Pank, Johannes Theodor Oskar - Abfall vom Christentum ist Rückschritt und Niedergang.
Bußtagspredigt in der Passionszeit über Gal. 3, 1-3
von
D. Pank, Geh. Kirchenrat und Superintendent in Leipzig.
Gal. 3, 1-3.
O ihr unverständigen Galater, wer hat euch bezaubert, dass ihr der Wahrheit nicht gehorcht? Welchen Christus Jesus vor die Augen gemalt war, und jetzt unter euch gekreuzigt ist. Das will ich allein von euch lernen: Habt ihr den Geist empfangen durch des Gesetzes Werke, oder durch die Predigt vom Glauben? Seid ihr so unverständig? Im Geist habt ihr angefangen; wollt ihr es denn nun im Fleisch vollenden?
Harte Worte, die der Apostel Paulus den Galatern brieflich übersendet. Aber musste nicht der Heiland selbst sich das Urteil gefallen lassen: „Das ist eine harte Rede; wer kann sie hören?“ Und kann nicht gerade hinter hartem Wort der Puls der tiefsten Liebe schlagen und sorgen? Wer meinte es treuer mit den Christen der kleinasiatischen Landschaft Galatien, als der Mann, dessen blutendes Herz sich in jedem seiner Worte verrät? Einst hatte er selbst in ihrer Mitte geweilt und ihnen das Evangelium gebracht und als seinen Kern und seine Krone Jesum Christum den Gekreuzigten. Den hatte er den Galatern förmlich vor die Augen gemalt, ihn, wie er meinte, unauslöschlich ins Herz gedrückt. Und die Galater waren durch ihn neue Menschen geworden, erfüllt vom Heiligen Geist, durchwärmt von der Liebe, geheiligt durch göttliche Kräfte. Das Beste, was sie hatten, sie hatten's ihm, dem Gekreuzigten, zu danken. Aber allerlei Truggeister waren unter sie gedrungen und hatten ihnen eine falsche Weisheit gebracht, die sie abwendete von den Fundamenten des Christentums und sie förmlich berauscht und verblendet hatte. Angesichts dessen ruft der Apostel: „Ihr unverständigen Galater, wer hat euch bezaubert?“ und führt ihnen zu Gemüt, wohin es mit ihnen gehe, unausweichlich gehe, wenn sie abfällig werden vom Evangelium.
Christliche Gemeinde, verdanken nicht auch wir das Beste, was wir haben, unsere Kultur im Staat, unsere heiligsten Güter in der Familie, unsern Frieden im Herzen, dem, der auf Golgatha gekreuzigt ward? Von Jugend auf ist er uns vor die Augen gemalt; beim Eintritt ins Leben werden wir in der Taufe gesegnet mit seinem Zeichen, dem Zeichen des Kreuzes, und wieder damit gesegnet, wenn man uns in die Erde bettet; auf den Kirchtürmen das Kreuz, auf Bibel und Gesangbuch das Kreuz: es erinnert uns an die Wurzeln unsrer Kraft und unsers Heils, das Evangelium vom Kreuz, das Christentum.
Aber geht nicht auch durch unsere Zeit eine Macht der Bezauberung, ein ansteckender Hauch der Verblendung, die mehr oder weniger bewusst dem Christentum den Krieg erklärt? ein Geist, der beim Anblick des Kreuzes grob oder fein den Ton anschlägt: „Ja, das ist das Kreuz wie weiland, das als Kind ich schaute an; abgenommen ist der Heiland, nur die Dornen blieben dran“? Christen, vom Altar grüßt uns das Kreuz; in der Passionszeit stehen wir und damit recht eigentlich unter dem Kreuz. Der Bußtag aber in der Passionszeit ist wie eine strafende Paulusgestalt, die uns hinweist auf den gekreuzigten Christus und uns fragt: wisst ihr auch, was ihr aufgebet mit alledem, das von ihm euch kommt? Wisset ihr, was es bedeutet: Abfall von Christus und dem Christentum? Hören wir die unverhohlene Antwort, die der Apostel gibt. Sind's harte Worte vergessen wir nicht, dass Bußtag ist. Abfall vom Christentum o, dass unser ganzes deutsches Christenvolk es hörte! - Abfall vom Christentum ist nicht geistiger Fortschritt, wie viele vom Zeitgeist Bezauberte wähnen, sondern geistiger Rückschritt und geistlicher Niedergang.
