Monod, Theodor - Die Gabe Gottes. - 4. Ihre Folgen.

Monod, Theodor - Die Gabe Gottes. - 4. Ihre Folgen.

“Welcher auch Seines eigenen Sohnes nicht hat verschont, sondern hat Ihn für uns Alle dahin gegeben; wie sollte ER uns mit Ihm nicht Alles schenken?“
(Röm. 8,32.)

Was es heißt, die Gabe Gottes annehmen, haben wir gestern gesehen, meine Brüder, und ich hoffe selbst, dass wir mehr getan haben, als es nur zu sehen. Ich fürchte, das gestehe ich ganz offen, dass wir nur zu leicht, indem wir versuchen, wichtige Wahrheiten klar zu machen, den wichtigsten Punkt aus dem Auge verlieren, und der ist: Christum zu ergreifen, uns wieder mit Ihm zu vereinigen und Ihn mit festerer Hand, mit aufrichtigerem und gläubigerem Herzen zu halten. Wir müssen uns sehr hüten, dass die Anstrengungen, ja selbst die gerechtfertigten Anstrengungen, welche wir machen, um uns zu erleuchten, dem Feinde nicht dazu dienen, uns vom Heiland abzuziehen, und uns ferne von Ihm zu halten. ER allein ist das Licht!

Ich wende mich nun an einen Gläubigen, der das Anerbieten Gottes mit „Ja“ beantwortet, der die Gabe Gottes angenommen hat. Was wird für diesen Gläubigen daraus erfolgen? Der Apostel beantwortet diese Frage mit einer andern: „Wie sollte ER uns mit Ihm nicht Alles schenken?“ Achtet wohl auf die Form dieses Schlusses. „Wenn ER Seines eigenen Sohnes nicht hat verschont, sondern hat Ihn für uns Alle dahingegeben, wie sollte ER uns da mit Ihm nicht Alles schenken?“ Die Frage bleibt ohne Antwort; als ob der Apostel sagte: Es ist ganz unvernünftig anzunehmen, Gott würde uns nicht Alles schenken, wenn ER uns doch Jesum gegeben hat. Diese Frage erinnert mich an eine andere, welche ich in unserer vorigen Zusammenkunft vergessen habe, auf die ich aber, ehe wir unsern Gegenstand weiter behandeln, einen Augenblick eure Aufmerksamkeit lenken möchte. Es handelt sich noch um eine Frage ohne Antwort; der HErr richtet sie an die Juden: Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre von einander nehmt? Und die Ehre, die von Gott allein ist, sucht ihr nicht.“ (Joh. 5,44.)

Diese Stelle ist von der größten Wichtigkeit; denn wir lernen daraus, aus des HErrn eigenem Mund, dass es sittliche Hindernisse gibt, welche die Ausübung des Glaubens, und zwar des wahrhaftigen Glaubens, verhindern, und dass der Glaube an sich eine Handlung ist, welche den ganzen Willen des Menschen, sein ganzes Leben, und sein ganzes Herz in Mitleidenschaft zieht. Jesus sagte zu den Juden: „Wie könnt ihr glauben?“ Und warum können sie es denn nicht? Wäre es darum, weil die Wahrheit nicht klar genug ist, oder weil sie nicht wissen, was Glaube ist, oder weil sie das Bekenntnis des Glaubens nicht ablegen? Nein, darum sagt ER, weil ihr Ehre von einander nehmt; weil in eurem Herzen etwas ist, nämlich „die Ehre, die von den Menschen ist,“ woran ihr mehr hängt, als an der Ehre, die von Gott allein ist. Wie könnt ihr glauben, so lange es mit euch so steht? Und dies lässt sich auf jegliche Sünde anwenden. Wie könnt ihr glauben, so lange ihr noch fest in dieser Sünde beharrt und sie an euer Herz drückt? Die Sache ist rein unmöglich!

