinderspiel, ein Christ zu sein, wenn jeder Bettelstab ein Zauberstab wäre, vor dem die Thüren des güldenen Schlosses im Himmel aufsprängen. Wem könnte es schwer fallen, seine paar Pfennige dran zu geben, wenn er gewiß wäre, dafür Centner Goldes zu erben? Wem könnte es schwer fallen, seine Centner Goldes dran zu geben, wenn er gewiß wäre, dafür der unermessenen Schätze der Ewigkeiten theilhaftig zu werden? Aber nicht in dieser ruhen, äußerlichen Weise wird dem Himmelreich Gewalt angethan. Nicht die leibliche Armuth, nicht der irdische Bankerut haben die Verheißung der Seligkeit, sondern die geistliche Armuth.

Im Gegensatz zu der mönchischen und bigottrömischen Auffassung der ersten Seligpreisung haben die Mystiker aller Zeiten eine tief innerliche Auffassung geltend gemacht. Sie beschreiben die geistliche Armuth als das Abgeschiedensein von aller Creatur, da der Geist, an nichts mehr sich hafte unter den endlichen Dingen, sondern allein hafte an dem, was über ihm ist, an Gott. Alles Vielfache, Mannigfaltige müsse der Mensch von sich abstreifen, müsse arm sein an Erkenntniß, arm an Tugend, arm selbst an Gnade, aller Dinge ledig und unberührt von irdischer Lust und irdischem Schmerze. Der menschliche Geist müsse sich selbst verlieren und im grundlosen Meere der Gottheit ertrinken. Aber dieser mystische Sinn verirrt sich ebensoweit nach rechts, wie jener mönchische nach links. Die Vernichtung des Creatürlichen im Menschen, auf die die mystische Deutung der ersten Seligpreisung in ihrer Spitze hinausläuft, kann nicht das Wohlgefallen dessen sein, der ein Liebhaber des Lebens ist und in den Tagen seines Fleisches selbst sich freute in Lust und weinte in Schmerz.

Die Schrift muß durch die Schrift ausgelegt werden; die geistliche Armuth, von der der Herr in der ersten Seligpreisung spricht, muß nach den Schriftstellen des alten Bundes gedeutet werden, auf die sich der Herr, der gekommen war, das alte Testament zu erfüllen, zurückbezieht. Im alten Testamente war das messianische Heil in dem, der da kommen sollte, zugesagt den Armen und Elenden und die zerbrochenen Geistes sind. „Die Elenden, sagt David (Psalm 37,11), werden das Land erben und Lust haben in großem Frieden.“ „Die Opfer, die Gott gefallen, sagt derselbe Mann Gottes (Psalm 51,10), sind ein geängsteter Geist; ein geängstetes und zerschlagenes Herz wirst Du, Gott, nicht verachten.“ „Die Elenden und Armen, weissagt Jesaias (41,7), suchen Wasser und ist nichts da; ihre Zunge verdorret vor Durst. Aber Ich, der Herr, will sie erhören, Ich, der Gott Israels, will sie nicht verlassen, sondern ich will Wasserflüsse auf den Höhen öffnen und Brunnen mitten auf den Feldern.“ Und durch den Mund desselben Propheten (61,1) spricht Christus selbst zuvor: „Gott hat mich gesandt den Elenden zu predigen, die zerbrochnen Herzen zu verbinden“ und abermal (66,2): „Ich sehe an den Elenden und der zerbrochnen Geistes ist, und der sich fürchtet vor meinem Wort.“ An diese Elenden, an diese zerschlagenen Geister und zerbrochnen Herzen wendet sich der gekommene Erlöser mit seiner Botschaft vom Himmelreich, und sie hat er im Sinne, wenn er anhebt: „Selig sind, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihr.“