Abfall vom Christentum ist Rückschritt und Niedergang
1. von der Wahrheit zum Unverstand,
2. vom Geist zum Fleisch,
3. vom gekreuzigten Herrn zur Kreuzigung des Herrn.
Ein Rückschritt ist's
1. von der Wahrheit zum Unverstand.
„O ihr unverständigen Galater, wer hat euch bezaubert, dass ihr der Wahrheit nicht gehorcht?“
Was ist Wahrheit? wo finden wir Wahrheit? Wir haben eine unzweideutige Antwort auf die Frage: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben,“ und so viel auch seitdem die Menschen nach anderer Wahrheit und Weisheit gesucht haben wo ist sie denn, die man als bessere, gewissere, bleibendere gefunden hätte? wo ist das Licht, vor dem die Sonne Christus zu erbleichen hätte? Allerlei Kometen, die mit trügerischem Glanz eine Zeitlang über den Geisteshimmel der Menschheit fahren, aber keine Sonne. Sprühende Leuchtkäfer in der Nacht der großen Lebens-Fragen und Rätsel, aber die Nacht bleibt Nacht. Es bleibt dabei: Ich bin das Licht der Welt und die Wahrheit und der Weg der Wahrheit. Heilige uns in deiner Wahrheit, dein Wort ist die Wahrheit. Nicht als ob die Wahrheit nun also fertig und aufgedeckt vor uns läge, dass ein Suchen der Wahrheit für die Christen nicht mehr nötig wäre. Im Gegenteil: „Sucht in der Schrift!“ Und: „So ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen.“ Der Schatz im Acker ist da; aber wir sollen danach graben, und je tiefer du gräbst, desto mehr wirst du finden. Die Wahrheit ist in Christo erschienen; aber sie ist so geheimnisvoll reich und göttlich unergründlich, dass sich immer tiefere Tiefen in ihr erschließen und jedem neuen Suchen neues Finden zur Antwort wird. Wenn einer unsrer größten Denker erklärt hat: von Gott vor die Wahl gestellt zwischen dem Besitz der Wahrheit auf der einen Seite und dem ewigen Streben nach Wahrheit auf der andern, würde er niedersinkend bitten um das letztere, so hätte er dies, das Suchen und Streben, auch als Christ haben können. Wer aber ein Streben und Suchen meint ohne die Leuchte des Christentums, der sehe zu, dass er nicht unter das Gericht des Wortes falle, das ein anderer großer Denker gesagt hat: „Es irrt der Mensch, solang er strebt.“ Es bleibt bei dem Christuswort: Ich bin der Weg und die Wahrheit.
Und noch ein andres Wort seiner Lippen sei uns wichtig, einst unmittelbar vor seinem Kreuzesgange gesprochen: „Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.“ Wer Arges tut, der hasst das Licht; böses Getier scheut das Licht. Wer aber einen aufrichtigen Zug zur Wahrheit hat und Sehnsucht nach ihr, der hat sich noch immer angezogen gefühlt von der Erscheinung Jesu Christi, der hört seine Stimme, der kann nicht wieder von ihm los und wird durch ihn von Wahrheit zu Wahrheit geführt.