Doch lasst uns zu der Seele zurückkehren, die gesagt hat: „Hier bin ich mit all' meinen Sünden, gefesselt mit den Banden der Sünde, Knecht der Sünde; aber ich willige ein, und ich sehne mich danach, erlöst zu werden und Dein zu sein. O HErr, ich verlasse mich allein auf Dich!“ Diese Seele gehört von da an dem HErrn. Ihre Ketten fallen; der Sohn hat sie frei gemacht, sie ist wahrhaftig frei. Hieraus folgen zwei Dinge.

Erstlich, Christus ist euer. Überlegt, was das sagen will. Ein hochgeschätzter Bruder, welcher mit Versammlungen wie dieser nicht ganz übereinstimmt, schrieb kürzlich, dass wir uns in diesen Zusammenkünften einzig und allein darauf beschränkten, darzulegen, dass wir Alles in Christo haben. Ich lasse das gelten; aber ist das nicht viel? Ist es nicht Alles? Könnt ihr noch etwas hinzufügen? Könnt ihr noch irgend etwas mehr ersinnen? Das ganze Leben, die ganze Wahrheit fasst sich kurz darin zusammen, dass in Christo Alles ist für alle Sünder, für euch, für mich, für „jeden, der da will.“ Christus ist euer. Der Sohn Gottes ist euer. Gott ist euer in Christo.

Und sollen wir nun unseren Schatz in seinen Einzelheiten genau betrachten? Sollen wir das Schmuckkästchen öffnen, welches all' unsere Kleinodien birgt? O, wir hätten dann genug zu tun, um unsere Lage, unsere Jahre, und die ganze Ewigkeit auszufüllen. Und doch würden wir dann noch nie völlig erkennen, was es heißt, „Christus ist unser.“

Nehmt darum irgend etwas, was Christo gehört und sprecht: „Das gehört mir.“ Schreibt euren Namen mit dem Seinigen daran. Die Gerechtigkeit Christi ist euer, sie ist ganz euer. Sie ist als die eurige angenommen, sie ist euch zugerechnet, sie ist euch gegeben, sie gehört euch. Gott eröffnet euch, um so zu sagen, eine Rechnung, und schreibt die Gerechtigkeit Christi auf euren Kredit hinein, ohne irgend welches Verdienst eures Teils.

Aber, bitte, was bedeutet denn dies? Werde ich nun diesen Kreditbrief offen lassen, ohne mich seiner zu bedienen? Wenn in Christo die Gabe Gottes mein ist, soll das etwa so viel heißen, dass sie in Wirklichkeit nur in einer Redefigur mein ist? Ist sie nicht vielmehr in Wahrheit mein eigen, gerade weil sie in Ihm mir gehört, für immer sicher unter Seiner Obhut? Wenn sie mein ist, so ist dies gewisslich, damit ich diesen immer offenen Kreditbrief benutze, damit ich meine Zuflucht zu diesen unerschöpflichen Hilfsquellen nehme. Damit ich im Namen des Gerechten unaufhörlich in völliger Glaubenszuversicht vor den Vater trete; damit ich selbst die Gerechtigkeit Christi nehme, und sie im praktischen Leben zu meiner eigenen mache; damit, so oft ich irgend etwas nötig habe, und ich habe zu jeder Stunde Alles nötig - ich es in Ihm, „dem Gerechten“ finde, und dass das, was ich in Ihm gefunden habe, in Wirklichkeit ebenso mein eigen sei, als ich in Christo Jesu vor Gott Recht und Anspruch darauf habe. Ich möchte doch wissen, wie eine Sache, die Gott für wahr hält, für mich nicht wahr sein sollte? Wenn es für Gott eine Tatsache ist, so ist es doch auch unfehlbar eine Tatsache für mich, und ich habe das Recht, es als solche zu behandeln; ich werde von der Gerechtigkeit Christi Leben, gerade weil sie Ihm gehört, und weil ER mein ist. Ich habe nichts auf der Welt, was mir ganz als Eigentum gehört, darum werde ich zu Ihm gehen und Ihm sagen: „Deine Gerechtigkeit gehört mir, auf dass der Vater mich in Gnaden annehme, und dass ich durch sie, dass ich von ihr lebe alle Tage meines Lebens.“ Denn alles in allem genommen schließt doch Seine Gerechtigkeit Alles in sich.

