Murray, Andrew - Nach Jesu Bild - XXIX. In seinem Leben durch den Vater.
„Wie ich lebe durch den Vater; also wer mich isst, derselbige wird leben durch mich“ (Joh. 6, 57).1)
Jede neue Betrachtung des Wandels in den Fußstapfen Jesu und nach seinem Vorbild lenkt unser Auge immer wieder auf die dazu unumgänglich notwendige Lebensverbindung zwischen dem Vorläufer und seinen Nachfolgern. Nach Jesu Bild: je länger wir über dies Wort nachdenken, desto klarer wird es uns, wie unerreichbar es für uns ist, ohne jenes andere Wort: In Jesu. Die äußere Ähnlichkeit kann nur durch eine lebendige, innere Verbindung zustande kommen. Um dieselben Werke tun zu können, wie Jesus, muss sein Leben mich durchdringen. Je ernstlicher es mir darum zu tun ist, seinem Vorbilde ähnlich zu werden, desto mehr werde ich darauf hingewiesen, Ihn als mein Haupt anzuerkennen. Nur wenn unser inneres Leben dem seinigen wesentlich ähnlich geworden ist, kann unser äußerer Wandel auch dem seinigen. entsprechen.
Wie sehr ist doch das Wort, das wir heute betrachten, dazu angetan, uns in der Gewissheit zu bestärken, dass Jesu Erdenleben wirklich mit dem unsrigen zu vergleichen ist: Wie ich lebe durch den Vater, also wer mich isst, derselbige wird leben durch mich.“ Willst du verstehen, wie dein Leben in Jesu beschaffen ist, was Er dir sein, und wie Er in dir wirken will, so betrachte nur, was der Vater Ihm war, und wie Er in Ihm wirkte. Hier haben wir ein Bild und zugleich einen Maßstab unsres Lebens in dem Sohne.
Dies wollen wir nun näher betrachten.
Jesu Leben war ein in Gott verborgenes. Als Er sich seiner göttlichen Herrlichkeit entäußerte, entsagte Er damit auch dem freien Gebrauch seiner göttlichen Eigenschaften. Als Mensch musste auch Er deshalb im Glauben leben; Er musste sich vom Vater nach dessen Wohlgefallen die Mitteilungen von Weisheit und Kraft erbitten. Er war gänzlich abhängig von dem Vater; sein Leben war verborgen in Gott. Nicht kraft seiner eigenen unabhängigen Göttlichkeit, sondern durch die Wirkungen des Heiligen Geistes redete und handelte Er, so wie Ihn der Vater dazu anleitete.
Gerade so muss auch dein Leben, du gläubige Seele, verborgen sein mit Christo in Gott. Dies soll dir eine Ermutigung sein. Jesus beruft dich zu einem Leben des Glaubens, der Abhängigkeit, weil Er selbst auch ein solches Leben geführt hat. Er hat es als ein seliges erkannt, und Er will es nun in dir wiederholen, und dich lehren, ein anderes Leben zu suchen. Er wusste, dass der Vater sein Leben war, ja, dass Er durch Ihn lebte, und dass der Vater Augenblick für Augenblick allen seinen Bedürfnissen entgegenkam. Und nun versichert Er dich, dass du durch Ihn leben sollst, wie Er durch den Vater. Ergreife diese Versicherung im Glauben, und lass den Gedanken an die Seligkeit und Fülle des Lebens, das dir in Jesu bereitet ist, und dir je nach deinem Bedürfnis reichlich mitgeteilt werden wird, dein ganzes Herz erfüllen. Betrachte dein geistliches Leben nicht länger also, als ob du selbst mit ängstlicher Sorge es bewahren und pflegen müsstest. Freue dich jeden Tag, dass du für dein Leben nicht auf deine eigene Kraft, sondern auf den Herrn Jesum angewiesen bist, gleichwie Er lebte durch den Vater.
Wie Jesu Leben, obschon ein völlig abhängiges, doch ein Leben in der Kraft Gottes war, also wird es auch das unsrige sein. Es hat Ihn niemals gereut, seiner Herrlichkeit sich entäußert und als Mensch auf Erden gewandelt zu haben. Der Vater hat sein Vertrauen nicht zuschanden gemacht, Er gab Ihm alles, was Er zur Ausführung seiner Aufgabe bedurfte. Jesus hat es erfahren, dass, so selig es auch war, im Himmel Gott gleich zu sein, es nicht weniger selig sei, auf Erden in dem Verhältnis gänzlicher Abhängigkeit von Gott zu leben, und Tag für Tag alles aus seinen Händen zu empfangen.