Dagegen: wo man sich gegen ihn verschließt und seine Stimme abweist, da kommt man immer weiter ab von der Wahrheit und gerät in wachsende Verirrung und Verfinsterung. „Ihr unverständigen Galater“ das Wort ist bezeichnend. Abfall von Christo ist in den Augen des Apostels Rückgang des Verstandes, Unglaube ist ihm Unverstand. Man tut immer so, als wäre Unglaube Weisheit und Geistesfortschritt, gläubiges Christentum Dummheit und Unverstand. Aber gerade umgekehrt: Christentum ist Fortschritt, Abfall vom Christentum führt zum Unverstand. Hierher gehört jenes andre bekannte Dichterwort: alle großen, aufsteigenden Zeiten der Geschichte sind Zeiten des Glaubens, alle Perioden des Niedergangs sind Zeiten des Unglaubens gewesen. Die letzte große Epoche in der Geschichte unsers Volkes wir haben sie selbst zum großen Teil durchlebt, die Errichtung des deutschen Reichs; und die Gottes Werkzeuge dabei gewesen, ein Kaiser Wilhelm, ein Bismarck, ein Moltke haben sie sich etwa als „unverständig“ erwiesen, weil sie aufrichtige Christen waren? haben nicht gerade sie das Größte geleistet in ihrem Beruf und die Größe des Vaterlandes begründet? - Und nun seht auf der andern Seite diejenigen näher an, die das Christentum ausrotten wollen aus dem Herzen unsers Volkes und eine neue goldene Zeit herbeiführen auf den Trümmern der alten christlichen Kultur - lest ihre Schriften, ihre großen Zukunftspläne - ja, sie selbst sind davon „bezaubert“ und berauscht, aber wer noch ein nüchternes Urteil hat, der kann nichts andres sagen als: Unverstand, und die Zeit wird's einmal, vielleicht mit blutiger Schrift, auch die Bezauberten lehren: Unverstand, Rückschritt zur Barbarei. Der Wahn, eine dauernde Gleichheit des Besitzes unter den Menschen herbeizuführen: welch eine Unkenntnis der gewöhnlichsten Dinge, welch ein Unverstand! Der Gedanke, das Heiligtum der Ehe preiszugeben und die Kinder von der Mutter Hand zu reißen, um sie in großen Staatsanstalten erziehen zu lassen: welch eine Verirrung, welch ein Unverstand! Der ganze Bauplan eines Staates, in dem es keine Sünde und Selbstsucht mehr gibt, in dem also die Menschen zu Engeln geworden sein müssen: welch ein Mangel der einfachsten Vernunft, welch ein Unverstand! Aber auch: wenn man das Dasein Gottes leugnet, weil man ihn mit dem Fernrohr noch nirgend entdeckt hat; wenn man sich selbst nur als ein höheres Tier ansieht, weil man bei der Sektion eines Menschen keine andern Organe gefunden hat, als bei dem Tier: welch eine Blindheit, welch ein Unverstand! „Da sie sich für weise hielten,“ sagt die Schrift, „sind sie zu Narren geworden“, und „weil sie nicht geachtet haben, dass sie Gott erkennten, hat sie Gott dahingegeben in verkehrten Sinn; ihr unverständiges Herz ist verfinstert“. Und die da meinen: ja, das alles seien allerdings arge Verirrungen und Verzerrungen, aber nichtsdestoweniger auch an ihrem Teile am Christentum zerren und reißen, die Halbgläubigen und die vornehm Ungläubigen, die nicht sehen, dass sie doch nur die Wegbereiter für jene sind sind sie nicht erst recht blind und im Unverstand? Christen, wir haben's weit genug gebracht in der Verblendung. Kehren wir um; hören wir Pauli Stimme, die uns warnt vor dem Rückschritt aus der Wahrheit in den Unverstand!
Was aber von der Gesamtheit gilt, das trifft auch für jeden einzelnen zu. Lebendiges Christentum erleuchtet und läutert Geist und Charakter; Abfall vom Christentum bringt geistig zurück. Ich habe schlichte Bauern gekannt, die trotz mangelnder weltlicher Bildung doch eine wunderbare Klarheit des Blicks und Feinheit des Urteils besaßen, lediglich infolge des veredelnden Einflusses des Christentums. Umgekehrt: wo ein Mensch von der Wahrheit des Evangeliums sich abkehrt, da kann man meist beobachten, wie, trotz aller äußeren Bildung, ein Rückgang des ganzen Menschen stattfindet, das Gewissen sich verdunkelt, das Gemüt sich verroht, der Verstand die einfachsten Begriffe und das richtige Urteil verliert. Aber noch viel mehr als das. Ich wende mich zu denen, die eine tiefere christliche Erfahrung haben, und sage mit Paulus: Abfall vom Christentum ist nicht nur geistiger Rückschritt von der Wahrheit zum Unverstand, sondern auch geistlicher Niedergang
2. vom Geist zum Fleisch.