Um jedoch auf die Einzelheiten näher einzugehen, nehmt z. B. den Frieden, das heißt die Wirkung, welche durch diese Gerechtigkeit, die von Gott kommt, auf unser Gewissen ausgeübt wird. Welchen Frieden? Welche Art von Frieden? Ist es mein Friede? Nein; sondern Sein Friede, welcher der meinige wird. „Meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt.“ (Joh. 14,27.) Die Welt gibt und nimmt wieder zurück. So gibt Jesus nicht.

Seine Kraft ist unser. Sie ist mächtig, nicht in der Kraft, nicht in einem kleinen Maß von Stärke, nein „Seine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ (2 Kor. 12,9.) „ER gibt dem Müden Kraft, und Stärke genug dem Unvermögenden.“ (Jes. 40,29.) Wie denn? Indem ER ihnen Seine Kraft gibt. Sollen wir von der Reinheit sprechen? Ihr habt Christum, der die Reinheit selber ist; ER kommt durch den Heiligen Geist zu euch, um euch rein zu machen.

Handelt es sich um das Licht, um die Leitung, deren wir bedürfen? „Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ (Joh. 8,12.) Wie haben wir denn das Licht? Indem wir Christum haben. Man hat sehr oft bemerkt, aber man kann nie zu häufig darauf zurückkommen, dass jede „überschwängliche Gnade“ sich in Christo finde, dass Christus nicht nur alles, was gut ist, besitzt, sondern, dass ER selbst alles Gute ist. Um bestimmt zu sprechen, ER schickt es uns nicht; ER bringt es uns, indem ER sich selbst uns gibt. Jede Gabe Gottes ist eine lebendige Gabe. Sein Brot, ein lebendiges Brot; Sein Weg, ein lebendiger Weg; Sein Licht, ein Licht des Lebens. Ihr könnt euch all' die Unannehmlichkeiten, welche unvermutet über Einen kommen können, all' die schwierigen Lagen, in die man geraten kann, ausmalen. Vielleicht seid ihr heute selbst in solcher Lage? Aber ihr habt Christum, und wenn ihr Christum habt, so habt ihr das Licht. Vielleicht müsst ihr ein wenig warten, um zu sehen, nach welcher Seite hin das Licht vor euch hergehen wird, aber ihr habt das Licht.

Handelt es sich um die Liebe? ER ist die Liebe. Besitzen wir Ihn, so besitzen wir die Liebe; und es gibt kein anderes Mittel, Gott oder die Brüder, oder alle Menschen zu lieben, als in Christo zu bleiben, und Christum also in seinem Herzen zu haben; denn das eine ist unzertrennlich von dem andern: „Bleibt in Mir, und Ich in euch.“ (Joh. 15,4.) Seine Liebe gehört uns. Gottes Gebot ist die Liebe und Gottes Gabe ist Christus. Wir nehmen die Gabe Gottes an, und dann gehorchen wir ungezwungen Seinem Gebot.

Seine Freude ist unser. „Solches rede ich zu euch, auf dass meine Freude in euch bleibe, und eure Freude vollkommen werde.“ (Joh. 15,11.) Wahrlich, unsere Freude muss wohl vollkommen sein, wenn es Seine Freude ist, die in uns bleibt. Soll das heißen, dass wir nun Schmerz und Leiden nicht mehr kennen werden? O, wie könnte man glauben, dass es das Leben Christi sei, wenn es nicht ein Leben voll Schmerz ist? Der Schmerz der Liebe, der Schmerz der Heiligkeit, die überall von Sünde umringt ist; der Schmerz desjenigen, der nicht nur die Sünde in der Welt zu bekämpfen hat, sondern wohl weiß, dass ein Gesetz der Sünde in seinen eigenen Gliedern ist; wahrlich, das ist genug, um einen Menschen aus der Sorglosigkeit heraus zu reißen.