So ist denn die geistliche Armuth die inwendige Zerschlagenheit der Herzen, das Gefühl des Elends und des geistlichen Mangels, das Bewußtsein: An mir und meinem Leben ist nichts auf dieser Erd‘. Es giebt Arme, die sich nicht schämen, ihre leibliche Armuth in der Welt zu Schau zu tragen und, wenn sei bettelnd vor der Thür des Reichen stehn, nicht Worte genug finden können, um ihr Elend recht groß zu machen -: die sich aber sträuben mit Hand und Fuß, den Bankerut ihrer Seele zu erklären, die Bettelarmuth ihres inwendigen Menschen zugestehen und die in der hochmüthigen Rede derer von Laodicea verharren: Ich bin nicht reich und habe gar satt und darf nichts. Solche Arme sind trotz ihrer Armuth nicht geistlich arm und nicht würdig und wohl geschickt für das Himmelreich. Es giebt Reiche, es giebt Gewaltige und gnädige Herren, die vor der Majestät der Majestäten ihre Kronen niederwerfen und kniebeugend stammeln: Herr gehe hinaus von uns, denn wir sind sündige Menschen, elend und jämmerlich, arm, blind und bloß. Solche Reichen sind trotz ihres Reichthums geistlich arm. Unter Reichen, unter Armen, so viele ihrer übereinstimmen in dem hochmüthigen Ephraimswort (Hosea 12,9): „Ich bin reich, ich habe genug; man wird mir keine Missethat finden in aller meiner Arbeit, das Sünde sei,“ – siehe, das sind verkehrte Herzen, an denen der Herr Gräuel hat, Hoffärtige, denen er widersteht. Aber unter Armen, unter Reichen, so viele ihrer die Hüllen zerreißen, mit denen der Satan dem Menschen seine inwendige Erbärmlichkeit verhüllt, so viele ihrer mit erschrocknen Gebeinen bekennen, daß sie des Ruhmes ermangeln, den sie an Gott haben sollten – siehe, das sind geistlich Arme, denen der Herr die Thüren seines Hochzeitssaales weit aufthut, denen er das verheißene Heil gewährt. Nicht als ob diese geistliche Armuth die Auflösung des Creatürlichen in uns bedingte, sondern sie ist das Grundgefühl der sündlichen Verdorbenheit der Creatur, die Erkenntniß, daß der nach Gottes Bild mit reichster Anlage geschaffne Mensch durch die Sünde verarmt, total verarmt ist.

Zu diesem Gefühle des innerlichen Mangels und der inwendigen Leere den Menschen zu bringen, war der Zweck des alten Bundes, seines Gesetzes und seiner Propheten. Die ganzen 4000 Jahre, zwischen dem Fall des ersten Adams und dem Auftreten des zweiten Adams, hat Gott gearbeitet an der Menschheit, sie geistlich arm zu machen; insbesondere aber sollte die Heilsöconomie vom Berge Sinai dazu dienen, das Gefühl des Mangels im Volke Israel hervorzurufen. Jedes feierliche: Du sollst! der heiligen zehn Gebote sollte das Geständniß wecken: Ich kann nicht und habe darum nichts als Zorn verdienet! Desgleichen waren alle Verkündigungen der Propheten darauf berechnet, den Menschen innerlich zu entblößen, um ihn für die Segnungen des Himmelreichs vorzubereiten. Nicht minder hatten alle Führungen Gottes im alten Bunde, die Führungen des Volks durch Wasser und Wüste, nach Canaan und nach Babylon, die Erwerbung geistlicher Armuth zum Ziele, damit, wenn Christus, der Bringer des Himmelreichs, in sein Eigenthum käme, die Seinen ihn und das Himmelreich aufnähmen. Aber nicht an Allen ward der göttliche Zweck erreicht; vielmehr arbeitete die große Masse des Volkes Israel ihrem Gott und seinem Heile entgegen, indem sie durch pharisäische Selbstgerechtigkeit oder durch sadducäische Leichtfertigkeit das innerliche Armuthsgefühl übertäubte und abstumpfte. Daher als Christus kam, die Armen und Elenden unter seine Flügel zu nehmen, fand er nur ein geringes Häuflein vor, das Häuflein derer, die auf die Erlösung Israels harreten. Er kam in sein Eigenthum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf; wie Viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, die an seinen Namen glauben.