„Im Geist habt ihr angefangen; wollt ihr's denn nun im Fleisch vollenden?“ Eine schneidende Ironie liegt in dem Wort. Die Kraft des Heiligen Geistes hatte sich einst an den Galatern bezeugt, und sie hatten die ersten Schritte eines neuen geisterfüllten Lebens, eines guten Anfangs getan. Aber doch nur eines Anfangs. Dem Anfang soll das Fortschreiten und die Vollendung folgen. Soll das nun, fragt bitter der Apostel - soll das die Vollendung des Angefangenen sein, dass ihr das Angefangene wieder vernichtet, dass ihr aus dem Geist wieder zurückfallt in das Fleisch, d. i. in eure alte vom Geiste Gottes losgelöste Natur?
Schon zur Zeit vor der Sintflut ist das Gottes Klage und Anklage: „Die Menschen wollen sich meinen Geist nicht strafen lassen, denn sie sind Fleisch.“ Und die fleischliche Richtung wird gezeichnet mit den Worten: sie aßen und tranken, sie freiten und ließen sich freien wie wir sagen würden: eine materialistische Lebensanschauung war die herrschende geworden, und sie machte das damalige Geschlecht reif zum Gericht. Und so ist es immer und immer wieder in der Geschichte gewesen. Wenn ein Geschlecht sich nicht mehr von Gottes Geist strafen, von Gottes Geist warnen und leiten ließ, wenn es das „Fleisch“, gleichviel in welcher Gestalt, auf den Thron setzte und selber „Fleisch“ wurde, dann kamen die Adler über das verwesende Fleisch.
Dass wir in einer ähnlichen Zeit uns befinden, wer wagt es zu leugnen? Das Ende des Jahrhunderts steht unter dem unverkennbaren Zeichen des Fleisches. An Stelle eines vom göttlichen Geist erfüllten Idealismus ist ein Gott und Geist fliehender Realismus getreten, eine Lebensanschauung, die es nur noch zu tun hat mit den nackten Dingen des Diesseits, mit der Natur im Gegensatz zu Gott, mit dem menschlichen Leben ohne Beziehung zu Gott. In der Literatur, in der Kunst - wem kann's noch verborgen bleiben, dass wir tief heruntergekommen sind ins Niedrige und Gemeine, ins Geistlose und Geistentleerte, in die Regionen des „Fleisches“? Bis in weite Kreise unsers Volks hinein - um was bewegt sich ihr Sehnen und Suchen, ihr Ringen und Rennen? Um Brot und Spiele, um Geld und Genuss. Daher auch die weitgehende Abneigung gegen Kirche und Religion, das unangenehm berührt sein durch jeden Luftzug aus der ewigen Welt: sie wollen sich meinen Geist nicht strafen lassen, denn sie sind Fleisch. Ja, noch mehr. War's sonst dem Materialismus genug, die Religion zu verneinen, jetzt will er selber Religion sein. Suchte sonst die zügellose Lust ihre Schlupfwinkel im Verborgenen, jetzt soll die Befreiung des Fleisches eine höhere Stufe der Freiheit bedeuten. Und das Gefährlichste liegt in der ansteckenden Macht. Ein jeder ist in Gefahr, sich anwehen zu lassen von der Sumpfluft, die aus den Niederungen aufsteigt; und auch wo man Fenster und Türen gegen sie verschließt, sie dringt auch durch die feinsten Ritzen ins eigene Haus, ins eigene Herz. Wohl zeigen sich Anzeichen reinigenden Windes, Anläufe abwehrenden Widerstandes in unserm Volk. Aber sie sind noch zu schwach und zu matt. Stärkt sie, indem ihr mannhaft eintretet in den heiligen Heerbann, der für die Würde des Menschengeistes, in der Kraft des göttlichen Geistes den Kampf des Geistes aufnimmt gegen die Propheten und Priester des Fleisches! Andernfalls, christliche Gemeinde, wenn Paulus schon den Galatern gegenüber von Vergangenheit und Gegenwart so schneidend redet, was würde er dem deutschen Christenvolk zu sagen haben, wenn er seine Gegenwart messe an seiner Vergangenheit? Du deutsches Volk, durch Jahrhunderte das Volk der Denker und Dichter genannt, Führer der andern zu den Altären des Geistes: willst du es nun vollenden im Kultus des Fleisches? Du deutsches Volk, einst die Wiege der Reformation, der Quellort neuer göttlicher Geistesströme, die sich lebenbringend über alle Gebiete ergossen: willst du es nun vollenden als tote Wüste und des Geisteslebens Sarg und Grab?