Außerdem werden wir unsere eigenen Leiden haben, die Gott uns gerade darum schicken wird, weil wir Christo angehören, und weil ER uns Seinem Bild ähnlicher machen will. ER wird uns mit der größten Zärtlichkeit behandeln; aber es unterliegt gar keinem Zweifel, dass, wenn wir uns mit Ihm vereinigen wollen, wir mehr und mehr Teil an Seinen Leiden haben werden. Achtet darauf, dass der Apostel die Leiden nach der Auferstehung anführt: „Zu erkennen Ihn und die Kraft Seiner Auferstehung, und die Gemeinschaft Seiner Leiden.“ (Philip. 3,10.) Gott schenkt uns nicht ein Leichtes, träges, selbstsüchtiges Leben, wenn ER uns Christum gibt, Sein Kreuz ist unser. Seine Herrlichkeit ist auch unser. Seine Herrlichkeit? Meine ich damit den Himmel? Ja; aber auch die Anfänge jener Herrlichkeit, von der der HErr selber sagt: „Ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die Du mir gegeben hast,“ (Joh. 17,22.) und von der der Apostel also spricht: „Wir werden verklärt in Sein Bild und wir nehmen zu von Herrlichkeit zu Herrlichkeit.“ (2 Kor. 3,18. Kol. 3,4.)

Kurz, ist Christus unser, so ist Alles unser; denn Alles gehört Ihm. Wie einfach ist doch dieser Schluss! Es ist gerade so wie bei einem Kinde, welches auch sagen kann, dass Alles, was sein Vater besitzt, ihm gehöre, in dem Sinne nämlich, dass der Vater ihm Alles gibt, was für es am besten ist. Es gibt in dem Haus nichts, was nicht auch dem Kind wäre, aus dem einfachen Grund, weil es dem Vater gehört.

Seht die irdischen Dinge an, das, was wir die Umstände nennen, und was buchstäblich heißt, die Dinge, welche uns umgeben. Wer hat uns denn mit diesen Umständen umgeben und uns in ihre Mitte gestellt? Gott tat es, der Wille Gottes; und so arbeiten Vorsehung und Gnade zusammen. So Lange ihr fortfahrt, gegen Gott zu kämpfen, oder nur für euch zu leben, ist Gott, möchte ich sagen, gerade durch Seine Barmherzigkeit, euch gegenüber genötigt, Seine Vorsehung, wie es euch scheint, gegen euch wirken zu lassen. Aber warum? Um euch Fesseln anzulegen, um euch den Weg zu versperren, bis ihr wieder zu Ihm zurückkehrt. Tut es, und sogleich ist Seine Vorsehung zu euren Diensten. Wenn ein König auf Reisen geht, lässt er einen Kammerherrn vor sich her eilen. Dieser muss sehen, ob Alles zur Durchfahrt fertig ist, er muss die Wege bereiten. Geradeso steht die Vorsehung im Dienst der Gnade, und geht vor ihr her, damit Alles bereit sei für die Kinder Gottes, wohinaus sie auch gehen mögen. Es gibt in unserm Leben keinen Tag, an dem wir dies nicht sähen, an dem wir nicht erkennten, dass die Vorsehung Gottes die Dienerin der Gnade Gottes ist, und dass alle Dinge zusammen für das Wohl derer arbeiten müssen, die Gott lieben. „Mein Gott,“ sagt der Apostel, „wird alle eure Notdurft erfüllen.“ (Philip. 4,19.) Alles, irdisches und Geistliches, Gegenwärtiges und Zukünftiges - Alles ist unser; nicht nur, wie der Apostel an die Römer schreibt, können all diese Dinge uns nicht von der Liebe Christi trennen, sondern mehr noch, wie er an die Korinther schreibt, sie gehören uns in Christo. (Röm. 8,38.39. 1 Kor. 3,21-23.)

Die Engel z. B. gehören uns. Sie sind Diener derjenigen, die ererben sollen die Seligkeit. (Hebr. 1, 14.) Wir sehen sie nicht, daran liegt nichts; Gott sagt uns, dass sie unsere Diener sind. Selbst unsere Feinde, wenn wir deren haben - die größten Schwierigkeiten, die wir kennen mögen - bis zu „den Gewaltigen und den bösen Geistern unter dem Himmel“ (Eph. 6,12.), müssen, wohl oder übel, Alle zu unserm Besten dienen, sie haben die Aufgabe, uns in der Wachsamkeit zu erhalten, unsern Glauben zu prüfen und ihn zu stärken, wenn wir in Christo bleiben.