Kind Gottes, wenn du es willst, so kann dies Leben auch das deinige werden. Die göttliche Kraft des Herrn Jesu wird in dir und durch dich wirksam sein. Denke ja nicht, dass deine irdischen Verhältnisse ein heiliges Leben zur Ehre Gottes unmöglich machen. Jesus wollte ja eben durch sein Kommen und Wandeln auf Erden, in mitten noch schwierigerer Umgebung, als die deinige, das göttliche Leben offenbaren. Wie Er durch den Vater ein seliges Erdenleben geführt hat, also kannst auch du dein irdisches Leben durch Ihn führen. Hege nur recht kühne Erwartungen davon, was der HErr für dich tun will. Dein einziges Verlangen sei es, zur völligen Vereinigung mit Ihm zu gelangen. Es ist nicht möglich auszusprechen, was Jesus an einer Seele tun will, die wahrhaft danach sich sehnt, durch Ihn zu leben, wie Er durch den Vater lebt. Wie der Vater das Leben seines Sohnes und sein Werk herrlich gemacht hat, so wirst auch du erfahren bei allem, was dir zu tun obliegt, wie vollständig Er es übernommen hat, alles in dir zu wirken.
Das Leben Jesu war die Kundgebung seiner Lebensverbindung mit dem Vater. Er sagt: „Wie mich gesandt hat der Vater und ich lebe durch den Vater.“ Als der Vater sich in seiner Liebe auf Erden offenbaren wollte, konnte Er diese Aufgabe keinem Geringeren, als seinem geliebten Sohne, mit welchem Er völlig eins war, anvertrauen. Weil Er der Sohn war, darum sandte Ihn der Vater: und weil der Vater Ihn gesandt hatte, konnte Er nicht umhin, für sein Leben Sorge zu tragen. In der Vereinigung, worin die Sendung begründet war, beruhte auch die selige Gewissheit, dass Jesus auf Erden durch den Vater leben würde.
„Also“, spricht Jesus: „wer mich isst, derselbige wird leben durch mich.“ Vorher hatte Er schon gesagt: „Wer mein Fleisch isst, und trinkt mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm.“ Durch seinen Tod hat Er sein Fleisch und Blut dargegeben für das Leben der Welt; durch den Glauben hat die Seele Anteil an der Kraft seines Todes und seiner Auferstehung, und bekommt ein Recht an sein Leben, wie Er ein Recht hatte an seines Vaters Leben. In den Worten: „Wer mich isst“, wird die innige Vereinigung und ununterbrochene Gemeinschaft mit dem Herrn Jesu ausgedrückt, worin die Kraft des Lebens in Ihm besteht. Die Seele, welche wahrhaftig danach verlangt, einzig und völlig durch Christum zu leben, hat dazu nichts anderes zu tun, als Ihn zu essen, täglich sich von Ihm zu nähren, und Ihn sich ganz anzueignen.2)
Um hierzu zu gelangen, muss dein Herz beständig mit der gläubigen, lebendigen Gewissheit erfüllt sein, dass die ganze Fülle Jesu wahrhaftig dir gehört. Freue dich, dass Er seine menschliche Natur in den Himmel erhoben hat, freue dich der wunderbaren Fürsorge Gottes, dass durch den Heiligen Geist die Lebens-Mitteilung deines Hauptes im Himmel ununterbrochen und ungehindert dir zufließen kann. Danke Gott unaufhörlich für die Erlösung, wodurch der Weg zu dem Leben aus Gott eröffnet, und für das wunderbare Leben, das dir nun im Sohne zugänglich gemacht worden ist. Biete dich Ihm stets mit offenem Herzen und Ihm geweihten Leben zu seinem Dienste an. Durch solches Zutrauen, solche Glaubenshingabe, durch den Erguss der Liebe und die Pflege der Gemeinschaft, da seine Worte in dir bleiben, wird Jesus deine tägliche Nahrung werden. „Wer mich isst, derselbige wird leben durch mich: gleichwie mich gesandt hat der Vater, und ich lebe durch Ihn.“
Lieber Mitchrist, was denkst du hierüber? Scheint dir die Nachfolge Jesu, im Lichte dieser Verheißung betrachtet, nicht eher erreichbar, als bisher? Wer durch Jesum lebt, kann doch auch leben wie Er. Darum wollen wir dies wunderbare Leben Jesu auf Erden durch den Vater zum Gegenstand unserer anbetungsvollen Betrachtung machen, bis dass unser ganzes Herz dies Wort erfasst und gläubig annimmt: „Also, wer mich isst, derselbige wird leben durch mich.“ Dann werden wir aller Sorge und Ängstlichkeit den Abschied geben, weil derselbe Jesus, der unser Vorbild ist, vom Himmel aus das Leben in uns bewirket, das dem Vorbild nachkommen kann. Ja, dann wird unser Leben ein Lobgesang werden: Ihm, der da lebt in uns, auf dass wir leben mögen, wie Er lebte, Ihm gebührt die Liebe und Anbetung unserer Herzen. Amen!