Indes noch tiefer führt der Apostel den scharfen Schnitt ins „Fleisch“. Worin bestand denn bei den Galatern der Rückfall vom Geist ins Fleisch? Christum hatte Paulus ihnen gepredigt als die alleinige Quelle der Heiligung und Erlösung; durch das gläubige Erfassen der Gottesgnade in Christo waren sie neue Menschen geworden voll Friede und Gotteskraft. Aber was musste er sehen? Irrlehrer aus jüdisch gerichteten Kreisen waren gekommen und wiesen die unerfahrenen Christen von Christo weg auf die eigene Kraft und Gerechtigkeit; eignes gesetzlich-moralisches Tun pries man als den Weg des Heils. Scharf wendet sich Paulus an ihre eigene Erfahrung mit der Frage: „Das will ich allein von euch lernen,“ das eine sagt mir nur: ist euch im Anfang eures Christentums der Geist und seine erneuernde Kraft geworden infolge eures gesetzlichen Tuns oder infolge eures Glaubens an das Evangelium? Und nun wollt ihr von der lebendigen Quelle der Gotteskraft in Christo euch abwenden zu den löchrigen Brunnen eurer eigenen Kraft, und was ihr angefangen habt in Kraft des Geistes, zustande und zu Ende bringen mit eurem ohnmächtigen Fleisch? Und sind sie denn ausgestorben in unsern Tagen, welche, die ganze Lehre von Christo für überflüssig erklärend, den Menschen hinweisen auf seine eigene Kraft, auf eine Erlösung, ohne Erlöser, durch sich selbst, auf eine Moral ohne Religion? Christen, das wünsche ich allein von solchen zu wissen, das eine frage ich sie: woher habt ihr denn eure Moral? aus euch selbst? oder nicht vielmehr vom Lebensbaum der christlichen Religion? Aber schneidet nur die Moralzweige ab von diesem Baum, und sie werden euch bald genug in euren Händen verdorren. Nur auf zweierlei gebt mir Antwort. Ist es nichts mit der Religion, also auch nichts mit einem heiligen Gott, aus dessen Hand ich mein Leben empfangen was soll mich dann moralisch hindern, es unter Umständen abzukürzen mit eigener Hand? Ist es nichts mit einem Richterstuhl Christi, vor den ich einst zu treten habe was soll mich dann hindern, eine Lüge zu sagen, ja, einen Meineid zu tun, wenn ich damit vielleicht mein ganzes irdisches Dasein vor dem Ruin bewahren kann? Löst sie nur voneinander, Religion und Moral, und ihr begrabt sie beide zumal. Vertreibt aus dem Menschen die Divinität, und es verbleibt zuletzt nur die Bestialität. Vom göttlichen Geist hinweg gibt es auch hier nur einen Weg: abwärts ins Fleisch.