Wenn der „böse Tag“ (Eph. 6, 13.) kommen wird - und er wird notwendigerweise kommen - ist kein Grund vorhanden, dass er uns von Christo abbringe. Der böse Tag soll vielmehr gerade erzielen, dass wir Christum mit noch größerer Energie ergreifen. Lasst uns darum keine Angst davor haben. Christus ist unser und in Ihm sind alle Dinge unser.

Alle Dinge, außer eines einzigen: wir selbst. „Ihr seid nicht euer selbst.“ (1 Kor. 6,19.) Das ist unser zweiter Punkt. Christus ist mein und ich bin sein. In demselben Augenblick, wo der Apostel sagt: „Alles ist euer“, beeilt er sich hinzuzufügen: „Ihr aber seid Christi.“ Ihr könnt diese beiden Worte nicht trennen. Wenn ihr nicht Christi seid, wenn ihr Ihm nicht gehört, wenn ihr Seine Diener nicht seid, dann ist nichts euer. Wenn ihr Ihm gehört, gehört Ales euch.

„Da haben wir's!“ ruft Einer; „das ist die neue Lehre, das ist, was man Hingabe nennt!“ Ich sage nicht nein. Euch Gott hingeben, heißt ganz einfach, diese Tatsache unterschreiben, dass ihr nicht euer selbst seid, gerade wie ihr diese erste Tatsache unterschrieben habt, dass Christus für euch Sünder gestorben ist. Wenn ihr aufrichtig wart, indem ihr bekanntet, an diesen Tod zu glauben, so habt ihr hierdurch selbst Zeugnis abgelegt, dass ihr Dem angehört, Der euch so teuer erkauft hat, und dass, „so Einer für Alle gestorben ist, so sind sie Alle gestorben; und dass ER darum für Alle gestorben ist, auf dass die, so da leben, hinfort nicht ihnen selbst Leben, sondern Dem, Der für sie gestorben und auferstanden ist.“ (2 Kor. 5,14.15.)

Es ist nicht der Sünder, welcher zu seiner Hingabe an Gott den ersten Anstoß (Initiative) gibt; er beschränkt sich nur darauf, durch Gottes Gnade die Stellung anzunehmen, welche Gott ihm in Christo gegeben hat, indem ER ihn in Ihm von dieser gegenwärtigen argen Welt“ trennte.

Ein sehr aufrichtiger und treuer Diener Gottes sagte mir vor einiger Zeit: „Warum sprechen Sie den Leuten von einem höheren christlichen Leben?“ „Ich glaube nicht,“ antwortete ich, „dass ich oft von einem höheren christlichen Leben gesprochen habe; ich bemühe mich vielmehr, diesen Ausdruck, der nicht biblisch ist und zu schlimmen Missverständnissen Anlass geben könnte, zu vermeiden.“ „Gut; aber Sie lehren doch, dass es eine Hingabe an Gott gebe, die von der Bekehrung verschieden sei. Als ich bekehrt wurde, habe ich mich Gott hingegeben; ich habe das nie anders verstanden.“

Das ist das Beste; so ist die normale christliche Erfahrung. Aber ist es nicht wahr, dass es Tausende von Christen gibt, die sich bekehrt nennen, und doch nicht zu sagen wagen - vielleicht haben Sie Recht, es nicht zu sagen - dass sie sich Gott hingegeben haben, was nichts anders heißt, als ganz einfach für den Dienst Gottes ausgesondert, bei Seite getan; die nicht zu sagen wagen, dass sie wirklich Gott und nicht sich selber gehören; dass sie nicht das Recht haben, ihren eigenen Willen zu tun, dass sie die Diener Desjenigen sind, der sie erkauft hat, und dem sie folglich auch gehören?“