O mein Gott, wie kann ich dir für diese wunderbare Gnade danken! Dein Sohn ist Mensch geworden, um uns die Seligkeit eines Lebens in menschlicher Abhängigkeit vom Vater zu lehren; Er lebte durch den Vater. In Ihm haben wir es sehen können, wie das göttliche Leben auf Erden wohnen, wirken und siegen kann. Und nun, da Er gen Himmel gefahren ist, und alle Macht hat, dies Leben in uns wirksam werden zu lassen, nun sind wir berufen, zu leben, wie Er auf Erden lebte: wir leben durch Ihn. O Gott, gelobt sei dein Name für diese unaussprechliche Gnade.
O HErr, mein Gott, erhöre das Gebet, das ich zu dir emporsende: Wenn es sein kann, so offenbare mir mehr, viel mehr von dem Leben Jesu durch den Vater. Ich brauche dies, o mein Gott, wenn ich leben soll, wie Er! O gib mir den Geist der Weisheit, Ihn zu erkennen. Dann werde ich wissen, was ich von Ihm erwarten darf, und durch Ihn tun kann. Dann wird es keinen Kampf, keine Anstrengung mehr kosten, nach deinem Willen und nach seinem Vorbild zu leben. Ich werde es dann besser verstehen, dass sein Leben auf Erden mir angehört, nach dem Wort: „Gleichwie ich durch den Vater, also ihr durch mich.“ Dann werde ich mich, in der freudigen Erfahrung, dass ich durch Ihn lebe, von Jesu nähren. O mein Vater, verleihe mir dieses alles in vollem Maße, um seines Namens willen. Amen!
Anmerkung. Obschon die Worte Jesu im sechsten Kapitel des Evangeliums Johannis sich nicht in erster Linie auf das Abendmahl beziehen, so lassen sie sich dennoch darauf anwenden, weil sie den geistlichen Segen bezeichnen, wovon im heiligen Sakrament die Mitteilung in sichtbarer Gestalt geschieht. Durch das Essen des Brotes und Trinken des Weines wird unser geistliches Leben nicht nur deshalb gestärkt, weil uns dadurch die Vergebung unserer Sünden versiegelt wird, sondern weil uns der Heilige Geist wahrhaftigen Anteil gibt an dem Leibe und Blute unsres Herrn Jesu. Im Heidelberger Katechismus steht hierüber auf die 76. Frage: „Was heißt den gebrochenen Leib Christi essen, und sein vergossenes Blut trinken?“ folgende Antwort: „Es heißt nicht allein mit gläubigem Herzen das ganze Leiden und Sterben Christi annehmen, und dadurch Vergebung der Sünden und ewiges Leben bekommen, sondern auch durch den Heiligen Geist, der zugleich in Christo und in uns wohnt, also mit seinem heiligen Leibe je mehr und mehr vereinigt werden, dass wir, obgleich Er im Himmel und wir auf Erden, dennoch Fleisch von seinem Fleisch, und Bein von seinen Beinen sind.“
Einer Seele, welche danach trachtet, durch Jesum zu leben, wie Er durch den Vater lebte, ist das Sakrament ein wesenhafter. geistlicher Segen, etwas mehr, als was der Glaube an das Wort Gottes geben kann. Alles unser Beten und Glauben, wodurch wir den wunderbaren Segen, durch Jesum zu leben, zu erfassen suchen, möge stets in der Gemeinschaft des Leibes und Blutes des HErrn an seinem Tische seinen Höhepunkt erreichen. Nach solcher Feier wollen wir dann hinausgehen ins tägliche Leben mit neuer Zuversicht, dass Jesus selbst das, was Er uns am großen Tag des Festes gegeben. und bestätigt hat, durch seine Kraft in uns erhalten wird, wenn wir nun wieder bloß auf die Zuflüsse seiner Gnade, die in der Gemeinschaft mit Ihm durch das Gebet und durch sein Wort uns offen stehen, angewiesen sind.