Auch im neuen Bunde haben alle äußerlichen und innerlichen Führungen Gottes mit den Menschen keinen andern Zweck, als den, sie geistlich arm zu machen, damit er sie begnadigen könne mit den reichen Gütern seines Hauses. Er führt den Einen durch Glück und Glanz, um durch seine Güte ihn zur Buße zu leiten; er führt den Andern durch Noth und Elend, um ihm sein innerliches Elend zu Gemüthe zu führen. Besonders aber durch sein Wort und durch die Predigt seines Wortes will er uns zerknicken, damit er uns erquicken könne, will er uns zerschlagen, damit er uns heilen könne. Aber die große Menge verachtet den Rath Gottes wider sich, zieht seine Gnade auf Muthwillen, stellt seinen väterlichen Züchtigungen Trotz gegenüber, verhärtet Herz und Ohren wider die Mahnungen des Wortes und der Predigt. Man belügt sich selbst über seinen innern Zustand und glaubt denen, die uns belügen. Die große Menge unsrer Tage ist eine Schaar träumender Bettler, die in ihren Träumen sich einbilden, Könige zu sein. Sie schmeicheln sich, es stehe von Natur und durch ihre eigne Tugend wohl um ihre Seele, so wohl, daß sie des Heiles nicht bedürften, das allein in Christo gefunden werden kann.

Aber eine Minderzahl Solcher, die das bittere Gefühl ihres unendlichen Mangels im tiefen Herzen tragen, giebt es auch heute, wie in den Tagen der Fülle der Zeit. Es sind diejenigen, die in die Führungen Gottes, durch die er den Wahn des Reichthums uns nehmen will, willig eingegangen sind. Es sind die, die Angesichts der überschwenglichen Güte Gottes, die an ihnen offenbar geworden, erkennen und bekennen: Herr, ich bin zu geringe aller Barmherzigkeit, die du an deinem Knechte gethan! Es sind die, die in der Noth sich unter Gottes gewaltige Hand beugend erkennen und bekennen: Es ist meiner Bosheit Schuld, daß ich so gestäupet werde und meines Ungehorsams, daß ich so gestrafet werde. Es sind die, die dem Worte Gottes mit geängstigtem Herzen Recht gebend erkennen und bekennen: Da ist Keiner der gerecht sei, auch nicht Einer; darum bekenne ich dir meine Sünde und verhehle meine Missethat dir nicht. Es sind diejenigen, die sich nach ihrer Erkenntniß arm wissen an Wahrheit, nach ihrem Willen arm an Heiligkeit, nach ihrem Gefühl arm an Wohl und Heil. Das sind die rechten Israeliter. Das sind die rechten Leute, die der Heiland gebrauchen kann. Das sind die Menschen, denen das „selig“ der erste und aller Seligpreisungen und der ganzen Bibel gilt. Ein solcher war jener arme Löffelmacher, der, da ihm Martin Boos das letzte Abendmahl auf seinem Sterbebette reichte, sagte: Ich habe der Sünden mehr, als ich mein Lebtag Löffel gemacht, aber ich hoffe, daß sich der Herr meiner erbarme! Ein solcher war Friedrich Wilhelm IV., der den thränenreichen Weg der Könige dieser Zeit in Demuth wandelte und als er jenes pommersche Kind fragte: In welches Reich gehöre ich? die Antwort empfing: In’s Himmelreich! „Die ihr arm seid und elende, kommt herbei, füllet frei eures Glaubens Hände; hier sind alle guten Gaben und das Gold, da ihr sollt euer Herz mit laben.“

Was ist denn nun aber das goldne Himmelreich, dessen Besitz die Herzen der Armen und Elenden labt und selig macht? Es ist das Reich, das der Herr vorlängst den zerschlagenen Herzen verheißen hatte durch den Mund des Propheten Daniel (2,44): „Es wird Gott vom Himmel ein Königreich aufrichten, das nimmermehr zerstöret wird, und sein Königreich wird auf kein ander Volk kommen; es wird alle andern Königreiche zermalmen und verstören, aber es wird ewiglich bleiben.“ Der Erfüllung dieser Verheißung harrte auch die fleischlich gesinnte Menge in Israel, aber in fleischlichem Sinne; sie hoffte auf den Anbruch eines irdischen Messiasreiches voll zeitlicher Lust und Ergötzlichkeit. Der Herr aber wollte nicht ein fleischliches, sondern ein geistliches Himmelreich aufrichten und hat es aufgerichtet in Christo Jesu. Jesus hat durch sein Leben und Leiden, durch sein Sterben und Auferstehn das Himmelreich auf Erden gestiftet als ein Reich Gottes, das nicht ist Essen und Trinken und deß etwas, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im heiligen Geist.