„Sie werden übrigens sehen, wohin wir kommen, wenn Sie Ihren Beweisgrund noch weiter durchführen wollen. Sie sagen: „Wenn ein Mensch bekehrt ist, so hat er sich Gott hingegeben.“ Nun wohl; dann heißt es aber andererseits, wenn sich ein Mensch Gott nicht hingegeben hat, so ist er auch nicht bekehrt. Dies ist die Frage, welche in diesem Augenblick in unseren Kirchen laut wird, eine scharfe, eingreifende Frage, welche jeden Christen zwingt, sich auf die Knie zu werfen und sich vor Gott zu prüfen; und wenn er dann trotz alledem entdeckt, dass er seither ein Leben gelebt, dessen Herr er selbst war, so muss er das Wort Gottes und den Geist Gottes fragen, ob er jemals wiedergeboren war.“

Ich habe hierüber einen sehr treffenden Beweis in einem kürzlich von einem Missionsprediger, Herrn Aitken, veröffentlichten Brief, gefunden. Er drückt sich folgendermaßen aus: „Der Glaube ist, von allen geistlichen Gewohnheiten, diejenige, welche uns am tiefsten in unser eigenes Herz eindringen lässt; denn wir können nicht auf Jemand unser Vertrauen setzen, der die innersten Falten unseres Herzens kennt, solange wir noch suchen, etwas vor ihm zu verbergen.“ Dies ist eine außerordentlich tiefe und richtige Bemerkung. Es ist klar, dass ihr einem Solchen nicht sagen könnt: „Ich bin Dein; ich verlasse mich auf Dich,“ während ihr doch etwas vor ihm versteckt, und er sieht, was ihr vor ihm verbergt, und ihr wisst, dass er es sieht. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer aufrichtigen, gänzlichen Hingabe unserer selbst an Gott.

Wenn dann die zweite Folge der Tatsache, dass wir die Gabe Gottes angenommen haben, die ist, dass wir nicht mehr unser selbst sind, so ist auch nichts, von Allem, was wir haben, unser. Das ist ganz augenscheinlich. Eure Zeit ist nicht euer; euer Geld ist nicht euer; eure Glieder sind nicht euer; selbst nicht dieses kleine Glied, wie der Apostel Jakobus es nennt, welches „große Dinge anrichtet“ und so viel Unglück in die Welt und in die Kirche bringt, Eure Zunge ist nicht euer; ihr habt nicht das Recht zu sagen, „was euch gefällt.“

Eure Gedanken sind nicht euer; ihr habt nicht das Recht zu denken, was euch gut dünkt, euren Träumereien und eurer herumschweifenden Einbildungskraft zu folgen; ihr müsst eure Gedanken unter die Herrschaft Christi stellen; sie gehören Christo, und überdies ist das gerade der Kernpunkt in der praktischen Heiligung; wir laufen nicht Gefahr, uns sehr weit von Christo zu verirren, so lange ER der Mittelpunkt unserer Gedanken ist; so lange wir fest glauben, dass „wir nicht tüchtig sind von uns selber, etwas zu denken, als ob wir es aus unserm eigenen Vermögen täten“ (als von uns selber), sondern, „dass wir tüchtig sind, ist von Gott.“ (2 Kor. 3,5.)

Eure Neigungen sind nicht euer. Ihr habt nicht das Recht, Jemand zu hassen, und euch darin gehen zu lassen, Widerwillen gegen Jemand zu empfinden; ihr habt nicht das Recht, in eurem Herzen irgend ein bitteres Gefühl zu nähren, gegen wen es auch immer sei. Jesus hat für Seine Feinde gebetet; ER hat sie geliebt, und den Vater gebeten, ihnen zu vergeben. Wenn wir Ihm gehören, dann ist Sein Geist auch unser, und unser fleischlicher Geist muss aufhören, uns zu beherrschen. Wir müssen dem HErrn des Hauses erlauben, das ganze Haus zu regieren, jedes Zimmer, jedes verborgene Winkelchen inne zu haben. O, meine Brüder, das ist die wahre Freiheit, wenn man in keinem Ding, in keiner Weise, in keinem Augenblick sich selbst mehr angehört! Jedes Mal, wenn wir wieder irgend etwas ergreifen, sei es nun ein Stückchen unserer Zeit, ein Pfennig unseres Geldes, ein Gedanke, oder ein Gefühl, und zu uns sagen: „Das gehört mir, ganz unabhängig von Gott“, sind wir in der Sünde und wir geraten immer tiefer hinein. Es bleibt uns nur ein Rettungsmittel übrig; zu dem Heiland zurückzukehren, Seine Vergebung zu erflehen, und Ihm das, was Ihm von Rechtswegen immer gehörte, auch in der Tat wiederzugeben. Wir sind in keiner Weise, zu keiner Zeit unsere eigenen Herren.