Vor allem aber halte hier jeder stillen Bußtag für sich und lasse sich die ernste Frage des Apostels ans Gewissen gehen. Hast du nicht auch einst eine Zeit gehabt, wo der Heilige Geist dich fühlbar berührt und dein Leben göttlich durchhaucht und beeinflusst hat? Was ist aus dem guten Anfang geworden? Nichts trauriger, als wenn in einem Menschen der Geist Gottes allmählich zurücktritt, und das alte Wesen des Fleisches wieder zur Herrschaft kommt. Einst rang er im Gebet um Kraft wider die Lüste und Leidenschaften seines alten Menschen und hat solche Kraft spürbar erfahren; jetzt schweigen Gebet und Kampf. Einst ließ ihm der Geist keine Ruhe, als bis er, nach schmerzlicher Verfehlung, die vergebende Hand des Bruders, die vergebende Gnade seines Gottes gefunden; jetzt sucht er weder die eine noch die andre. Es ist ein ernstes Wort in der Bibel: Betrübt nicht den Heiligen Geist! Im Geist hast du angefangen; willst du's im Fleisch vollenden? Nicht wie du angefangen, wird einst entscheidend für dich sein, sondern wie du geendet. Wenn du, vielleicht bald, dein Auge schließt, wie wird man von dir sagen? „er hat vollendet im Geist“? oder „er hat geendet im Fleisch“?
Gott behüte uns alle vor Rückschritt aus der Wahrheit in den Unverstand, vor Rückfall aus dem Geist ins Fleisch, und ein Drittes, noch Ernsteres knüpft sich nur zu leicht daran in verhängnisvoller Stufenfolge. Wenn ich es ausspreche, darf ich auf kein Verständnis hoffen bei den Kindern der Welt; aber umso ernster ist es für alle, die noch Christi sein wollen. Das ist das Dritte, Furchtbare, was der Apostel warnend andeutet: Abfall vom Christentum, Untreue gegen das Evangelium führt schließlich
3. vom gekreuzigten Herrn zur Kreuzigung des Herrn.
Wir kommen damit noch einmal an den Anfang, an den Ausgangspunkt unsers Textes zurück. Das war überall Kern und Stern der Predigt Pauli: der gekreuzigte Herr. Den Korinthern schreibt er, dass er unter ihnen nichts gewusst habe als Christum den Gekreuzigten. Den Galatern schreibt er am Eingang seines Briefes ein fast erschreckendes Wort -: „So jemand euch ein andres Evangelium predigte, denn das wir euch gepredigt haben, der sei verflucht.“ Und was für ein Evangelium hat er ihnen gepredigt? Christum hat er ihnen in die Ohren gepredigt, nein, vor die Augen gemalt so fasslich und lebendig, als wäre er „unter ihnen“, vor ihrem Angesicht, „gekreuzigt“. Gerade das macht die Verschuldung der Galater doppelt schwer. Nicht allen Gemeinden war Christus also ins Herz gegraben worden. Und nun? Derselbe Christus, der ihnen vor die Augen gemalt war als für sie gekreuzigter, war jetzt nahe daran, wie Luther übersetzt, gekreuzigt zu werden von ihnen. Mag Luther den Wortlaut der Stelle nicht richtig wiedergeben, in der Sache hat er das Richtige getroffen und gefühlt. Die Schrift spricht ausdrücklich von solchen, die, nachdem sie teilhaftig geworden sind des Heiligen Geistes und geschmeckt haben das gütige Wort Gottes und die Kräfte der zukünftigen Welt, dann doch wieder abfallen und „kreuzigen ihnen selbst den Sohn Gottes“.
Liebe Gemeinde, wenn es ein Christenvolk auf Erden gibt, dem mehr als allen andern Christus der Gekreuzigte gepredigt, vor die Augen gemalt, ins Herz gedrückt worden ist, so ist es unser deutsches Volk. Luthers ganzes Werk war nichts andres als: Christum allein groß zu machen wider alle Heilige und Päpste, und sein Kreuz groß zu machen wider alle Künste der eigenen Werke. Alle Lieder unsrer Kirche, lest sie, die Perlenreihe der Passionslieder von Paul Gerhardts: „O Haupt voll Blut und Wunden“ bis zu Albert Knapps: „Ewig soll er mir vor Augen stehen“: sie malen den Mann am Kreuz als den alleinigen Helfer und Arzt. Sagen wir uns los von ihm, so werden wir aus Leuten, die bislang mit Johannes und Maria gestanden unter dem Kreuz, zu solchen, die mit den Hohenpriestern und Henkern den Herrn hinaufheben an das Kreuz.
Das braucht nicht in vollbewusster und gewollter Weise zu geschehen. Waren denn die Menschen auf Golgatha alle sich vollbewusst, was sie taten? Bittet nicht Jesus für sie: „sie wissen nicht, was sie tun“? Selbst ein Kaiphas glaubte Gott einen Dienst zu tun und in seines Volkes Interesse zu handeln, und ein Pilatus wusch öffentlich seine Hände vor dem Volk. Und doch waren sie in erster Linie schuldig an der schwarzen Tat. Ebenso geht es noch heute zu. Ihrer viele merken es gar nicht, wie sie mit ihrem Verhalten Christo gegenüber Helfershelfer werden zu seiner Kreuzigung, und sie gehen, christliche Gemeinde, bis tief in unsere Reihen hinein. Dort ein Herodes, der einmal der Neugier halber gern etwas von Jesu hört, oder der ein Zeichen, eine Wunderhilfe von ihm fordert, um, wenn er sie nicht tut, ihn fahren zu lassen. Dort ein Judas, der für klingende Münze, für einen Geschäftsvorteil, für eine Geldheirat auch sein Gewissen und seinen Glauben verkauft. Dort ein Petrus, der im Jüngerkreise fromm bekennt, und im Kreise loser Gesellen am Kohlenfeuer feig verleugnet. Dort ein Kriegsknecht, der nicht davor zurückscheut, dem Heiland ein Stück seiner Gewandung nach dem andern zu nehmen, ihn seiner Göttlichkeit zu entkleiden. Dort ein Nikodemus, der wohl in Nacht und Not Jesum zu finden weiß, aber in der Sitzung der Ratsherren, da man sein Todesurteil fällt, spricht er kein Wort und rührt keine Hand für ihn. Sie alle waren sie nicht Mitschuldige an der Kreuzigung des Herrn? Sieh' zu, welche dieser Gestalten du in deinem Busen hegst, und dann kreuzige sie in dir alles das, was noch dem Gekreuzigten widersteht und widerstrebt in deinem Wesen und Leben dein feiges, feiles, ungehorsames, untreues Herz!
Was sagt Paulus von sich in diesem selbigen Galaterbrief? „Ich bin mit Christo gekreuzigt.“ Der Bußtag will nichts andres, als dass wir dem Apostel nachfolgen auf dem Wege dieser Kreuzigung. Und wenn der Herr selbst dir zu solcher Kreuzigung hilft, indem er ein Kreuz dir schickt aus seiner Hand, sei's Krankheit, sei's schwerer Kummer, sei's bittrer Verlust: niemals, ihr Kreuzträger, kommt das Kreuz allein „dann wäre es viel zu dunkel und zu schwer; der Herr kommt mit dem Kreuze mit“, der Gekreuzigte zum Kreuzträger, um die heilende und heiligende Kraft seines Kreuzes in sein Herz zu senken, um dein einzelnes Kreuz zusammenzuschmelzen mit seinem großen Kreuz.
Angesichts des Kreuzes, das uns die Passionszeit vor Augen stellt; angesichts des Gekreuzigten, den Paulus uns vor die Augen malt: lasst uns die Hände falten zu dem Bußtagsgebet: Vergib uns, Herr Herr, wo wir uns geweigert, uns selbst ans Kreuz zu schlagen, wohl aber mitgezimmert haben an deinem Kreuz! und die Hände ineinanderlegen zu dem Bußtagsgelöbnis:
„In meines Herzens Grunde
Dein Nam' und Kreuz allein
Funkle all Zeit und Stunde!
Drauf kann ich fröhlich sein.“
Amen.