Die Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert und mit der allein ein Mensch vor Gott bestehen kann, hat kein sündiger Mensch geleistet. Aber des Menschen Sohn hat sie geleistet; er hat alle Gerechtigkeit erfüllt und ist in allen Geboten und Satzungen, die der Sinai verlangte, allewege untadelig gewandelt. Damit brachte er das Reich, das Gott der Herr im Anfang der Tage auf Erden gestiftet, da er den ersten Adam ohne Sünde geschaffen, als der zweite Adam wieder auf die Erde. Er in seiner eignen Person war das Himmelreich auf Erden. Aber er behielt dies Himmelreich nicht für sich; er war eben gekommen, um es den Sündern zu schenken. Darum lebte er nicht blos ohne Sünde, sondern starb auch für die Sünder, er sühnte ihre Ungerechtigkeit, damit seine Gerechtigkeit ihnen zu Gute kommen könne. Er nahm ihre Strafen auf sich und gab sein Leben zum Sühnopfer hin, auf daß die Sünder Frieden hätten mit dem heiligen Gott. Durch sein bitteres Leiden und Sterben erfand er die ewige Erlösung, daß nun alle, die an ihn glauben, frei sind von der Strafe ihrer Ungerechtigkeit und vor Gott prangen in Christi Blut und Gerechtigkeit, als ihrem Schmuck und Ehrenkleid. So werden, die das Gesetz verdammt, durch das Evangelium von Christo gerecht erklärt und alles Bannes und aller Strafe los und ledig, haben Frieden mit Gott, weil sie durch Christum mit ihm versöhnt sind, und Freude in Gott, weil sie durch Christum dem versöhnten Gotte im Schooße ruhn.

Das ist das Himmelreich auf Erden, das der Heiland seinen Leuten schenkt, den geistlich armen Leuten. Seine Gerechtigkeit, sein Friede, seine Freude – wer diese drei Stücke hat, der hat das Himmelreich auf Erden. Gerechtigkeit, Friede und Freude in Jesu Christo – das ist das messianische Heil, das ist die Glückseligkeit, die die Propheten des alten Testamentes verheißen hatten, auf die die frommen Väter geharret hatten. Von dieser Glückseligkeit schließen sich selber aus alle, die nicht geistlich arm sind, alle die für sich selbst noch etwas sein wollen. Aber wer vom Gesetz sich hat zerschlagen lassen und in seines Nichts durchbohrendem Gefühle bekennt und spricht: „Hier kommt ein armer Sünder her, der gern aus Gnaden selig wär‘!“ - - dem thut sich auf die schöne Pforte des Himmelreiches auf Erden, den umfängt die Glückseligkeit in Jesu Christo.

Zwar nicht mehr auf dem Berge Galiläas steht heute der Herr, die Mühseligen und Beladenen zu sich zu rufen. Zur Rechten Gottes thront er jetzt. Aber die Schätze seines Himmelreichs hat er auf Erden zurückgelassen in seiner Kirche. Die heilige christliche Kirche ist die Spenderin seiner Gnaden, vermittelt durch ihre Gnadenmittel, durch Wort und Sacrament, Jedem, der sie haben will, Christi Gerechtigkeit, Friede und Freude. Wer seinem Wort, wie es der heilige Geist in der christlichen Kirche predigt, glaubt, wer dem hochwürdigen Sacramente im Glauben theilhaftig wird, der hat das Himmelreich und kann fröhlich singen: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln; er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.