Und unser Wille? fragt ihr. Er ist nicht unser, er gehört von nun an Gott. Will das sagen, dass wir uns derart selbst verlieren, dass wir aufhören, wir selbst zu sein, und nicht mehr eine unterschiedliche Persönlichkeit sind? Weit entfernt.

Glaubt ihr, der Apostel Paulus habe nicht seine eigene Individualität gehabt? Wenn je ein Charakter den Stempel des Besonderen trug, so war es der seinige. Man kann dasselbe von den Aposteln Petrus und Johannes, und von jedem Menschen, der sich Gott wirklich übergibt, sagen. In dem Augenblick, wo ihr von eurem Willen sagt: „Er gehört nicht mir, sondern Dir; nicht mein, sondern Dein Wille geschehe“, werdet ihr euren Willen wieder finden. Ihr findet ihn erneuert, rein und mächtig in dem Willen Gottes. Ihr findet eure Gedanken wieder, aber es sind nun neue gute Gedanken. Mit einem Wort, ihr seid ein neuer Mensch; und dieser Mensch ist der wahre Mensch, eure eigentümliche Persönlichkeit, so wie Gott sie wollte, und sie sich gedacht hat, und so wie, trotz aller Flecken und Makel der Sünde, Christus sie erkauft hat.

Ein Mensch kennt nie seine wahre Natur, und weiß nicht, was Gott mit ihm in der Welt anfangen will, bis er sich aufrichtig Christo übergeben hat. Wisst ihr, warum es so viele Christen gibt, die sich dergestalt gleichen, dass man den einen für den andern nehmen könnte, gerade wie die Eier in einem Korb? Darum, weil einer den andern nachmacht. Sie haben ein gewisses Ideal, man müsste besser sagen, ein gewisses Muster im Sinn, von dem, was „ein guter Christ“ sein muss; und sie bemühen sich, sich demselben anzupassen. Allein jeder muss sich selbst Gott übergeben, und Ihm sagen: „HErr, was willst Du, das ich tun soll?“ (Apostelg. 9,6.) und dann werden wir die Verschiedenheit in der Einheit haben, was der charakteristische Zug eines jeden Werkes Gottes ist.

Dann wird auch die Kirche eine große, eine schöne Kirche sein, in welcher sich eine unendliche Mannigfaltigkeit der Gaben offenbart, jedes Glied seinen besonderen Platz einnimmt, und keines zum andern sagt: „Du hast Unrecht, weil du nicht genau dasselbe tust, was ich tue.“ Alle werden vielmehr zu dem göttlichen Meister, der einem Jeden seine Aufgabe zuerteilt, sagen: „Lob und Dank sei Dir, dass Du ihm sein Teil gabst, wie Du mir das meinige gegeben hast, und dass wir zusammen zu Deiner Ehre arbeiten dürfen.“

Lasst mich zum Schluss eure Aufmerksamkeit noch auf ein Wort des Kapitels richten, welches wir gestern gelesen haben. Christus ist mein, und ich bin Christi. Ist das Alles? Habe ich weiter nichts zu tun, als nur immer zu wiederholen, dass ER mein ist, und dass ich Sein bin? Wenn Gott mir Alles gegeben hat, so wäre es logisch, daraus zu schließen, dass ich nun nichts mehr zu bitten habe. Allein die Bibel hat nie Anspruch darauf gemacht, ein logisches Buch zu sein; sie ist ein Buch der Wahrheit, ein Buch des Lebens. Hört, was der Apostel Johannes sagt: „Wie Viele Ihn aber aufnahmen, denen gab ER Macht, Gottes Kinder zu sein, die an Seinen Namen glauben.. Und von Seiner Fülle haben wir Alle genommen Gnade um Gnade.“ (Joh. 1,12.16.)

