Murray, Andrew - Nach Jesu Bild - XXVI. In seiner Sanftmut.

Murray, Andrew - Nach Jesu Bild - XXVI. In seiner Sanftmut.

Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig“ (Matth. 21,5). „Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.“ (Matth. 11,29).

Auf Jesu Wege zum Kreuze wurde das erste dieser beiden Schriftworte angeführt; in seinen Leiden hat sich die Sanftmut Jesu am schönsten offenbart. O du Nachfolger Jesu, der du so gerne unter dem Schatten des Kreuzes dein Plätzlein suchst, um das Lamm Gottes anzuschauen, das für deine Sünden geschlachtet wurde, ist das nicht ein köstlicher Gedanke, dass du in einem Stück das Bild des leidenden Lammes Gottes täglich an dir tragen, dass du geduldig und sanftmütig sein. kannst, wie Er?

Die Sanftmut ist das gerade Gegenteil von allem Harten, Bitteren, Scharfen. Sie bezieht sich einmal auf unser Verhalten gegen unsere Untergebenen. Mit „Sanftmut“ sollen die Diener Christi die Widerwärtigen zurechtweisen, die Irrenden herumholen (Gal. 6,1; 2 Tim. 2,24.25). Aber auch auf unser Verhalten gegen unsere Vorgesetzten bezieht sie sich: „wir sollen das Wort aufnehmen mit Sanftmut“ (Jak. 1,21), „mit sanftem und stillem Geist“ soll das Weib dem Mann untertan sein, „das ist köstlich vor Gott“ (1 Petri 3). Die Sanftmut, als eine der Früchte des Geistes, sollte unseren täglichen Umgang mit unseren Mitchristen kennzeichnen, und sich dann auch auf alle erstrecken, mit denen wir in Berührung kommen (Eph. 4,2. Gal. 5,22. Kol. 3,12. Tit. 3,2). In der Schrift wird die Sanftmut sehr oft zugleich mit der Demut genannt, weil diese als innere Stellung der Seele die Quelle ist, aus welcher die Sanftmut entspringt.

Vielleicht tritt keine der lieblichen Eigenschaften, welche das Bild des Sohnes Gottes zieren, so selten in seinen Jüngern zu Tage, als die Sanftmut. In manchen Knechten Jesu sehen wir viel Liebe zu den Seelen, viel Hingebung im Dienst zur Rettung anderer, viel Eifer, Gottes Willen auszuführen, aber in diesem Stück lassen sie es gar häufig fehlen. Wie oft lassen sie sich bei einer unerwarteten Beleidigung vom Zorn und Ärger hinreißen und müssen nachher bekennen, dass sie die Ruhe der Seele verloren haben! Es gibt wohl keine christliche Tugend, um welche sie ernstlicher gebeten haben, als diese sie wären bereit, alles daranzugeben, wenn sie nur im Verkehr mit den Gatten, den Kindern, den Dienstboten, in gesellschaftlichen, wie in geschäftlichen Verhältnissen ihr Temperament immer völlig beherrschen, und die Sanftmut und Gelassenheit Jesu bewahren könnten. Unaussprechlich groß ist der Schmerz und die Enttäuschung derjenigen, welche gelernt haben, sich nach der Sanftmut auszustrecken, die aber noch nicht wissen, wo das Geheimnis derselben zu finden ist.

Die dazu erforderliche Selbstbeherrschung kommt manchen so unmöglich vor, dass sie in dem Wahn Trost suchen, diese Tugend sei an gewisse, natürliche Anlagen geknüpft, da sie aber ihrem Charakter zu sehr entgegengesetzt sei, könnten sie nicht erwarten, jemals zu derselben zu gelangen. Um sich zu beschwichtigen, halten sie sich an alle möglichen Entschuldigungen: sie meinen es eigentlich nicht böse: bei aller Schärfe der Zunge und der Bewegungen sei dennoch Liebe in ihren Herzen: es wäre den andern nicht gut, wenn sie zu sanftmütig wären, denn dadurch würden sie im Bösen bestärkt. Auf diese Weise wird der Ruf zur völligen Umgestaltung in das Bild der heiligen Sanftmut des Lammes Gottes aller seiner Kraft beraubt. Daneben wird die Welt in ihrer Meinung bestärkt, als seien die Christen im Grunde nicht verschieden von den andern Leuten, denn obschon die Welt davon hört, so sieht sie eben nicht, dass Jesus das Herz und Leben nach seinem eigenen Bild umwandelt. Durch die Untreue, die sich diesen Vorzug des Heils die Umgestaltung in das Ebenbild Gottes nicht aneignet, leidet die eigene Seele not, und verursacht auch der Gemeinde Christi unsäglichen Schaden.

Die Sanftmut ist köstlich vor Gott. Schon im alten Testament finden wir herrliche Verheißungen für die Sanftmütigen, und Jesus fasst sie alle zusammen in die eine: „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.“ Im neuen Testament sehen wir, dass es die Sanftmut ist, welche dem Bilde unseres HErrn seine übernatürliche, unvergleichliche Schönheit verleiht. In den Augen Gottes ist ein sanftmütiger Geist sehr wert geachtet; er ist die köstlichste Zierde des geliebten Sohnes; sollte das nicht den Kindern Gottes der mächtigste Sporn sein, danach vor allem zu trachten.

