Monod, Theodor - Die Gabe Gottes. - 1. Ihre Quelle.
“Also hat Gott die Welt geliebt, dass ER Seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass Alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“
(Joh. 3,16.)
Liebe Brüder, ich möchte mit Euch gern wieder einmal unsere Erlösungsgeschichte, diese uralte und doch ewig neue Geschichte durchgehen. Als gemeinsamen Mittelpunkt all der Gedanken, die ich über diesen Gegenstand Euch könnte mitzuteilen haben, will ich den einen großen Gedanken, oder besser gesagt, die eine große Tatsache setzen: „Die Gabe Gottes!“ Joh. 4, 10.
„Wenn du erkennst die Gabe Gottes“, sagte der Heiland zu der Samariterin. Und diese Gabe haben wir ja doch vor allen Dingen nötig; wenn wir sie haben, so haben wir Alles. Es ist sehr schade, dass wir uns manchmal darüber streiten, auf welche Weise wir wohl am besten den Akt, durch den man diese Gabe ergreift, erklären könnten, anstatt die Gabe einfach anzunehmen, uns davon zu nähren und davon zu leben. Der Grund, auf den ich mich stütze, ist allein das Wort meines Gottes. Ich will hier keinen Menschen reden lassen, weder einen lebenden noch einen toten; das Wort Gottes soll reden und dies Wort ganz allein. Ich verstehe nicht viel von Theologie; nicht als ob ich dieselbe gering schätzte, denn ich glaube im Gegenteil, dass es heutzutage viel auf diesem Gebiet zu tun gibt. Aber meine theologische Unzulänglichkeit erlaubt mir, spitzfindige, verwirrende Fragen zu umgehen. Oft muss ich an das Wort eines frommen, biederen Bauersmannes denken, der, als ein Gelehrter sich mit ihm über irgend einen schwierigen Punkt stritt und sagte: „Mein lieber Freund, Sie scheinen mir ja bei den Kirchen-Vätern nicht sehr zu Hause zu sein,“ antwortete: „Da haben Sie recht; aber desto besser kenne ich die Großväter,“ und hiermit meinte er die Apostel.
Es liegt hierin für uns Alle eine tiefe Lehre. Denn haben nicht auch wir unsere Traditionen: ausgezeichnete Bücher, die von Gottesmännern, welche wir lieben und hochachten, geschrieben sind? Wir beklagen die Blindheit der Katholiken, die sich mehr auf die Kirchenväter, als auf die heilige Schrift verlassen; hüten wir uns drum wohl, gerade dasselbe zu tun! Wir wollen also jetzt die guten Bücher bei Seite lassen; wir wollen selbst für den Augenblick die persönliche Erfahrung, sei sie gut oder schlecht, bei Seite lassen. Wir stimmen nicht mit gewissen Freunden überein, die es besser finden, dass man die freudigen, siegreichen Erfahrungen verschweige, die sich aber gar nicht scheuen, traurige Erfahrungen von Niederlagen in den Vordergrund zu stellen.
Wir berufen uns also auch nicht auf die Erfahrung, sondern einzig und allein auf das Wort unseres Gottes.
Wenn wir an die Gabe Gottes denken, so ist die erste Frage, welche sich uns aufdrängt, diese: „Woher kommt diese Gabe?“ Mit andern Worten: „Wie kann Gott uns irgend eine Gabe zu geben haben?“
Denkt an Gott, der Alles geschaffen hat, der nur zu sagen brauchte: „Es werde Licht!“ und es ward Licht; an Gott, dessen Namen wir höchstens zitternd stammeln können; an Gott, der nicht nur heilig, sondern die Reinheit selbst, die Majestät, das Licht ist; an Gott, vor dem wir uns fürchten. Ja, jeder Mensch hat die Neigung, vor Gott zu fliehen. Wenn eine Stimme in ihm ruft: „Du hast Gott nötig“, so ruft auch eine andere: „Du hast dich an Gott versündigt,“ und der Mensch will sich verstecken, wie Adam im Garten Eden.