Es gibt zwei Arten anzunehmen, von welchen die eine auf die andere folgt. Ihr nehmt zuerst Ihn an, und dann, wenn ihr Ihn in Seiner Fülle besitzt, nehmt ihr von Seiner Fülle Gnade um Gnade. Wenn ich diese Stelle recht verstehe, so bedeutet sie: Gott gewährt euch eine Gnade; ihr gebt sie Ihm in eurem Gehorsam und in eurer Dankbarkeit zurück, und ER gibt euch dafür eine neue, noch größere als die erste. Das heißt annehmen in der Praxis des täglichen Lebens. Und das gerade ist das Amt des Heiligen Geistes. Er schöpft aus der unendlichen Fülle Christi, der unser ist, und gibt uns Tag für Tag, Stunde für Stunde, was wir bedürfen; und von uns ergießt sich diese Fülle, nach der Verheißung Christi, auf andere „wie ein Strom lebendigen Wassers.“ (Joh. 7,38.) Eine Frage noch. Wir haben bewiesen, dass, wenn ihr Christum angenommen habt, hieraus folgt, dass ER euer ist und dass ihr Sein seid; dass Alles euer ist, weil Alles Ihm gehört. Welche Folge wird es denn haben, Christ um nicht anzunehmen? O, meine Brüder, wenn in Ihm Alles ist, so gibt es außer Ihm nichts! Wenn ein Mensch außerhalb des Schiffes ist, so ist er in dem Meer; wenn ein Mensch außer Christo ist, so steht er unter dem Zorn Gottes. Es kann nicht anders sein. Glaubt nicht, dass Gott einen andern Weg eröffnen werde. Er hat Alles getan, was Er für die Sünder tun konnte, als Er ihnen Seinen Sohn gegeben hat. Wenn ihr diesen Christum nicht annehmen wollt, dann habt ihr nichts, schlechterdings nichts.

O, wollt ihr Ihn nicht ergreifen, und in Ihm Alles besitzen? Wollt ihr Ihn nicht ergreifen, ihr unbekehrten Sünder? Wollt ihr Ihn nicht ergreifen, ihr unfruchtbaren Christen? Ihr kennt euer Elend, und ihr könnt es gewisslich nie zu sehr erkennen, aber genügt das? Vor nicht langer Zeit las ich in einem religiösen Blatt, dass ein Christ sich immer an diese Worte Jesu erinnern müsse: „Du sprichst: Ich bin reich, und habe gar satt, und bedarf nichts; und weißt nicht, dass du bist elend und jämmerlich, arm blind und bloß?“ (Offenb. 3,17.) Hier war die Schriftstelle zu Ende, und doch ist dies nur der Anfang derselben. Wer würde sich denn die Ohren zuhalten, wenn der Heiland folgendermaßen fortfährt: „Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufest, das mit Feuer durchläutert ist, dass du reich werdest.“ Das will Christus; nicht, dass wir uns immerfort wiederholen: „Ich bin reich,“ oder: „Ich bin elend,“ sondern, dass wir zu Ihm gehen, um reich zu werden, und verkündigen, dass Er reich ist; Er will, dass wir uns freuen „als die nichts inne haben, und doch Alles haben,“ (2 Kor. 6,10.) und von Seinen Reichtümern wie Königskinder leben.

Der Gegenstand, welcher uns heute beschäftigte, lässt sich in drei praktische Fragen, die dem Worte Gottes entnommen sind, kurz zusammen fassen: „Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre von einander nehmt?“ „Wie sollte Er uns mit Ihm nicht Alles schenken?“ „Wie sollen wir entfliehen, so wir eine solche Seligkeit nicht achten?“ (Ebr. 2,3.)

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