Ein jeder, der sich sehnt, mit dem Geist der Sanftmut erfüllt zu werden, wird in dem Worte Jesu: „Vernet von mir, denn ich bin sanftmütig“ reichen Trost und Ermutigung. finden. Was soll es uns aber nützen, zu lernen, dass Er sanftmütig ist? Wird nicht gerade die Erfahrung seiner Sanftmut uns den Mangel derselben desto schmerzlicher fühlbar machen? Was wir verlangen, HErr, ist, dass du uns lehrst, wie wir sanftmütig sein können. Wiederum lautet die Antwort: „Lernt von mir, dass ich sanftmütig bin.“

Wie stehen in Gefahr, die Sanftmut und die andern Gnadengaben Jesu als Geschenke zu betrachten, deren wir vorher bewusst sein müssen, ehe wir sie ausüben. Dies ist aber nicht der Pfad des Glaubens. Moses wusste nicht, „dass sein Angesicht glänzte“, er hatte aber die Herrlichkeit des HErrn gesehen. Eine Seele, welche sanftmütig will werden, muss zuerst lernen, dass Jesus sanftmütig ist. Wir müssen uns die Zeit nehmen, seine Sanftmut zu betrachten, bis das Herz des Eindrucks voll ist: Er allein ist sanftmütig, bei Ihm allein kann ich Sanftmut finden. Haben wir dies einmal erfasst, so müssen sich unsere Herzen auf die weitere Wahrheit richten: Dieser Sanftmütige ist Jesus, der Heiland. Was Er ist, was Er hat, das gehört seinen Erlösten, auch seine Sanftmut kann uns mitgeteilt werden. Aber diese Mitteilung geschieht nicht etwa so, dass Er gleichsam etwas Ihm gehöriges an uns abtritt. Nein, wir müssen lernen, dass Er sanftmütig ist, und dass Er nur dann, wenn Er in ein Herz einzieht und davon Besitz ergreift, seine Sanftmut mitbringen kann. Mit der Sanftmut Jesu im Herzen können wir sanftmütig sein.

Wir wissen, wie wenig es Ihm, so lang Er auf Erden lebte, gelang, seine Jünger sanftmütig und demütig zu machen. Dies kam daher, weil Er das neue Leben, das Auferstehungsleben noch nicht erlangt hatte, und ihnen seinen Heiligen Geist noch nicht mitteilen konnte. Aber jetzt kann Er es. Er ist zur Rechten der Kraft Gottes erhöht, um von da aus in unseren Herzen zu regieren, jeden Feind zu besiegen, und sein heiliges Leben in uns fortzuführen. Jesus war auf Erden unser sichtbares Vorbild, damit wir an Ihm sehen möchten, welcher Art jenes verborgene Leben sei, das Er vom Himmel her uns geben, ja, das Er selbst in uns zustande bringen wollte.

„Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig“; unaufhörlich klingt dies Wort in unseren Ohren, als unseres HErrn Antwort auf alle die traurigen Klagen seiner Erlösten über die Schwierigkeit, ihre Leidenschaft im Zaune zu halten. O mein Bruder, meine Schwester! Wozu ist Jesus, dein Jesus, dein Leben und deine Kraft? Wozu ist Er der Sanftmütige und Demütige, wenn Er, der dir so vollständig angehört, dir nicht seine eigene Sanftmut einpflanzen wollte?

Darum glaube nur! Glaube, dass Jesus dein Herz mit seinem Geist der Sanftmut erfüllen kann. Glaube, dass Jesus selbst durch seinen Heiligen Geist das Werk in dir vollenden will, wonach du vergeblich getrachtet hast. „Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig!“ Heiße Ihn willkommen in deinem Herzen, damit Er darin wohne. Erwarte, dass Er sich dir offenbaren wird. Davon hängt alles ab. Lerne von Ihm, dass Er sanftmütig und von Herzen demütig ist, so wirst du Ruhe finden für deine Seele.

O mein Heiland, verleihe mir jetzt, überschattet von deinem Heiligen Geiste, zu dir zu nahen, und deine himmlische Sanftmut mir anzueignen. HErr, du hast mir nicht deine Sanftmut gezeigt, als ein Gesetzgeber, der da verlangt, aber nicht gibt. Du bist Jesus, der du uns von aller Sünde erlösest, und uns dafür deine himmlische Heiligkeit mitteilst. HErr, ich möchte deine Sanftmut, als ein Teil des mir erworbenen Heils beanspruchen. Ich kann sie nicht entbehren. Wie kann ich dich verherrlichen, wenn ich sie nicht besitze? HErr, ich will von dir lernen, dass du sanftmütig bist. O lehre es mich, und lehre mich auch, dass du immer bei mir, immer als mein Leben in mir bist. Wenn ich in dir bleibe, und du in mir bleibst, dann wirst du, der Sanftmütige, mich dir ähnlich machen.

O heilige Sanftmut! Du bist nicht nur zu kurzem Besuch auf unsere Erde hinabgestiegen, um dann wieder in den Himmel zu verschwinden. Du bist gekommen, dir eine Heimstätte hier zu suchen; ich biete dir dazu mein Herz an; komm und wohne darinnen.

O du Lamm Gottes, mein Heiland und Helfer, ich verlasse mich auf dich. Du wirst mit deiner Sanftmut in mir Wohnung machen, und mich dadurch in dein Bild umgestalten. O komme jetzt, während ich vor dir liege, und aus freier Gnade offenbare dich mir als meinen König, der da kommt sanftmütig, um völligen Besitz von mir zu ergreifen.

„Deiner Sanftmut Schild,
Deiner Demut Bild
Mir anlege
In mich präge,
Dass kein Zorn noch Stolz sich rege:
Vor dir sonst nichts gilt,
Als dein eigen Bild.“

Amen!

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