Diese Welt ist ohne Gott und ihr Wesen steht gegen Ihn. Gott hätte sagen können: „Mögen sie ohne mich fertig werden“, ER hätte uns dem Verderben preisgeben können. Aber ER hat es nicht getan. Was hat ER denn getan? Hat ER uns gute Lehren geschickt, wie wir uns selber helfen könnten? Er hat mehr als dies an uns getan. Hat ER ein Beispiel vollkommenen Gehorsams, vollkommener Heiligkeit und Geduld uns vor Augen gestellt? ER hat viel mehr getan: ER hat uns eine Gabe gesandt. ER hat uns nichts verkauft; ER hat uns nicht eine Sache gewährt, damit wir Ihm eine andere dafür wiedergäben; ER hat nicht nur versprochen, uns etwas zu geben; ER hat sich nicht damit begnügt, uns etwas anzubieten…. Nein, Gott hat der Welt Seinen Sohn nicht nur angeboten, ER hat Seinen Sohn gegeben. Wenn ich auf diesen Tisch einen Haufen Goldstücke legte und sagte: „Ich gebe dieses Gold, wer da will, kann nehmen, so viel ihm beliebt“, so könntet ihr von eurem Gesichtspunkt aus sagen, dass dies ein Anerbieten sei; insoweit es mich aber betrifft, ist es eine Gabe, und wenn es keine Gabe wäre, hätte Niemand das Recht es zu nehmen.
Worin besteht die Gabe Gottes? Wir halten uns zunächst nicht lange bei diesem Punkt auf, obgleich das der eigentliche Kern unseres Gegenstandes ist: „Gott hat uns Seinen eingeborenen Sohn gegeben.“
Wann hat ER Ihn gegeben? Von Anfang an. Ehe ihr oder ich, ehe unsere Voreltern geboren waren, ehe Adam geschaffen war, vor Grundlegung der Welt, hat ER ihn im tiefsten Herzensgrund gegeben, uns gegeben, für uns dahingegeben. Warum hat ER Ihn gegeben? Weil ER uns geliebt hat. O, meine Brüder, wenn wir das nur einmal verstehen lernten, dass Gott uns geliebt hat.
„Gott ist (die) Liebe,“ (1. Joh. 4,8.) sagt der Apostel. Die Bibel enthält nicht viele Erklärungen über das Wesen Gottes; dennoch gibt sie deren zwei oder drei. Gott ist (die) Liebe. Wir lernen hier nicht, was Gott befiehlt, was ER verspricht oder gibt, sondern was ER ist.
Vor allem: „Ich bin, der ich bin.“ 2 Mose 3,14. (Nach der deutschen Bibel lautet der Text: Ich werde sein, der ich sein werde.“) „Ich bin hat dich zu ihnen gesandt“, sprach Gott zu Mose. Ein aufmerksames Studium dieses Namens in der heiligen Schrift lässt erkennen, dass er nicht allein, oder hauptsächlich das absolute Dasein Gottes, im übernatürlichen Sinn des Wortes, bedeutet, sondern auch zeigt, wie treu Gott Seinem eigentlichen Wesen bleibt. Weiter heißt es: „Gott ist (das) Licht,“ (1 Joh. 1,5.) das heißt, die Wahrheit und Heiligkeit, die Wirklichkeit selbst und die Reinheit selbst. Und mehr noch: „Gott ist die Liebe.“
Dieses Wesen, welches die Liebe und das Licht ist, hat zahlreiche Eigenschaften. Nirgends aber steht geschrieben, dass Gott die Majestät ist, dass ER die Gerechtigkeit ist; ebenso wenig wird dies von irgend einer andern Seiner Vollkommenheiten gesagt; aber es steht geschrieben, dass, „Gott die Liebe ist,“ dass, „Gott das Licht ist.“ Nicht nur, dass ER das Licht und die Liebe besitzt, sondern, dass ER die Liebe ist: die gerechte, die heilige Liebe, die reiche und eifrige Liebe, die Liebe, welche züchtigt, die allmächtige, die ewige Liebe.
Die Liebe, wen liebt ER denn? Hier müssen wir zu allererst fragen: „Wenn Gott die Liebe ist, wie konnte ER denn lieben, ehe die Welt geschaffen war und irgend etwas bestand?“ Denkt euch, ein Mensch habe sein ganzes Leben einsam in einer Wüste verbracht, könntet ihr von ihm sagen: „Dieser Mensch hat ein liebevolles Herz.“ Wie wisst ihr das? Wen liebt er denn? Wie zeigt er seine Liebe?
O, meine Brüder, hier dürfen wir einen tiefen Blick tun in das innerste Wesen unseres Gottes! Wir fragen, wen Gott liebte, ehe ER irgend etwas geschaffen hatte? Die Bibel antwortet hierauf, dass Gott einen Sohn hat, Den ER liebt, dass Gott von Ewigkeit her einen Gegenstand Seiner Liebe hatte, der das Ebenbild Seines Wesens ist, dass die Einigkeit Gottes keine Einsamkeit ist; dass in dieser Einheit Gottes ein inniger Herzensverkehr, eine gegenseitige Liebe besteht; dass es ein Wesen gibt, welches „der Abglanz Seiner Herrlichkeit und das Ebenbild Seines Wesens ist,“ (Hebr. 1,3.) in dem ER Sein eigenes Bild sieht und sich in einem andern „Ich“ liebt.
Lasst uns wenig Worte machen, wenn wir an die Dinge herantreten, in welche es selbst die Engel gelüstet, bis auf den Grund zu schauen, und hinsichtlich derer wir wohl tun, uns an die Erklärungen der Bibel zu halten, die uns erlauben, etwas von dieser wunderbaren Gottesliebe durchblicken zu sehen. Was für einen Gott haben wir doch! ER ist nicht der Gott der Philosophen, ein armer, kalter, einsamer Gott. O nein, ER ist ein Gott, der von Ewigkeit her Vater ist. Denkt daran, was das heißt. Das Reich Gottes ist das Reich eines Vaters. Wenn wir hier auf Erden das haben, was man ein Vaterherz nennt, so kommt dies daher, weil wir einen Vater im Himmel haben. Gott ist der ewige Vater und Jesus ist der ewige Sohn; Ihn liebt Gott über Alles. Liebt ER denn noch andere Wesen? Ja. Die Bibel erzählt uns von vielen Menschen, von denen es heißt, Gott liebte sie. Zu Daniel, zum Beispiel, sagte der Engel Gabriel: „Du von Gott geliebter Mann.“ (Dan. 10,19.) Und wir denken dann wohl bei uns: „O, wäre ich ein Daniel!“
Gott liebte das Volk Israel; zahlreiche Stellen bezeugen uns dies. Ich greife eine heraus: „Nicht hat euch der HErr angenommen, und euch erwählt, dass euer mehr wäre, denn alle Völker; denn du bist das wenigste unter allen Völkern: sondern dass ER euch geliebt hat.“… (5 Mose 7,7 und 8.) Und dann: „Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu Mir gezogen aus lauter Güte“. (Jer. 31,3.) Hört noch die ersten Worte aus dem Buche des Propheten Maleachi: „Ich habe euch lieb, spricht der HErr“. Und wir seufzen vielleicht: „O, dass wir zum Volk Israel gehörten!“
Aber ich darf euch gute Botschaft bringen. Ihr habt nicht nötig, ein Daniel zu sein, oder zum Volk Israel zu gehören; hört, was der Apostel Paulus sagt: „Da aber erschien die Freundlichkeit Gottes, unseres Heilandes, und Seine Liebe zu den Menschen“ (Tit. 4,3.)… Gott hat die Menschen geliebt. Gott schuf den Menschen nach Seinem Bild und liebte ihn; ER liebte ihn, ehe er fiel und nachdem er gefallen war.
Hier lasst uns nicht zwei Dinge verwechseln, die ganz verschieden sind: die Liebe Gottes zu dem Menschen, selbst dem verkommensten und widerspenstigsten, und das Wohlgefallen, welches Gott an einem Menschen hat, der zu Ihm zurückkehrt. Schaut den Vater des verlorenen Sohnes. Hat er auch nur einen Augenblick aufgehört, seinen Sohn zu lieben? Liebte er ihn nicht, ehe er das Vaterhaus verlassen, und nachdem er es verlassen hatte, und die ganze Zeit, während er ferne war? Aber er hatte kein Wohlgefallen an ihm, er billigte sein Benehmen nicht; er hätte ihn nie wieder aufnehmen können, wenn der Sohn unter das väterliche Dach hätte die Gefährten seines leichtsinnigen Lebens und die schlechten Frauen bringen wollen, mit denen er sein Erbteil vergeudet hatte. Sobald er aber umkehrt, empfängt ihn der Vater mit offenen Armen; und nun hat er seine Lust an ihm, und gibt ihm den Platz, der während der ganzen Zeit seiner Rückkehr für ihn aufbewahrt geblieben war. Aber an dem Tage fängt er nicht erst an, sein Kind zu lieben.
Ebenso können wir zu jedem Menschen, wer immer er auch sei, sagen: „Gott liebt dich; aber eben darum darfst du nicht in deiner Empörung beharren und ferne von Gott bleiben. Komm schnell zurück, komm heim zum Vaterhaus, zum Vaterherzen, damit des Vaters Liebe auf dir ruhen und ER Sein Wohlgefallen an dir haben könne!“ Hört, was der Apostel zu den Römern sagt: „Darum preist Gott Seine Liebe gegen uns, dass Christus für uns gestorben ist, da wir noch Sünder waren.“ (Römer 5,8.) Wenn Gott sagt: „Liebt eure Feinde“, glaubt ihr, dass ER dies nicht auch selbst tut? ER ist für Seine Feinde gestorben, um sie zu Seinen Freunden zu machen; in Christo Jesu hat ER unser aller Sünde auf sich genommen. Hört noch ein Wort aus des Heilandes eigenem Munde: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass ER Seinen eingebornen Sohn gab, auf dass Alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ (Joh. 3,16.)
Dies ist der Maßstab Seiner Liebe. Und nun sagt mir, seht ihr euren Namen in der Bibel geschrieben? Sagt, seid ihr in der Welt, gehört ihr zu der Welt? „Also hat Gott die Welt geliebt, dass ER Seinen eingebornen Sohn gab.“ Das ist die Gabe Gottes.
Stellt euch vor, dass der große Gott auf diese elende, kleine Welt voller Sünder herabschaute und sah, dass ER diese Sünder in Seine heilige Gemeinschaft nicht aufnehmen konnte, weil sie unter einem Todesurteil standen, weil eine unheilbare Krankheit sich ihrer bemächtigt hatte, und sie schuldig, voll Sünde und Makel waren, und endlich weil Seinem heiligen Gesetz Genüge geleistet werden musste.
Was hat ER alsdann getan? Wenn es uns erlaubt ist, in solchen Ausdrücken von Gott zu sprechen, so möchte ich sagen, wir können Ihn uns vorstellen, wie ER in sich selbst sucht, auf welche Weise ER die Welt erlösen könne, und zu dem Schluss kommt, dass, wenn die Welt überhaupt erlöst werden sollte, ER selbst, in der Person Seines eingebornen Sohnes („Gott war in Christo“ 2 Kor. 5,19.) auf die Erde kommen und Mensch werden müsse, um die Sünde der Menschen zu sühnen und die Welt mit Ihm selber zu versöhnen.
Und ER hat es getan.
ER hat Seinen eingebornen Sohn dahingegeben. ER hat ihn in der Sünder Hände überantwortet, und der Sohn hat gesagt: „Siehe, ich komme zu tun, Gott, Deinen Willen.“ (Hebr. 10,9.) „Er nahm Knechtsgestalt an, und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.“ (Philip. 2,7.8.) Meine Brüder, versteht ihr diese Liebe? Nein, ihr versteht sie nicht; nein, ich verstehe sie nicht; die Engel selbst verstehen sie nicht. Niemand versteht sie, als Gott allein. Wir lesen, dass „Jesus weinte“, als Ihm, am Grab des Lazarus, das ganze Elend, der Jammer und die Zerrüttung entgegentrat, welche die Sünde in diese Welt gebracht hat. Und die Juden, welche Ihn weinen sahen, sagten: „Siehe, wie hat ER ihn so lieb gehabt“ (Joh. 11,36.), was so viel heißen sollte, als: „Wir wussten wohl, dass ER einer ihrer Bekannten und Freunde sei, aber, dass ER sie so lieb gehabt, das hätten wir niemals gedacht.“ O, meine Brüder, als der HErr Jesus, der eingeborne Sohn Gottes, unser Fleisch und Blut angenommen, und am Kreuz, wie ein Übeltäter starb; als Sein Blut mit Seinen Tränen herabrann für die, welche Ihn an das Kreuz genagelt hatten, da mussten die Engel Ihn anschauen, und sich einander bestürzt ansehen, während, unter dem Schatten der Flügel, mit welchen sie das Angesicht vor dem Allerhöchsten bedecken, ein Seraphim dem andern leise zurief: „Seht, wie hat ER sie so lieb!“