Ich hatte nichts, als Zorn verdienet,
Und soll bei Gott in Gnaden sein,
Gott hat mich mit sich selbst versühnet
Und macht durch’s Blut des Sohns mich rein;
Wo kam dies her? Warum geschiehts?
Erbarmung ist’s und weiter nichts.

Das Himmelreich trägt freilich auf dieser Erde Magdsgestalt, wie Jesus Christus, das Haupt und Herz des Himmelreichs, auf Erden Knechtsgestalt trug. Die innerliche Seligkeit gläubiger Christen, ihre Gerechtigkeit, ihr Friede, ihre Freude im heiligen Geist, ist hienieden vielfach gepaart mit äußerem Drucke und Elend. Einst aber wird auch das Himmelreich äußerlich herrlich werden, gleichwie Christus Jesus verklärt ist mit ewiger Herrlichkeit. Denn wir warten eines neuen Himmels und einer neuen Erde, auf welcher Gerechtigkeit wohnt. Wenn ihr letztes Stündlein gekommen ist, bringt der Herr seine Leute aus diesem Jammerthale in das jenseitige Himmelreich; und wenn der jüngste Tag gekommen ist, fährt das obere Jerusalem auf die neue Erde herab, und seine Erlösten, herrlich nach Geist, Seele und Leib, feiern durch die Ewigkeiten der Ewigkeit vor seinem Angesicht in ewiger Gerechtigkeit, in ewigem Frieden, in ewiger Freude. Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, werden wir sein als die Träumenden.

Wie wird uns sein, wenn endlich nach dem schweren,
Doch nach dem letzten ausgekämpften Streit
Wir aus der Fremde in die Heimath kehren
Und einziehn in das Thor der Ewigkeit!
Wenn wir den letzten Staub von unsern Füßen,
Den letzten Schweiß vom Angesicht gewischt,
Und in der Nähe sehen und begrüßen,
Was oft den Muth im Pilgerthal erfrischt.

Wie wird uns sein, wenn wir vom hellen Strahle
Des ew’gen Lichtes übergossen stehn,
Und – o der Wonne – dann zum ersten Male
Uns frei und rein von aller Sünde sehn;
Wenn wir durch keinen Makel ausgeschlossen
Und nicht zurückgescheucht von Schuld und Pein,
Als Himmelsbürger, Gottes Hausgenossen,
Eintreten dürfen in der Sel’gen Reihn.

„Selig sind, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihr!“ so lehrt der Herr vom Berge. Und diese seine Lehre von Sünde und Gnade ist der Stern und Kern seine ganzen Bergpredigt und aller seiner Predigt, die er gethan auf Erden als Prophet ohne Gleichen. Wir haben solche Predigt oft gehört, von Kindesbeinen an. Aber es kommt darauf an, daß wir sie nicht blos hören, sondern auch thun. Wer des Herrn Rede hört und thut sie, der ist einem klugen Manne gleich, der sein Haus auf einen Felsen baute. Da nun ein Platzregen fiel und ein Gewässer kam und weheten die Winde und stießen an das Haus, fiel es doch nicht; denn es war auf einen Felsen gegründet. Wer aber die Predigt des großen Propheten vom Berge der Seligkeiten hört und thut sie nicht, der ist einem thörichten Manne gleich, der sein Haus auf den Sand baute. Da nun ein Platzregen fiel und kam ein Gewässer und weheten die Winde und stießen an das Haus, da fiel es und that einen großen Fall.

Sausende Stürme wehen durch diese unsre Zeit, und der Himmel hängt voll Wolken schwer, die sich jeden Augenblick entladen können, daß der Platzregen groß wird. Da fallen denn dermalen manche Häuser; denn sie sind auf Sand gebaut. Wer unter Stürmen und Platzregen das Haus seines Lebens fest haben und halten will, fest auch unter den Stürmen und Gewässern der letzten Stunde, der thut, was der heilige Prediger vom Berge ihm sagt. Er schämt sich nicht ein armer Sünder zu sein. So wird ihn der Friede des Himmelreichs umfangen, und er wird einst eingehn in die Ruhe, die noch vorhanden ist dem Volke Gottes. Amen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/q/quandt/berge/5.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain