Murray, Andrew - Wachset in der Gnade - 22. Heiligende Gnade.
Röm. 6,15.
Wie nun? Sollen wir sündigen, dieweil wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind? Das sei ferne!
Je herrlicher eine Wahrheit Gottes ist, desto größer ist die Gefahr, dass sie missbraucht werde, gerade weil sie für den Menschen zu hoch und zu geistlich ist. Hatte der Apostel Röm. 5,20 gesagt: „Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade viel mächtiger geworden,“ so musste er gleich den Irrtum abwehren: „Sollen wir in der Sünde beharren, auf dass die Gnade desto mächtiger werde?“ Und hat er hier gesagt: „Ihr seid nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade,“ gleich muss er wieder fragen: „Sollen wir sündigen, dieweil wir nicht unter dem Gesetz sind?“
Diese Frage hat einen Schein von Wahrheit. Gar mancher denkt: Predige dies doch ja nicht, dass wir nicht unter dem Gesetz stehen! Das ist zu gefährlich. Die Folge einer solchen Predigt ist ja dann der unvermeidliche Gedanke: „Nun dürfen wir sündigen.“ Wie stellt sich nun der Apostel zu diesem Bedenken? Ändert er etwas an dem Wort, das er geredet hat? Durchaus nicht. In dem siebten Kapitel zeigt er ja gerade, wie völlig die Beziehung zu dem Gesetz abgebrochen ist. Der Gläubige ist durch dasselbe so wenig gebunden, wie eine Frau an einen Mann, welcher gestorben ist. Er ist von demselben befreit. Und weiter zeigt er, wie das Gesetz niemals die Kraft zum Gehorsam geben kann, vielmehr nur die Sünde vermehrt. Kap. 7,5; 8,11-24. Auf das geäußerte Bedenken aber antwortet er damit, dass er zeigt, wie die Gnade uns in eine solche neue und lebendige Verbindung mit der Gerechtigkeit (Vers 18-20), mit Gott (V. 22) und vor allem mit dem Herrn Jesus (7,4) bringt, dass die Heiligung aus derselben mit Notwendigkeit sich ergeben muss und gerade das, was das Wort „unter dem Gesetz“ niemals bewirken konnte, durch das Wort „unter der Gnade“ herrlich zu Stand kommt. Hätte Gott allein gesagt: „Ihr seid nicht unter dem Gesetz,“ hätte Er uns nur von seiner Herrschaft befreit und uns dann uns selbst überlassen, so wäre Gesetzlosigkeit infolge davon entstanden. Allein auf Sein Wort: „Ihr seid nicht unter dem Gesetz“ folgt ja das andere: „Ihr seid unter der Gnade.“ Eine neue Herrschaft ist an die Stelle der Herrschaft des Gesetzes getreten, eine neue Herrschaft, welche es ebenso genau mit der Sünde nimmt, wie das Gesetz, aber einen anderen Weg zur Unterdrückung der Sünde einschlägt. Aus diesem Grunde zeigt der Apostel in den auf unseren Text folgenden Versen, wie wörtlich er das Wort: „Unter der Gnade“, versteht. Das Gnadenleben ist und bleibt ein Leben der Unterwerfung, der Abhängigkeit und des Gehorsams. Siehe nur Röm. 6: Vers 16,18,19,22! Der von der Sünde Befreite stellt sich freiwillig zum Dienst der Gerechtigkeit, auf dass er heilig werde (V. 19), wird Gottes Knecht, zur Heiligkeit zu gelangen (V. 22). Dieselbe Gnadentat, welche den Gläubigen von dem harten Sklavendienst des Gesetzes befreit, treibt ihn durch die Vereinigung mit Christo dazu, freiwillig und darum frei der Gerechtigkeit zu dienen. Oder mit andern Worten, wie Paulus sie im siebten Kapitel Vers 4 braucht: Das Band, welches das Gesetz und den Gläubigen verbindet, ist zerrissen, weil derselbe in Christo dem Gesetz abgestorben ist. Gal. 2, 19. Jetzt aber ist er mit dem auferweckten Jesus vereinigt, durch denselben seinem Gott Früchte zu bringen.
Welch' ein herrliches Gleichnis! Ich habe einmal ein Haus gekannt, in welchem die Frau geradezu ein Sklavenleben führte. Ihr Mann achtete auf alles ganz genau. Er hatte für alles feste bestimmte Regeln, und war nie zufrieden. Essen wollte er nur, wenn seine Frau die Speisen mit eigener Hand zubereitet hatte. Nun war aber seine Frau nicht stark. So mühte sie sich vergeblich ab, ihm zu Gefallen zu leben. Sie arbeitete wie eine Sklavin und erhielt nichts anderes, als Sklavenlohn. Geld konnte sie soviel erhalten, wie sie nur wünschte, denn es war seine Ehre, dass sie gut gekleidet war. Allein Liebe fand sie nicht. Da hast du das Abbild einer Seele, welche unter dem Gesetz steht, oder mit dem Gesetz verheiratet ist. - Ich habe auch einmal ein anderes Haus gekannt, in welchem trotz aller Krankheit und Armut das Glück herrschte. Der Mann hatte seine Frau lieb. Er fand sich in ihre Schwachheit. Gar oft tat er in dem Haus etwas, was eigentlich zu der Arbeit der Frau gehört. War die Frau wieder gesund, so gab es nichts, das sie nicht gern für ihren Mann getan hätte. Er schrieb ihr nichts vor, aber jeder seiner Wünsche wurde erfüllt. Sein Wunsch und Wille war für sie Gesetz. In ihrem Haus herrschte die Liebe. Ebenso sehr, wie in dem ersten Haus das Wesen des Mannes gefürchtet wurde, wurde in diesem Hause der Wille des Mannes geliebt. Und die Folge davon war: So viel Unzuträglichkeit, Furcht und Bitterkeit sich in dem ersten Hause fanden, so viel Liebe und Glück offenbarte sich in dem andern.
So steht es mit der Gnade. Sobald uns in der Vereinigung mit Christo Sein Geist beseelt, haben wir ein Gesetz in uns, welches uns von dem Gesetz außer uns, über uns und gegen uns befreit. Gal. 5,1 u. 18; 1. Kor. 6,17; Hebr. 7,18-19 und 8,6-13.
Gar mancher Gläubige lebt auch nach seiner Bekehrung unter dem Gesetz. Erst wenn er einsieht, dass er in Christo dem Gesetz abgestorben ist, gelangt er völlig unter die Gnade. Dann erkennt er, dass er von dem Gesetz befreit ist, nicht um ohne Gesetz zu leben, sondern um unter ein höheres Gesetz zu kommen, unter das königliche Gesetz, das Gesetz der Liebe, das Gesetz der Freiheit. Während er früher es für gefährlich hielt, nicht unter dem Gesetz zu stehen, weil man ja dadurch die Freiheit zu sündigen bekäme, fängt er nun an zu verstehen, dass gerade der Umstand, dass wir uns der Gnade unterstellen, der beste und einzige Weg ist, nicht mehr zu sündigen. Er begreift, dass die Verbindung mit der Person des lebendigen Jesus, welcher das Gesetz bereits erfüllt hat, dass das Leben der Hingabe an Ihn und Seine Liebe, dass die stete Abhängigkeit von Seiner Kraft am allersichersten zu wahrer Heiligkeit führt. Seine Seele pflichtet dem Apostel Paulus bei: „Unter dem Gesetz nimmt die Sünde zu, unter der Gnade wird die Sünde überwunden.“ Nun sind wir von dem Gesetz befreit, also dass wir dienen sollen im neuen Wesen des Geistes und nicht im alten Wesen des Buchstabens. Röm. 7,6.
O lieber Christ! Scheue dich doch nicht, anzunehmen, was dir die wunderbare Liebe Gottes bereitet hat! So lange der Sünder noch unbekehrt ist und nicht in Christo lebt, steht er unter dem Gesetz, ist er zu vollkommenem Gehorsam verpflichtet und, weil er denselben nicht besitzt, verurteilt. Röm. 3,19-20; Gal. 3,10. Durch den Glauben an Christum aber entzieht er sich seiner Stellung unter dem Gesetz und tritt er nunmehr unter die Gnade. Nun sind wir zwar ängstlich, alles der Gnade zu überlassen, ohne die Hilfe des Gesetzes in Anspruch zu nehmen; Gott aber kennt die Kraft der Liebe. Er weiß dass dieselbe alles vermag. Darum fürchtet Er sich auch gar nicht, zu sagen, dass Er, gleichwie ein liebender Mann seiner Frau keine Vorschriften macht und seinen Willen trotzdem von ihr besser erfüllt sieht, als von einem Diener, welcher unter einem Gesetz steht, uns ebenso in die selige Verbindung mit Seinem eigenen Sohn bringe. Hos. 2,15,18-19. O liebe Seele, du kannst den Herrn gar nicht recht lieb haben und Ihm dienen, es sei denn, dass du an diese Seine unbegreifliche Gnade glaubst und dich im Vertrauen auf dieselbe Ihm in die Arme wirfst.
Indessen wenn du es wagen willst, die Stelle einer Magd mit der Stellung einer Gattin zu vertauschen, und unter dem Schutz der unaussprechlichen Gnade dein Leben Tag für Tag zu führen, dann wirst du es bezeugen können, dass es nehmt Weg zur Gerechtigkeit und Heiligkeit gibt, welcher so sicher und selig wäre als dieser, nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade zu stehen.
„Gott kann machen, dass allerlei Gnade unter euch reichlich sei, dass ihr in allen Dingen volle Genüge habt und reich seid zu allerlei guten Werken.“